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Khalifa Haftar und Fayez Al-Sarradj auf dem Libyen-Krisengipfel in Paris

Darum sind schnelle Wahlen in Libyen keine gute Idee

Analyse
Libyenkrisengipfel Paris: al-Sarradj, Macron, Haftar

Frankreich drängt auf baldige Wahlen in Libyen – nicht zuletzt weil man das nordafrikanische Land als stabilen Partner in der Migrationspolitik braucht. Doch ein Schnellschuss droht genau das Gegenteil zu erreichen.

Auf den ersten Blick vermittelt das jüngste »Familienfoto« der zentralen politischen Akteure in Libyen einen geordneten Eindruck. Zu sehen sind vier Männer im Anzug, die repräsentativ für Libyens Spaltung links (östlicher Teil Libyens) und rechts (westlicher Teil Libyens) des französischen Präsidenten Emmanuel Macron stehen. Und trotz der Teilung vermittelt das Bild den Anschein von Einklang, dank synchron gefalteter Hände und ernster Blicke. Der Eindruck täuscht.

 

Denn während Macron Ende Mai im Rahmen der »Internationalen Libyen-Konferenz« in Paris die Einigung auf Wahlen noch in diesem Jahr verkündete und das als Meilenstein bezeichnete, fällt es libyschen Aktivisten schwer, in dem Treffen mehr als nur die Gelegenheit für einen öffentlichkeitswirksamen Schnappschuss zu sehen. Denn Libyen steht sieben Jahre nach dem Sturz des langjährigen Machthabers Muammar Al-Gaddafi unter der Kontrolle konkurrierender Verwaltungen, die sich jeweils auf eigene militärische Kräfte stützen und dabei von internationalen Partnern gefördert werden. Wahlen als demokratisches Mittel zur Kompromissfindung und friedlicher Machtübergabe erscheinen auf den ersten Blick ein Schritt in die richtige Richtung.

 

Doch obwohl Macron die Festlegung des Wahltermins auf den 10. Dezember 2018 verkündete, musste er eingestehen, dass diese Übereinkunft in keinem von allen Parteien unterschriebenen schriftlichen Dokument festgehalten wurde. Es ist nicht einmal klar, in was für ein institutionelles Gefüge sich die gewählten Volksvertreter und der gewählte Präsident letztlich einfinden müssten. Fragen, die auf zwei grundlegende Probleme in Libyen hindeuten: Die fehlende Bereitschaft, diplomatische Vereinbarungen einzuhalten und der reichlich große Interpretationsspielraum aller Absprachen, der von allen Fraktionen ausgenutzt wird.

 

Die Kandidaten für das Präsidentenamt aufgrund ihrer Historie oder früherer Aussagen ein zumindest fragliches Demokratieverständnis.

 

Dabei ist zu berücksichtigen, dass gegenwärtig jede Änderung in der aktuellen Macht- und Ressourcenverteilung Nachteile für die Elite bedeuten würde, die im Moment das Sagen hat. Libysche Zivilgesellschaftsaktivisten wie Emad Badi weisen darauf hin, dass der Anreiz, sich zur Abhaltung von Wahlen zu verpflichten, zwar durchaus gegeben sei. Vor allem, wenn  Milizenführer wie der im Osten herrschende General Khalifa Haftar so die Chance erhielten, ihre Macht zu legitimieren. Doch Anreize, sich dann auch an das Ergebnis der Wahlen zu halten und im Zweifel Macht abzutreten, die seien eben nicht gegeben.

 

Unter Libyens Bürgern sind zwei Argumentationslinien weit verbreitet. Die eine Seite argumentiert, dass für die Durchführung von Wahlen zunächst sämtliche Voraussetzungen, wie ein sicheres Umfeld und ein stabiler Rechtsrahmen, gegeben sein müssen. Andere betonen, dass die Wahl eines Präsidenten die Chance bieten würde, die politische Spaltung zu überwinden und die die Autorität zu Staates zu stärken.

 

Wahlen würden Libyen zum jetzigen Zeitpunkt aus mehreren Gründen nicht guttun. Erstens gefährdet die Unsicherheit im Land freie und faire Wahlen in allen Bezirken des Landes. Zweitens fehlt der konstitutionelle Rahmen, der die Wahlen absichert. Drittens demonstrieren die Kandidaten für das Präsidentenamt aufgrund ihrer Historie oder früherer Aussagen ein zumindest fragliches Demokratieverständnis. Viertens sind weitreichende logistische Schwierigkeiten bei der Durchführung zu erwarten, die sich bereits im Zuge der Wählerregistrierung offenbarten und fünftens herrscht Unklarheit darüber, inwiefern Wahlen überhaupt spürbare Vorteile für die Bevölkerung angesichts der schlechten ökonomischen Situation Libyens bringen könnten.

 

Könnten die Wahlen die Situation in Libyen sogar noch verschlechtern? Aktivisten wie Emad Badi weisen auf den Zusammenhang zwischen der Eskalation der Kämpfe um die Stadt Derna im Osten nach der Libyen-Konferenz in Paris hin und vermuten eine weitere Gewalteskalation mit Näherrücken des Wahltermins. Auch Hans-Jakob Schindler, ehemaliger Koordinator des IS-, Al-Qaida- und Taliban-Monitoringteams der Vereinten Nationen, kann zwar die Motivation, »die Wahlen in Libyen formal abzuhalten«, nachvollziehen, ist aber skeptisch bezüglich der Erwartung, dass Machthaber auf lokaler Ebene Einfluss abzutreten bereit sind.

 

Grundsätzlich gilt, dass Wahlen einen verbindlichen gesetzlichen Rahmen brauchen, um Transparenz und Rechenschaft zu gewährleisten. Zwar wurde in Paris ebenfalls beschlossen, sich bis Mitte September auf eine Verfassung zu einigen, doch der Prozess ist festgefahren und die Aussichten ernüchternd. Die Relevanz einer verfassungsrechtlichen Grundlage wird besonders deutlich, wenn man sich die letzten Parlamentswahlen 2014 in Erinnerung ruft. Deren Ergebnis sorgte für Skepsis, die durch Fehlen eines glaubwürdigen Forums zur Mediation noch verschärft wurde. Passend dazu mahnt der libysche Journalist Ala Drissi, Mitglied des Teams von »Local Libya«, dass »Wahlen kein Allheilmittel für die aktuellen Probleme in Libyen« seien. Auch er verweist auf die letzten Wahlen, deren Ergebnisse nicht von allen Beteiligten anerkannt wurden.

 

Was die libyschen Wähler am meisten bewegt? Der Währungsverfall – Ausdruck des räuberischen Wirtschaftsssystems, das die Warlords für sich geschaffen haben.

 

Die Bewerberliste für das Präsidentenamt umfasst bislang den ehemaligen libyschen Botschafter in den Vereinigten Arabischen Emiraten, Aref Ali Al-Nayed; Gerüchten zufolge außerdem Gaddafis Sohn Saif Al-Islam, daneben Ali Zeidan, der 2012 bis 2014 schon einmal Premierminister war, von sowie Ahmed Al-Mismari, den Sprecher von Haftars »Nationaler Libyscher Armee«. Bei allen vier Personen scheint fragwürdig, inwiefern sie das Potenzial haben, Libyen zu einen. Und auch die mit den Wahlen verbundenen logistischen Schwierigkeiten sind beträchtlich. Freie und faire Wahlen in allen Teilen Libyens sind aufgrund der instabilen Sicherheitslage, Problemen bei der Wählerregistrierung und ungeklärter Schritte zur Einbeziehung der Binnenvertriebenen nicht zu garantieren.

 

Außerdem ist aktuell die Währungskrise das drängendste Problem vieler Libyer. Eine Krise, die sinnbildlich für die gegenwärtige Dynamik im Land steht und in der deutlich wird, dass große Teile der politischen Elite mitverantwortlich für das räuberische Wirtschaftssystem sind. Eine Veränderung dieses defizitären Systems ist ein weiterer relevanter Aspekt, der zumindest mitgedacht werden muss, wenn die Wahlen Frieden und Stabilität im Land herstellen sollen.

 

Sollten diese fünf Herausforderungen nicht ernsthaft angegangen werden, könnten die Wahlen das Gegenteil dessen verursachen, was sie eigentlich erreichen sollen. Weitere Gewalt und Instabilität könnten die Folge sein. Der wachsende internationale Druck, Wahlen abzuhalten, illustriert jedoch die Entschlossenheit vieler westlicher Politiker. Sie hoffen, das Land so zu stabilisieren und eine stärkere Regierung zu etablieren. Die könnte dann die kriegführenden Parteien versöhnen und dafür sorgen, dass eine Ordnung entsteht, die es Libyen erlaubt, als verlässlicher Ansprechpartner in der Migrationspolitik zu dienen. Ob das gelingt, muss bezweifelt werden.


Inga Kristina Trauthig promoviert am Londoner King's College über die Entwicklung von islamistischen Gruppen in Libyen nach dem Sturz von Muammar Al-Gaddafi.

Von: 
Inga Trauthig

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