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Antikurdisches Attentat in Paris

Wie hält es Europa mit den Kurden?

Analyse
Türkei versus PKK im Nordirak
Die Qandil-Berge: das wohl bekannteste, aber nun nicht mehr einzige Rückzugsgebiet der etwa 5.000 Kämpferinnen und Kämpfern der PKK. Neue Drohnentechnik und der aggressive Kurs des türkischen Militärs treiben die Guerilla in andere Gebiete. Foto: Sebastian Backhaus

Fast zehn Jahre nach einem ähnlichen Attentat sorgt ein Anschlag auf PKK-Funktionäre in Paris wieder für Schlagzeilen. Für Europa ist es höchste Zeit, sich den eigenen Widersprüchen in der Kurdenfrage zu stellen.

Am 23. Dezember 2022 verübte ein französischer Attentäter einen rassistisch motivierten Anschlag auf das Kulturzentrum »Ahmet Kaya« in der Rue d’Enghien im 10. Arrondissement von Paris. Unmittelbar danach brachen schwere Ausschreitungen in der französischen Hauptstadt aus, europaweit organisierten sich Solidaritätskundgebungen, auf denen die Einzeltäterthese angezweifelt und die Türkei der Mitschuld oder gar der Urheberschaft bezichtigt wurde. Die Reaktionen auf den Anschlag sind für das Verhältnis Europas Interessen in Nordsyrien zu formulieren.

 

Unter den drei Opfern befand sich mit Emine Kara die Vorsitzende des »Demokratischen Kurdischen Rats« – Frankreich (CDK-F, Conseil Démocratique Kurde – France). Kara, Kampfname Evîn Goyi, stammte aus einem Dorf im Bezirk Uludere im kurdischen Südosten des Landes und wurde 1970 oder 1974 geboren. Dieser Unterschied ist wichtig, weil sich daran ablesen lässt, ob sie Kindersoldatin war oder nicht, als sie sich 1988 der PKK anschloss. Entweder schon in diesem Jahr oder doch erst 1994, als im Zuge der Dorfzerstörungen durch das türkische Militär ihre Familie in das Flüchtlingslager Makhmur in den Irak floh, war sie in den Frauenkampfverbänden der PKK aktiv.

 

Erst nach dem Anschlag kurz vor Jahresende wurde publik, dass Emine Kara seit 2013 Mitglied im höchsten Führungsgremium der PKK war, dem zwölfköpfigen KCK-Exekutivrat, dessen Führung sich im irakischen Kandil-Gebirge aufhält. 2014 wurde sie nach Nordsyrien (Rojava) entsandt, wo sie in der Zivilverwaltung aktiv war und die Rettung und Versorgung der jesidischen Flüchtlinge aus Sindschar organisierte. 2019 wurde sie aus gesundheitlichen Gründen nach Europa geschickt. Einige Quellen behaupten, sie sei früher im selben Jahr im Kampf gegen den IS in Raqqa verwundet worden, andere meinen, sie hätte als Folge ihrer Kampfzeit schon längere Zeit orthopädische Probleme gehabt.

 

In Frankreich beantragte Emine Kara politisches Asyl und war umgehend in der lokalen PKK-Szene aktiv, indem sie die Leitung der CDK-F in Paris übernahm. Zudem war sie in der »Kurdischen Frauenbewegung – Europa« (TJK-E), einem Teil der »Bewegung der Freien Frauen« (TJA) aktiv. 2022 übernahm die iranische Frauenprotestbewegung den TJA-Slogan »Frau – Leben – Freiheit« (kurdisch: »Jin – Jiyan – Azadi«, persisch: Zan – Zendegi ¬ –Azadi«).

 

Die Kurdische Arbeiterpartei PKK hatte sich ab 2005 – einem im Gefängnis verfassten Programm von PKK-Führer Abdullah Öcalan folgend – in mehreren Schritten umgewandelt und umbenannt. Die Organisation nennt sich seit 2007 »Gesellschaftsunion Kurdistan« (KCK, Koma Civakên Kurdistan). Ihr untersteht unter anderem die in Brüssel ansässige neue Europa-Organisation »Kongress der kurdisch-demokratischen Gesellschaft in Europa« (KCD-E), deren Leiter Fatoş Göksungur und Yüksel Koç noch am Anschlagstag in Paris an einer Trauerkundgebung teilnahmen.

 

Dem KCD-E gehören die nationalen Teilverbände an, über die aufgrund ihrer zahlreichen Umbenennungen oft Verwirrung herrscht: So wurde der deutsche Verband »Yek-Kom« 2014 in »Nav-Dem« umbenannt und heißt seit 2019 »Konföderation der Gemeinschaften Kurdistans in Deutschland« (Kon-Med). In Frankreich wurde die Feyka in CDK-F umbenannt. Diese Organisationen sind in der Regel mit der einschlägigen linksradikalen Szene in Europa vernetzt.

 

Emine Kara war bereits das vierte 2022 getötete Mitglieds des KCK-Exekutivrats

 

Der österreichische Ableger Feykom etwa engagiert sich unter anderem im Rahmen der »European Left«, einem Dachverband kommunistischer Organisationen, KCD-E trat 2015 der ICOR (»International Coordination of Revolutionary Parties and Organisations«) bei, einem anderen, maoistisch ausgerichteten kommunistischen Dachverband. Bei den Protestkundgebungen im Dezember 2022 hob die CDK-F die Solidarität der französischen Kommunisten und anderer linksextremer Kräfte hervor.

 

Die Zweifel an der Einzeltäterthese sind jedoch nur teilweise in der grundsätzlich staatskritischen Einstellung der Kurden zu suchen. So soll die CDK-F vor einigen Monaten Polizeischutz beantragt haben und einige Beobachter behaupten, dass der Attentäter genau vor dem Treffpunkt des CDK-F-Lokals abgesetzt wurde und nur durch Zufall ein wichtiges Koordinationstreffen verpasst hätte.

 

Denn der Anschlag fand nämlich zum Zeitpunkt intensiver Vorbereitungsarbeiten für die alljährlichen Protestveranstaltungen Anfang Januar statt, auf denen die Kurden des Pariser Dreifachmords an kurdischen Aktivistinnen im Jahr 2013 gedenken und Hafterleichterung für Abdullah Öcalan fordern. Außerdem war Kara nicht das erste Mitglied des Exekutivrats, das gewaltsam zu Tode kam. 2019 wurden fünf, 2020/21 vier und 2022 drei Mitglieder durch Drohnenangriffe beziehungsweise drohnengestützte Operationen von türkischen Sicherheitskräften getötet.

 

Angesichts dieser Serie verwundert es nicht, wenn sich kurdische Aktivisten schwertun, die Ermordung Emine Karas, des vierten 2022 getöteten Mitglieds des Exekutivrats, als Anschlag eines Einzeltäters zu akzeptieren. Die Verbitterung und Wut richtete sich gegen den französischen Staat, der nach Ansicht kurdischer Aktivisten zu wenig zur Aufklärung der Attentate vom Dezember 2022 und Januar 2013 unternehme. Vor allem aber verlangen die Demonstranten Anerkennung und Unterstützung für Rojava und die Entkriminalisierung der PKK.

 

Ankara konnte auch die irakische Kritik am türkischen Vorgehen im Nordirak ignorieren

 

Der Mord an Kara und ihren Genossen fällt in eine Zeit, in der die Gesamtorganisation stark unter Druck geraten ist. Ankara kann seit einigen Jahren auf militärischer und diplomatischer Ebene Erfolge im Kampf gegen die Öcalan-Bewegung vorweisen. So misslang der Versuch der KCK, den vermeintlichen türkischen Giftgaseinsatz gegen ihre Kämpfer auf internationaler Ebene auf die Agenda zu setzen. Ebenso konnte Ankara die irakische Kritik am türkischen Vorgehen im Nordirak ignorieren.

 

Ankaras Drohung eines Waffenganges gegen die »Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyrien« (AANES/Rojava) führt regelmäßig zu Irritationen mit den USA, die jedoch als Teil eines größeren Interessensabgleichs zu sehen sind. Zugleich lotet Ankara in Moskau und Damaskus die Möglichkeiten eines Einmarsches aus, dem die Rückführung eines Teils der syrischen Flüchtlinge aus der Türkei folgen soll, um Präsident Erdoǧan im Wahlkampf 2023 den Rücken zu stärken. Ebenso benutzt die Türkei relativ erfolgreich die Nato-Beitrittsgesuche Schwedens und Finnlands, um die Regierungen der beiden skandinavischen Länder zur Revision ihrer kurdenfreundlichen Einstellung zu bewegen.

 

Darüber hinaus reagierte Ankara in den letzten Jahren auf die erfolgreiche Lobby- und Organisationsarbeit der Öcalan-Anhänger in Europa mit einer gründlichen Modernisierung und Neustrukturierung seiner kultur- und sozialpolitischen Auslandsaktivitäten: Das 2010 gegründete »Präsidium für Auslandstürken und verwandte Volksgruppen« (YTB) soll unter anderem die politische Partizipation der Auslandstürken fördern, um über Wahlurne und Aktivismus die Beziehungen zur Türkei auszubauen.

 

Migrationspositive Parteien in Europa müssen sich seither zwischen kurdischer Revolutionsromantik und türkischer Wahlarithmetik entscheiden. Und schließlich ist die Organisation auch in der internationalen Kurdenszene nicht unumstritten: In Rojava werden der Öcalan-Bewegung diktatorische Züge vorgeworfen, mit den kurdischen Nationalisten im Irak ist sie offen verfeindet, bei den kurdischen Islamisten verhasst und innerhalb der lebendigen Kurdenszene Irans isoliert.

 

Mittlerweile finden die Kämpfe auch in und um die ausgebauten Stellungs- und Tunnelsysteme der PKK statt

 

Doch der diplomatisch-politische Druck hat nur so lange Sinn für die Türkei, wie Ankara in der Lage ist, militärische Erfolge vorzuweisen. Das trifft seit einigen Jahren zu. Voraussetzung dafür waren Veränderungen in technischer und organisatorischer Hinsicht auf türkischer Seite. Ausgehend vom Einsatz eigener Kampf- und Aufklärungsdrohnen wurde eine Neuaufstellung der Zusammenarbeit zwischen Geheimdienst und Jagdkampfkräften eingeleitet.

 

Mittlerweile finden die Kämpfe auch in und um die ausgebauten Stellungs- und Tunnelsysteme der PKK im irakisch-türkischen Grenzgebiet statt, sodass die Organisation nicht mehr wie früher in großen Gruppen in die Türkei einsickern und dort den Guerillakampf aufnehmen kann. Das erklärt, warum die Öcalan-Bewegung seit einigen Jahren an die Tradition der türkischen Stadtguerilla anknüpft. Das hierzu geschaffene Instrument, die »Vereinigte Revolutionsbewegung der Völker« (HBDH) macht zwar regelmäßig mit Anschlägen in den Metropolregionen der Türkei auf sich aufmerksam, konnte aber die bisherigen Erwartungen der PKK nicht erfüllen.

 

Auf nationalstaatlicher Ebene haben die europäischen Regierungen den politischen Narrativen, die von der Republik Türkei und der PKK vertreten werden, nichts entgegenzusetzen und damit viel an Gestaltungsmöglichkeit verloren. Die bisherige europäische Praxis, die PKK zu verbieten, gleichzeitig aber ihre europäischen Elemente gegen den Willen der Türkei still zu tolerieren, stammt aus einer Zeit, als der kurdisch-türkische Konflikt als Problem fernab des eigenen Verantwortungsbereichs wahrgenommen wurde.

 

Dieser Prämisse gilt nicht nur aufgrund der veränderten Demographie Mitteleuropas nicht mehr, auch der Syrien-Konflikt hat die Problematik zur europäischen Herausforderung werden lassen. So lässt sich nicht abstreiten, dass die syrischen Teile der Öcalan-Bewegung in Rojava mit ihrem Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) einen wichtigen Beitrag zur europäischen Sicherheit geleistet haben und bis zum heutigen Tage leisten: nämlich durch die Bewachung riesiger Flüchtlingslager in Nordsyrien, in denen sich zahlreiche europäische IS-Anhänger befinden. Ein Zusammenbruch Rojavas würde tausende IS-Anhänger freisetzen und eine Fluchtwelle in die Nachbarregionen und nach Europa auslösen.

 

Die Türkei hat schon mehrmals jeden Schritt der Europäer in diese Richtung abgelehnt

 

Reduziert auf die in Europa priorisierte Flüchtlingsfrage ergäbe sich die Option, Rojava durch Direkthilfe im humanitären Bereich zu unterstützen. Allerdings wird jede Unterstützung auch als Stabilisierung des utopischen kommunistischen Projekts Rojava verstanden werden, abgesehen von der Tatsache, dass dadurch das Assad-Regime, über das die Hilfslieferungen laufen müssten, aufgewertet würde. Die Türkei hat schon mehrmals jeden Schritt der Europäer in diese Richtung abgelehnt und bezeichnet europäische und US-amerikanische Versuche, die syrischen Öcalan-Anhänger von der Führung in Kandil zu trennen, als naiv.

 

Dem steht die Ansicht der USA gegenüber, wonach sich die Interessensunterschiede zwischen Rojava und Kandil nicht mehr verheimlichen lassen. So ist der notorische Antiimperialismus bzeiehungsweise Antiamerikanismus der PKK angesichts der wichtigen Rolle, die die USA für das Überleben Rojavas spielen, ein Anachronismus vergangener Zeiten, der aber nach wie vor zum zentralen Glaubensinhalt der Führung im Kandil-Gebirge sowie in den Teilverbänden in Europa gehört.

 

Während die türkischen, kurdischen, US-amerikanischen und syrischen Positionen in ihrer jeweiligen Logik nachvollziehbar sind, haben die Europäer bisher noch keine politische Vision für Nordsyrien entwickelt oder ihre Interessen abgewogen und die entsprechenden Handlungsableitungen formuliert.

 

Zweifellos ist die Quadratur des Kreises widersprüchlicher Interessen und ideologischer Positionen schwierig. Aber diese Problemstellung ist nicht neu und die Schüsse in Paris haben ihre Aktualität wiederholt unter Beweis gestellt. Ungeachtet des Resultats der polizeilichen und juristischen Aufarbeitung des Falles durch die Franzosen, sind die Europäer auf sicherheitspolitischer Ebene daher angehalten, ihre gemeinsamen Interessen für Nordsyrien zu formulieren.

Von: 
Walter Posch

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