Die indische Regierung erkennt Kaschmir den Autonomiestatus ab – und erntet wütenden Protest aus Pakistan. Was die umstrittene Entscheidung für den schwelenden Konflikt der Atommächte in Südasien bedeutet.
Was ist passiert?
Am 5. August setzte Indiens Innenminister Amit Shah per Präsidialbeschluss Artikel 370 und Artikel 35a der indischen Verfassung außer Kraft. Die beiden Verfassungsartikel gewährten Indiens einzigem mehrheitlich muslimischem Bundesstaat Jammu und Kaschmir eine Teilautonomie über Verwaltung und Gesetzgebung sowie das Recht, sogenannte dauerhafte Bewohner des Bundesstaates zu definieren, und diesen besondere Rechte und Privilegien einzuräumen. Diese Maßnahme war als Schutzmechanismus gedacht, um langfristig eine muslimische Bevölkerungsmehrheit sicherzustellen.
Der jüngste Beschluss ging mit verstärkten Sicherheitsmaßnahmen in der Region einher. So wurde eine Ausgangssperre erlassen, das Internet und Mobilfunknetz abgeschaltet und die Anzahl der Sicherheitskräfte in Kaschmir massiv erhöht. Die Behörden nahmen zahlreiche einflussreiche Lokalpolitiker fest, darunter die ehemalige kaschmirische Ministerpräsidentin Mehbooba Mufti.
Am 8. August ratifizierte die Lok Sabha, das indische Unterhaus, dann ein Gesetz, das den ehemaligen Bundesstaat in zwei sogenannte Unionsterritorien teilt: Einmal Jammu und Kaschmir als Unionsterritorium mit eigener Legislative, und einmal die mehrheitlich tibetisch geprägte Bergregion Ladakh als Unionsterritorium ohne eigene Gesetzgebungskompetenz. Der Status des Unionsterritoriums impliziert eine direkte Kontrolle aus Delhi und wird von vielen Beobachtern als eine Herabstufung angesehen.
Im Moment dringen aus der Region nur wenige Nachrichten nach außen, sodass sich Bewertungen über die Folgen des Beschlusses schwierig gestalten. Folgende Reaktionen sind aber wahrscheinlich: Hass bei militanten Kaschmiris, Wut bei den meisten Muslimen; wahrscheinlich sogar eine positive Reaktion bei vielen Hindus in Jammu, dem Teil der Provinz, der überwiegend hinduistisch geprägt ist.
Pakistan, das sich seit langen in einem Territorialdisput mit Indien befindet und Ansprüche auf den indisch verwalteten Teil des Kaschmirs erhebt, hat sich lautstark über die Entscheidung beschwert. Islamabad setzte in Reaktion die einzige Zugverbindung zwischen beiden Ländern aus und reduzierte die diplomatischen Beziehungen auf ein Minimum. Beide Länder standen erst im Februar kurz vor einem Krieg, nachdem bei einem Selbstmordanschlag im kaschmirischen Bezirk Pulwama mindestens 40 indische Sicherheitskräfte getötet wurden. Der Angriff wird einer islamistischen Terrorgruppe zugeschrieben, die ihren Sitz in Pakistan hat.
Worum geht es wirklich?
Der indische Ministerpräsident Narendra Modi möchte Kaschmir vollständig in den indischen Staat integrieren. Auch wenn das bedeutet, die muslimische Mehrheit dort zu verprellen. Modis Partei, die BJP, folgt der pro-hinduistischen Ideologie des »Hindutva«. Für ihre Wähler hat die Aufhebung des Sonderstatus von Kaschmir seit Langem besondere Priorität. Die BJP gewann zuletzt bei den Parlamentswahlen im Frühjahr eine deutliche Mehrheit. Modi fühlt sich gestärkt, insbesondere auch bei Themen, die bei hindunationalistischen Wählern verfangen – dazu gehört auch die Aufhebung des Sonderstatus von Kaschmir. Und mit einer klaren Mehrheit in der Lok Sabha braucht er sich wenig Sorgen um Widerstand aus den Reihen der Opposition zu machen.
Der Zeitpunkt schien also günstig. Der jüngste Vorschlag von US-Präsident Trump an Pakistan, bei der Vermittlung des Kaschmir-Konflikts zu helfen, mag Modi zusätzlich dazu gedrängt haben, die Kaschmir-Frage endgültig zu »lösen«. Doch das Ergebnis ist keinesfalls ausgemacht. Es gilt als wahrscheinlich, dass der Oberste Gerichtshof die Umorganisation der Provinz wieder aufhebt. Denn rechtlich galt es dabei bisher als durchaus umstritten, ob die nun gestrichenen Verfassungsartikel 370 und 35a als dauerhafte Lösungen vorgesehen, oder nur als Provisorien vor der endgültigen Klärung der Kaschmir-Frage mit Pakistan gedacht waren.
In der Vergangenheit herrschte unter indischen Politikern Konsens, dass Kaschmir sich von den anderen ehemaligen Fürstenstaaten unterscheidet, die nach der Teilung Britisch-Indiens entweder Indien oder Pakistan beitraten. Denn damals entschied sich der hinduistische Herrscher Kaschmirs für den Beitritt zu Indien, obwohl er einen mehrheitlich muslimischen Staat regierte. Die muslimische Mehrheit des Staates hätte vielleicht für eine andere Entscheidung votiert, aber solch eine Abstimmung kam nie zustande. Pakistan hat den Wunsch vieler Kaschmiris nach mehr Selbstbestimmung seitdem immer wieder politisch für sich nutzen können. Indiens Glaubwürdigkeit als Demokratie war dagegen in der Kaschmir-Frage auf internationalem Parkett begrenzt.
Um Kaschmir als Teil Indiens zu erhalten, nutzt Neu-Delhi eine Mischung aus Anreizen und Repressionen in Form von Gesetzen und notfalls militärischer Stärke. So räumte man der Region Sonderrechte gemäß der Artikel 370 und 35a ein und gewährte zudem beträchtliche Finanzhilfen. Es geht in der aktuellen Krise also auch darum, das besondere Verhältnis zwischen Neu-Delhi und Kaschmir neu auszutarieren. Konflikte zwischen dem Zentralstaat und den Provinzen sind für sich entwickelnde Demokratien grundsätzlich normal. Historisch gesehen gehörte die Fähigkeit, regionale Separatistenbewegungen wiedereinzubinden, zu den Stärken Indiens multikultureller Demokratie.
Ob bei den Sikhs im Punjab in den 1980er Jahren oder den Tamilen in Südindien in den 1950er Jahren: Die Konfrontation zwischen ethnischen Bewegungen und dem Zentralstaat folgten einem umgekehrten U-Kurven-Modell: Der ethnischen Mobilisierung in der Provinz schlossen sich mehr oder weniger intensive Verhandlungen mit dem Zentralstaat an, teils unter kriegsähnlichen Zuständen. Die endeten dann in einer Einigung. Meist nach einer Mischung aus Erschöpfung, Unterdrückung, Kooptierung und einer aufrichtigen Übereinkunft, bei der die Macht unter den verschiedenen Parteien aufgeteilt wurde.
Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Rolle des Islam, die Beteiligung Pakistans, die Langlebigkeit des Konflikts und ein sich besonders wenig kooperativ zeigender Zentralstaat die Krise in Kaschmir von anderen ethnoseparatistischen Bewegungen in Indiens Peripherie unterscheiden.
Wie geht es nun weiter?
Nachdem mehrere prominente indische Menschenrechtsanwälte bereits Klage eingereicht haben, könnte bald der Oberste Gerichtshof über die Rechtmäßigkeit des Autonomieentzuges und seines Zustandekommens tagen. Die konstitutionelle Anbindung Kaschmirs an Neu-Delhi taugt kaum als Blaupause der Modi-Regierung für andere, nicht-muslimische separatistische Bewegungen in Indien, wie in Westbengalen oder Assam – dafür unterscheiden sich die Verhältnisse vor Ort zu sehr voneinander.
Der Teufelskreis aus Repression und Gewalt entsteht in Kaschmir immer dann, wenn der Machtkampf zwischen zentraler und lokaler Regierung von zwei Faktoren angefeuert wird: schwache Institutionen vor Ort und eine konfrontativ gestimmte Regierung in Neu-Delhi. Es ist sehr wahrscheinlich, dass eine neue Protestwelle innerhalb Kaschmirs losgetreten wird. Spätestens, wenn erwartungsgemäß ein Teil der Armee wieder abgezogen wird. Modi ist hinduistischer Nationalist. Und er ist ein gewiefter Politiker. Vieles wird sich aus der Logik dieser beiden Pole ergeben: Modi sind hohe Beliebtheitswerte wichtig, zugleich muss er seine politische Basis bedienen – also radikale Hindunationalisten.
Trotz lautstarker Forderungen aus Islamabad ist eine Internationalisierung der Krise aber unwahrscheinlich. Die USA sind aktuell zu sehr damit beschäftigt, ihre eigenen anti-muslimischen Feldzüge zu führen. Kaum vorstellbar, dass sich Trump angesichts seiner Haltung etwa im israelisch-palästinensischen Konflikt hinter die Muslime Kaschmirs stellen wird. Pakistan selbst stehen kaum effektive Optionen zur Verfügung, mit Ausnahme einer offenen Kriegserklärung. Es ist also wenig wahrscheinlich, dass es die aktuellen Entwicklungen Islamabad wert sind, in den Krieg zu ziehen. Schon gar nicht, wenn rationales Denken weiterhin die Oberhand erhält.
Atul Kohli ist David Bruce Professor für Internationale Beziehungen an der Woodrow Wilson School of Public and International Affairs der Universität Princeton. Er hat mehrere Bücher und Artikel über Demokratie, ethnischen Nationalismus und die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft in Indien veröffentlicht.