Lesezeit: 8 Minuten
Jesiden und Autonomie im Irak

Wer in Sindschar das Sagen hat

Analyse
Jesiden und Autonomie im Irak
IS-Kämpfer haben die Gesichter an den Wänden dieser Grundschule übermalt. Später, als die PKK-nahen Milizen Sindschar einnahmen, hinterließen diese ihre Initialen an der Wand. Foto: Florian Neuhof

Erbil und Bagdad ließen Sindschars Jesiden im Kampf gegen den IS einst im Stich – und werben nun mit einem Abkommen für Kooperation und neues Vertrauen. Doch auch die Milizen vor Ort wollen ein Wörtchen mitreden.

In den letzten Monaten rückte Sindschar im Norden Iraks in den Mittelpunkt der Verhandlungen zwischen der irakischen Regierung und der Regionalregierung von Kurdistan. Anfang Oktober führte die jüngste Runde dieser Verhandlungen zur Unterzeichnung des Sindschar-Abkommens, bestehend aus einer Reihe von Maßnahmen, auf die sich beide Regierungen geeinigt haben, um die anhaltenden politischen und Sicherheitsprobleme der Region zu lösen.

 

Obwohl die Vereinbarung einstimmig von irakischen, kurdischen, US- und UN-Vertretern unterstützt wurde, begegneten die Bewohner von Sindschar ihr mit Skepsis. Als Heimat der irakischen Minderheitsgruppe der Jesiden stand Sindschar in der Vergangenheit oft im Fadenkreuz. Das wohl gravierendste Ereignis war der Völkermord des »Islamischen Staats« (IS) an den Jesiden im Jahr 2014. Jesidische Frauen wurden als »Teufelsanbeterinnen« gebrandmarkt, entführt, verschleppt und sexuell missbraucht. Ein Großteil der jesidischen Männer wurde hingerichtet.

 

Auch als die IS-Kämpfer 2017 aus Sindschar vertrieben wurden, kehrte vorerst keine Stabilität in der Region ein. Es fehlte ein einheitliches Verwaltungsorgan, das grundlegende öffentliche Dienstleistungen und ein Gefühl der Sicherheit für die Bevölkerung gewährleisten könnte.

 

Das Abkommen soll die Machtübergabe an lokale Gemeinden befördern und Druck ausüben, um alle externen Streitkräfte zum Abzug zu zwingen

 

Stattdessen geriet die Region zwischen die Fronten mehrerer Gruppen, die bis heute um die Kontrolle ringen. Nachdem sie den Kampf gegen den IS in der Region gewonnen hatte, herrschte mit der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) hauptsächlich eine Rivalin der Regionalregierung in Erbil über Sindschar. Gleichzeitig kamen jedoch auch Streitkräfte der Zentralregierung in Bagdad ins Spiel, darunter auch die Volksmobilisierungskräfte (»Al-Haschd Al-Schaabi«, PMF).

 

Diese versuchten, die Peschmerga, also die Streitkräfte der kurdischen Regionalregierung, die 2017 mit der einseitigen Unabhängigkeitserklärung auf Konfrontationskurs zu Bagdad gegangen war, aus der Region zu vertreiben. Aus den Machtkämpfen ging ein unkonventionelles politisches Arrangement hervor: Bis heute beanspruchen sowohl die von Bagdad ernannte Lokalverwaltung, als auch die vor Oktober 2017 gewählten Lokalräte Legitimität.

 

Mit dem Sindschar-Abkommen soll sich dies nun ändern. Die Vereinbarung sieht die Ernennung eines unabhängigen, technokratischen Distriktchefs vor. Alle weiteren relevanten Positionen sollen von einem gemeinsamen Ausschuss ernannt werden. Außerdem sollen Sicherheitsaufgaben von lokalen Polizeikräften übernommen werden, zu denen auch zurückgekehrte Binnenflüchtlinge zählen sollen. Das alles soll nicht nur die Machtübergabe an lokale Gemeinden befördern, sondern auch Druck ausüben, um alle externen Streitkräfte zum Abzug zu bewegen.

 

Angesichts der Tatsache, dass die PMF und die PKK das Abkommen völlig ablehnen, ist unklar, wie die Milizen dazu bewegt werden sollen, das Abkommen zu akzeptieren

 

Jesidische Organisationen wie »Yazda« und die »Free Yazidi Foundation«, die sich für die Rechte von Jesiden einsetzen, betrachten das Abkommen misstrauisch. Einige halten den Vertrag von Sindschar für einen weiteren Versuch der irakischen Regierung, die Kontrolle über die Region zu übernehmen. Denn die Vereinbarung legt zwar die Verantwortlichkeitsbereiche der Behörden fest, aber sie enthält keine Richtlinien darüber, wie genau diese Verpflichtungen erfüllt werden sollen.

 

Eine Hauptsorge ist die Aussicht auf einen Truppenabzug aus der Region. Angesichts der Tatsache, dass die PMF und die PKK das Abkommen völlig ablehnen, ist unklar, wie die Milizen dazu bewegt werden sollen, das Abkommen zu akzeptieren. Die Reaktion der Jesiden auf das Abkommen ist wenig überraschend, denn sie sehen es als ein weiteres leeres Versprechen für eine Zusammenarbeit vor Ort. Sie befürchten, dass eine mangelhafte Umsetzung dazu führt, dass Sindschar wieder von einem Statthalter aus Bagdad regiert wird.

 

Die »Bewegung für Reform und Fortschritt«, die politische Interessenvertretung der Jesiden im Irak, veröffentlichte eine Erklärung, in der sie die irakischen und  kurdischen Ministerpräsidenten aufforderte, dem jesidischen Volk eigene politische und administrative Rechte in der Region einzuräumen. Seit Bekanntgabe der Vereinbarung und den darauffolgenden Reaktionen steht fest, dass reine Lippenbekenntnisse nicht ausreichen. Die Vereinbarung muss auch in der Praxis in jedem Schritt lokale Vertreter involvieren.

 

Während der ersten Verhandlungsrunden saßen keine Jesiden am Tisch. Auch deshalb fiel ihre Reaktion auf das Abkommen von Anfang an verhalten aus. Der »Autonome Verwaltungsrat von Sindschar«, der das das Gebiet seit 2014 verwaltet, wurde während des Verfahrens nicht einmal konsultiert.

 

Die fehlende Beteiligung der Jesiden während der wichtigen Diskussionsphase spielte eine entscheidende Rolle für die insgesamt negative Reaktion auf das Abkommen.

 

Das ist wahrscheinlich auf die Verbindung des Organs mit den »Widerstandseinheiten« (YPS) zurückzuführen, einer Miliz, die mit der PKK verbunden ist und von den USA und der Türkei als terroristische Organisation designiert wurde. Die Jesiden interpretierten den Ausschluss ihrer Vertreter als ein Zeichen, dass Bagdad es mit der versprochenen lokalen Selbstverwaltung nicht ernst meint.

 

Die fehlende Beteiligung der Jesiden während dieser wichtigen Diskussionsphase spielte eine entscheidende Rolle für die insgesamt negative Reaktion auf das Abkommen. Um die Wogen zu glätten, wurde Anfang November eine jesidische Delegation aus Sindschar zu einem Treffen mit dem irakischen Ministerpräsidenten Mustafa Al-Kadhimi nach Bagdad eingeladen.

 

Dort hatten die Vertreter die Gelegenheit, eine Liste von Forderungen zu präsentieren, die bei der Umsetzung des Abkommens zu erfüllen seien. Außerdem betonten sie ihren Willen, für Stabilität und Sicherheit in der Region zu sorgen. Auf den ersten Blick wirkte das wie der Beginn einer produktiven und kooperativen Zusammenarbeit zwischen Sindschar, Bagdad und Erbil. Doch die Erfahrungen der Vergangenheit trüben die trilateralen Beziehungen bis heute.

 

Die jesidische Gemeinschaft zögert weiterhin, die irakische und die kurdische Regierung vollständig mit der Sicherheit ihrer Region zu betrauen. Grund dafür ist ein tiefsitzendes Trauma. Als IS-Truppen 2014 einrückten, ergriffen die irakische Armee und die Peschmerga-Einheiten vor Ort die Flucht. Die PKK blieb zurück, um die jesidischen Bewohner in Sicherheit zu bringen.

 

Die irakische Regierung betrachtet Gruppen wie die PKK als Opportunisten, die sich wenig um die Sicherheit der lokalen Gemeinschaften kümmern

 

Die Jesiden sind für diese Unterstützung bis heute dankbar. Dagegen stellen internationale Mächte die weitere Präsenz der PKK in Frage. Insbesondere die USA wollen der Organisation keine Legitimität zusprechen, nur weil sie in Sindschar an der Macht ist.

 

Hisham Daoud, ein Berater des irakischen Ministerpräsidenten, macht historischen Erfahrungen für die Skepsis der Jesiden gegenüber einem Abzug der PKK-Truppen aus Sindschar verantwortlich. Daoud gibt gegenüber zenith aber auch zu bedenken, dass kurdische Gruppen diese Unsicherheit ausgenutzt haben, um einen Sitz am Verhandlungstisch zu gewinnen und sich als regionale Player zu etablieren.

Die irakische Regierung schließt sich dieser Meinung an. Sie betrachtet diese Gruppen als Opportunisten, die sich wenig um die Sicherheit der lokalen Gemeinschaften kümmern, sondern vielmehr versuchen, deren Verwundbarkeit für politische und militärische Zwecke auszunutzen. Es muss ein Gleichgewicht zwischen der Einhaltung der Forderungen der Bewohner von Sindschar und den umfassenderen nationalen Sicherheitsbelangen gefunden werden.

 

Die Zielsetzung des Sindschar-Abkommens scheint grundsätzlich vielversprechend, doch entscheidende Fragen zur Umsetzung und Einhaltung bleiben offen. Ob das Abkommen die Stabilität in Sindschar wiederherstellen kann, wird schlussendlich von der Einbeziehung der Gemeinschaften vor Ort abhängen.

Von: 
Dina Khadum

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.