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Nach den Parlamentswahlen im Libanon

Die Schizophrenie der libanesischen Politik

Analyse
Wirtschaftskrise im Libanon
Ein Mann schwingt die libanesische Flagge während eines Protests gegen die Absetzung des Richters, der für die Untersuchung der Explosion vom 4. August 2020 zuständig gewesen wäre. Foto: Simon Haddad

Eine saubere Trennlinie zwischen »Zivilgesellschaft« und »System«, zwischen »Reformern« und »Traditionellen« gibt es nirgendwo. Auch nicht im Libanon. Das haben die Parlamentswahlen gezeigt. Eine Analyse

Die Revolution ist ausgeblieben. Das haben die Parlamentswahlen am Sonntag im Libanon klar gezeigt. Trotz der monatelangen Proteste seit 2019 ist schlussendlich der große Umsturz ausgeblieben. Bleibende Schäden sind dennoch zu besichtigen: physisch in Beiruts geplündertem Stadtzentrum, psychisch in einer weitverbreiteten Apathie und Resignation. Derzeit teilt sich der Libanon nicht mehr nur in die Lager des »14. März« und des »8. März«, sondern vor allem in Enthusiasten und Enttäuschte.

 

Dabei ist diese Zweiteilung eigentlich der libanesische Normalzustand. Politik ist im Libanon eine existenzielle Erfahrung. Sie kann euphorisch und utopisch sein. »Hulm – Traum«, ist eine der am häufigsten verwendeten politischen Vokabeln des Landes. Was im deutschen Kontext eine eher ungewöhnliche, weil pathetische Wortwahl darstellen würde, ist im Libanon eine rhetorische Hausnummer.

 

Hierzu gehört dann auch, dass »nur« Politiker zu sein, selten legitimieren kann. Alle im Libanon sind gegen die vermeintlich Herrschenden – was unweigerlich die Frage aufwirft, wer diese denn unter diesen Bedingungen sind – alle wollen den Bruch mit dem »System«, niemand will nur Partei sein, besser wäre: Bewegung, Strömung, irgendetwas, was Veränderung signalisiert und ausschließt, dass nur das Bestehende verwaltet werden sollte.

 

Diese Sprache ist nicht auf die sogenannte Zivilgesellschaft beschränkt, sie schließt die etablierten Parteien mit ein. Wer sich im Libanon legitimieren will, erklärt, für das wirkliche, das moderne Land, den Nationalstaat anzutreten. Wer delegitimieren will, wirft der anderen Seite vor, für nichts, außer einen Familiennamen zu stehen.

 

Der nationale Konsens bleibt in Banalitäten stecken, er erstreckt sich nicht auf wesentliche Konfliktfelder

 

Deswegen empfinden es auch Anhänger vieler Parteien, etwa der christlich-konservativen Phalangisten, keinesfalls als Widerspruch, Mitglied in einer Partei zu sein, die seit ihrer Gründung 1936 zumeist von Mitgliedern der Familie Gemayel geführt wird, sich selbst jedoch als moderne Konservative, als Vertreter eines an der globalen Moderne orientierten Verständnisses von Staatsbürgertum zu sehen.

 

Wie ich in meinen Interviews mit Parteianhängern immer wieder erfahren musste, betonen sie sehr ihre eigene Rolle, den Bruch mit bestehenden Verhältnissen – auch wenn derselbe zumeist eher klein ausfällt – und legitimieren die Rolle der Familie Gemayel mit der Denkfigur des »für etwas Stehens«: die Person des Vorsitzenden, nicht seine Familie als Ganzes, steht als symbolische Verkürzung der eigenen abstrakten Identität.

 

Eine solche Personalisierung ist jedoch ein Krisenphänomen: Sie steht für die Unfähigkeit, stabile, abstraktere Gemeinsamkeiten jenseits bestimmter Situationen – etwa Katastrophen oder Invasion von außen – aufzufinden. Der Libanon weist eben nur eine banale nationale Identität auf: Er ist als Nation im Alltag sehr präsent, seine Fahne und Hymne sind Gemeingut, man betrachtet sich spätestens seit Ende des Bürgerkriegs 1975-90 als Libanese, das »Watan – Vaterland« ist ein emotional besetzter Begriff, das Land wird in Stereotypen wie den Ruinen von Baalbek, den Zedern (von denen es nur noch wenige gibt) oder den Bergen mit ihren verträumten Gebirgsdörfern symbolisiert.

 

Nur bleibt dieser nationale Konsens in diesen Banalitäten stecken, er erstreckt sich nicht auf wesentliche Konfliktfelder. An genau diesem Mangel an Konsens krankt der Libanon und krankt auch seine Politik. Sie ist fragmentiert, Parteien spalten sich oft, da Dissidenz in personalisierten Parteien nicht oder nur schlecht institutionell aufgefangen werden kann.

 

Welche Bastille hätten die Libanesen stürmen sollen?

 

Seit spätestens 2006, als Hizbullah und Amal aus einer »Großen Koalition« ausstiegen, erreichte die ohnehin schon chronische Schwäche des Zentralstaates und die mit der Ausbeutung öffentlicher Ressourcen einhergehende Stärke privater Akteure katastrophale Ausmaße, da die jeweils andere Seite die Regierung blockierte, staatliche Maßnahmen boykottierte und sowohl den Staatsapparat als auch den öffentlichen Raum endgültig zur allseits verfügbaren Beute machte.

 

Dies aber umfasst keinesfalls nur eine Elite, sondern durchaus auch durchschnittliche Libanesen. Da im Zuge der Corona-Krise nun auch noch das Geld ausblieb, scheiterte 2019 ein abenteuerliches Finanzierungssystem der Zentralbank, das zwar jahrelang im Rechnungsprüfungsbericht angedeutet wurde, jedoch nie jemanden zum Handeln anregte.

 

Wäre die Lage einfacher, wäre die Revolution nicht gescheitert. Faktisch aber liefen sich die Proteste schlicht tot. Daran trug nicht nur der tägliche Überlebenskampf inmitten der tiefen Wirtschaftskrise Schuld, während der die meisten Inhaber libanesischer Bankkonten rund 90 Prozent ihres Ersparten, Zeit und Geld für politisches Engagement verloren. Vielmehr liegt das Problem auch in der Ziellosigkeit der Proteste selbst. Sie mochten ihren Unmut zeigen, Graffiti und geplünderte Geschäfte zurücklassen, aber das Resultat einer erfolgreichen Revolution ist eine neue Ordnung und keine Brandruine.

 

Am Ende muss jede Revolution eine Bastille stürmen. Aber welche Bastille hätten die Libanesen stürmen sollen? Den Serail, den Palast des Premierministers? Den Baabda-Palast des Präsidenten? Oder den Bunker des Hizbullah-Generalsekretärs Hassan Nasrallah? Abgesehen davon, dass die Frage im Raum stünde, wo letzterer eigentlich steht, würde ein Sturm auf ihn ganz gewiss den nächsten Bürgerkrieg auslösen.

 

Geagea verwechselt oft schulmäßige Intellektualität mit einer etwas unangemessen wirkenden Neigung zum Mystizismus

 

Das Bild der zu stürmenden Bastille umschreibt das Problem gut: Paläste oder die Beiruter Renommiermeilen der Solidère, des Inbegriffs der Gentrifizierung der Ära zwischen 1990 und 2005, zu brandschatzen, baut keine tragfähigen Institutionen auf und verweist auf das Problem, dass die allgemeine Regellosigkeit des Libanon nicht auf einzelne, herausgreifbare Personen oder gesellschaftliche Gruppen reduziert werden kann. Der Sturm auf den Bunker Nasrallahs wiederum illustriert, dass die angeblich nur aus privaten Räubern und Warlords bestehenden etablierten politischen Akteure des Landes sehr wohl in die Gesellschaft hineinreichen und dort Unterstützung mobilisieren können.

 

Das gilt auch für den heimlichen Wahlsieger der Parlamentswahl vom Sonntag. Die »Lebanese Forces / Forces Libanaises«, kurz LF, sind eine christlich-rechtskonservative Partei, die aus einer Kriegsmiliz hervorgegangen ist und 19 Sitze erhielt. Ihr Vorsitzender, Samir Geagea, ist eine umstrittene Figur: Seine einstigen Kriegsgegner hassen ihn. Jene, die unter dem, nach Abflauen der anfänglichen Massenmobilisierung, sich rasch professionalisierenden Milizenapparat litten, fürchten ihn. Seine Anhänger bewundern ihn. Nicht zuletzt dafür, dass er nach einem fragwürdigen Gerichtsurteil gegen ihn als einziger Kriegsherr 1994 ins Gefängnis ging.

 

Damals waren sich die meisten Beobachter einig, dass die syrische Besatzungsmacht in Geagea ihren härtesten Widersacher loswerden wollte. Jedoch statt, wie der innerhalb der LF für das Massaker von Sabra und Schatila verantwortliche Elie Hobeika, abzuschwören und sich mit Damaskus zu arrangieren, nahm Geagea eine elfjährige Einzelhaft auf sich. Für diese Standhaftigkeit bewundern ihn die Seinen. Sie gilt ihnen als Gewähr, dass mit ihm endlich der Bruch mit dem bankrotten Jetzt einherginge.

 

Geagea gilt als eher mäßiger Redner, er liest viel, interessiert sich für existenzialistische Philosophie, verwechselt allerdings oft schulmäßige Intellektualität mit einer etwas unangemessen wirkenden Neigung zum Mystizismus. Vom Yoga bis zum richtigen Atmen hält der einstige Medizinstudent Geagea allerlei ganzheitliche Rezepte bereit, die er auch gerne als Teil seines Images einer breiteren Öffentlichkeit anbietet. Was unter Beiruts Bildungsbürgertum eher ein Naserümpfen hervorruft, ist unter seinen meist sehr frommen und ländlich geprägten Anhängern sehr populär. Für sie steht er für den Aufbruch in einen neuen, starken Staat.

 

Die Beliebtheit des Themas Dezentralisierung beruht auf der Hoffnung der Dauerblockade auf der Ebene des Zentralstaates zu entkommen

 

Das spezifisch christliche Element manifestierte sich dabei bei dieser Wahl in dem allgegenwärtigen Slogan »Wir verwirklichen die Dezentralisierung«. Das greift einen alten Diskurs aus Kriegszeiten auf, als konservativ-christliche Intellektuelle aus dem Scheitern des Vorkriegslibanon die Lehre zogen, man müsse das Land in konfessionell grundierte Kantone aufteilen, da man mit der anderen Seite nicht mehr zusammenleben könne. Die gegenwärtige Beliebtheit des Themas der Dezentralisierung beruht dabei vor allem auf der Hoffnung, in kleineren Einheiten der Dauerblockade auf der Ebene des Zentralstaates und des als Vetospieler agierenden Apparates der Hizbullah zu entkommen.

 

Die Hizbullah wiederum hat am Wahlabend ein durchwachsenes Resultat erleben müssen. Ihr fehlten mit ihren Verbündeten nur drei Sitze bis zur Mehrheit, aber insgesamt erhielten sie neun weniger als 2018. Während ihre Hochburgen intakt blieben, verloren vor allem ihre kleineren Verbündeten der Allianz des »8. März«, mit deren Hilfe die »Hizb« in die anderen Konfessionen auszugreifen versucht. Ihre Versuche, mithilfe kleinerer und größerer Alliierter den festgefügten Bereich ihres eigenen Milieus zu verlassen, erlitten allerdings wegen ihrer bewaffneten Angriffe auf Demonstranten und vor allem der Schießerei am 14. Oktober 2021 am Tayouneh-Platz in Beirut einen Rückschlag.

 

Damals marschierten Anhänger von Hizbullah und Amal zunächst unbewaffnet zum Justizpalast. Dort wollten sie gegen den Untersuchungsrichter Tariq Bitar demonstrieren, den Vertreter beider Parteien in einer orchestrierten Kampagne als »amerikanischen Spion« diffamiert hatten. So wollten sie eine juristische Untersuchung der Frage verhindern, ob die der Amal angehörenden Minister für die Explosionskatastrophe am 4. August 2020 im Hafen zur Rechenschaft zu ziehen wären. Der Weg zum Justizpalast liegt jedoch in einer von den LF kontrollierten Gegend.

 

Den Auftritt der zumeist in schwarz gekleideten Muskelmänner der beiden Schiitenparteien empfanden dort viele als Invasion. Zumal kurz zuvor der Chef des Exekutivrates der Hizbullah Sayyid Hashim Safi Al-Din angekündigt hatte, der Staatsapparat müsse nunmehr von ausländischen Agenten gesäubert werden – gemeint waren die Vertreter des »14. Märzes«. Unbekannte, wohl Anhänger der LF, eröffneten daraufhin das Feuer auf die Demonstranten, die eben noch unbewaffneten Marschierer waren plötzlich auch unter Waffen: 7 Menschen starben, 32 wurden verletzt. Der Krieg schien zurück: Eine christliche Bäckerei in meinem (muslimischen) Viertel schloss in Windeseile, die Bäcker zogen in den christlichen Osten der Stadt ab, Taxifahrer weigerten sich, die ehemalige Frontlinie zu passieren.

 

Vor allem die kleineren Verbündeten von Hizbullah und Amal gerieten unter die Räder

 

Was wohl als Machtdemonstration geplant war, geriet zum Eigentor. Der ohnehin schon über allem schwebende Gewaltapparat des Hizbullah und ihrer Verbündeten wurde nun auch als physische Gefahr zum beherrschenden Thema des Wahlkampfes. Plakate im Wahlkampf etwa stellten im muslimischen Westbeirut die Kämpfer der Miliz unter dem Slogan »Ein Staat vs. Ministaaten« ostentativ der Armee des nominalen Staates gegenüber – ein Schaubild dafür, dass das Land auch dank der bewaffneten Apparate faktisch längst inoffiziell in mehrere substaatliche Einheiten zerfallen ist.

 

Selbst in den Hochburgen der Hizbullah und Amal wurde Missmut laut, als etwa der Bankier Marwan Kheireddine von der der Liberaldemokratischen Partei (LDP) auf der Liste der beiden Schiitenparteien auftauchte. Kheireddines Bank war eine der ersten, die bei Beginn der Finanzkrise den Zugang zu Sparkonten einschränkte, wodurch ihre Anleger also beinahe ihr gesamtes Vermögen verloren, während Kheireddine selbst noch rasch vorsorgte und ein Netz aus Offshore-Firmen im Ausland einrichtete.

 

Da mit der »Zukunftsströmung« des ehemaligen Ministerpräsidenten Saad Hariri der wichtigste Gegner die Wahl boykottierte, machte sich der »8. März« durchaus Hoffnungen, neue Mandate im Westen Beiruts oder im Schuf zu erobern, um sogar die Zweidrittelmehrheit zu erringen. Gerade jedoch an den eher als Schaufensterdekoration angesehenen Kandidaten kleinerer Gruppen wie der Syrisch-Nationalsozialen Partei (SSNP), LDP, der Partei der Arabischen Einheit und anderer, brachten die Wähler in nicht klar schiitisch dominierten Gebieten an der Urne ihre Wut zum Ausdruck und illustrierten damit, dass Hizbullah und Amal auf ihre Kernklientel zurückgefallen ist. Selbst der Einsatz physischer Gewalt gegen einzelne Kandidaten half da nichts.

 

Vor allem jene, die der Regierung in Damaskus nahestehen, ohne auf ein ebenso fest gewobenes Netz an soziomoralischen Bindungen wie die Hizbullah und Amal aufbauen zu können, denen man also ihre finanzielle Abhängigkeit von anderen überdeutlich anmerkte, gerieten unter die Räder. So etwa der einer traditionellen Notabelnfamilie entstammende Emir Talal Arslan von der LDP verlor den Kampf um einen drusischen Sitz in Aley ebenso schmählich wie nebenan im Schuf Wiam Wahhab, der gewissermaßen als Flächenfeuerwaffe die libanesischen Talkshows bespielt: unvergessen sein Auftritt während der WM 2010, als er nach seiner Lieblingsmannschaft beim Turnier gefragt, halb-ironisch antwortete, spielerisch wären ihm die Brasilianer lieber, aber politisch hielte er es mit den Deutschen, denn, so wörtlich »sie hassen die Juden und haben sie verbrannt«. Er wiederholte diesen Satz übrigens in ähnlicher Form im Jahr 2020.

 

Viele der Namen, die mit »Zivilgesellschaft« assoziiert werden, haben eine ausgewiesene politische Identität

 

Selbst in den südlichen Hochburgen der Hizbullah erwischte es mit dem SSNP-Vorsitzenden Asaad Hardan ein christliches Feigenblatt der Partei, dem die Wähler den unabhängigen Augenarzt Ilyas Jaradah vorzogen, der auf einer Liste linker Kandidaten antrat. Auch Kheireddine unterlag einem parteilosen Herausforderer. Der griechisch-orthodoxe Vizepräsident des Parlamentes, der noch vor einem Jahr die Armee dazu aufgerufen hatte, die Macht zu übernehmen, verlor als Hizbullah-naher Unabhängiger in der Bekaa-Ebene gegen den Millionär Yassin Yassin, der zwar als Vertreter der Proteste des »17. Oktober« angepriesen wurde, gleichzeitig jedoch auch Teile des in finanziell turbulenten Fahrwassern driftenden Wirtschaftsimperiums der Hariri-Familie aufkaufen konnte.

 

Die Zivilgesellschaft als Schlüssel zur Veränderung des Libanon, als idealistisches, einer vermeintlich geschlossenen Elite im Lande gegenüberstehenden wahren Volkes, prägte den medialen Diskurs der letzten Jahre. Während 2018 am Ende nur eine einzige Kandidaten, die mit den damaligen »You Stink«-Protesten assoziiert wurde, die bekannte Fernsehjournalistin Paula Yakubian, den Weg in das Parlament fand, werden es diesmal rund 20 sein, darunter auch abermals Yakubian sowie die bekannte Chemikerin Najat Saliba, die sich auf das Thema Umweltverschmutzung spezialisiert hat – ein Thema, das ausreichend Arbeit für Jahre bereitzuhalten verspricht. Aber nur knapp die Hälfte dieser Gewählten, maximal jedoch 16 Parlamentarier, werden zum unmittelbaren Umfeld der »17. Oktober«-Proteste gezählt.

 

Bei der Einschätzung, was dies für den Libanon bedeutet, sollte man jedoch vorsichtig sein. Denn mehr als einmal entpuppen sich diese Kandidaten als Menschen, die durchaus auch zu jenen Konfliktlinien eine klare Meinung haben, die ja auch der bisherigen libanesischen Parteienlandschaft zugrunde liegen. Die Vielzahl der Listen, die unter dem Etikett »unabhängig« bei dieser Wahl antraten, lässt Böses erahnen. Wir sehen ganz ähnlich gegenwärtig im Irak, dass die 43 unabhängigen Abgeordneten des irakischen Parlamentes, die mit den gleichfalls seit 2019 andauernden »Oktober-Protesten« im Land assoziiert werden, entlang der für das ganze Land prägenden Konfliktlinien auffasern und eben keinen einheitlichen Block bilden können.

 

Es ist noch nicht abzuschätzen, welchen Lagern sich die libanesischen »Unabhängigen« der »Proteste des 17. Oktober« am Ende zuordnen werden. Viele der Namen, die mit »Zivilgesellschaft« assoziiert werden, haben eine ausgewiesene politische Identität, die sie auch bisher schon in die Politik eingebracht hatten, was von westlichen Beobachtern aber gerne übersehen wird: Der Fernsehsender Arte etwa ließ nach der Explosionskatastrophe im Hafen von Beirut 2020 mit dem Fernsehjournalisten Albert Kostanian ausgerechnet einen ehemaligen Wahlkampfmanager der Phalangisten als Experten aus der Zivilgesellschaft auftreten. Nicht dass es verboten oder unmoralisch wäre, einer Partei anzugehören, die immerhin Sitz und Stimme in der christdemokratischen Internationale hat. Aber das Beispiel illustriert treffend, dass auch die unter der schillernden Rubrik Zivilgesellschaft eingeordneten Protagonisten keine politisch unbeschriebenen Blätter sein müssen.

 

Vor allem Sunniten konnten und mussten sich durch den Boykott Hariris neu orientieren

 

In Beirut-Ost etwa traten als »Unabhängige« ganz verschiedene Personen an: Jihad Pakradouni, etwa, der Sohn eines bekannten ehemaligen Phalangisten-Funktionärs, der für seine Begabung für Diplomatie und seine Nähe zu Syrien bekannt war. Asma Andraos, eine der Organisatorinnen der »Zedernrevolution« von 2005, aus altem phalangistischen Hause und jahrelang Medienberaterin des ehemaligen Ministerpräsidenten Saad Hariri. Oder Ziyad Abs, der sich als Student den vom heutigen Staatspräsidenten Michel Aoun gesteuerten Protesten am Ende des Bürgerkrieges anschloss, sich anschließend freiwillig zur Armee meldete und in Aouns Partei, der FPM, nach 2005 rasch Karriere machte. Enttäuscht über die zunehmende Ausschaltung parteiinterner Opposition musste er diese später jedoch zwangsweise verlassen.

 

Ein ähnliches Schicksal ereilte den einstigen Arbeits- und Telekommunikationsminister Charbel Nahhas, ein ausgewiesener Wirtschaftsfachmann, der die Aounisten-Partei dennoch als Gescheiterter verließ. Als Arbeitsminister konnte er eine Erhöhung der Bezüge des parteipolitisch durchsetzen öffentlichen Dienstes nicht verhindern, als Telekommunikationsminister verwehrte man ihm den Zutritt zu einer Einrichtung der Inneren Sicherheit, von der aus ein nicht lizensiertes Kommunikationsnetzwerk betrieben wurde, das entweder dem »14. März« exklusiv diente oder sogar für Spionagezwecke genutzt wurde. Von diesem Zwischenfall, der deutlich die Machtlosigkeit des Ministers demonstrierte, existieren sogar spektakuläre Fernsehbilder.

 

Pakradouni und Andraos traten auf Listen etablierter Parteien an (der eine bei den LF, die andere bei den Phalangisten), Nahhas und Abs auf einer der neuen Listen, die den Protesten des »17. Oktober« nahe stehen. Allein diese kleine Auswahl zeigt bereits die Bandbreite der unter dem Etikett »Unabhängige« antretenden Bewerber. Selbst Mitglieder der ansonsten sehr begrenzten Kommunistischen Partei traten auf Listen der »17. Oktober«-nahen Kandidaten an. Eine fast septisch reine Linie zwischen »Zivilgesellschaft« und »System«, zwischen »Reformern« und »Traditionellen« gibt es nirgendwo. Auch nicht im Libanon.

 

Eine Umfrage des »Arab Center for Research & Policy Studies« zeigte vor der Wahl, dass die potenziellen Wähler dieser Kandidaten vor allem unter Sunniten zu suchen wären, die sich ja zum einen durch den Boykott Hariris neu orientieren konnten und mussten, zum anderen aber vor allem in Beirut sehr urban und bürgerlich geprägt sind. Daneben waren es auch (häufig orthodoxe) Christen in Beirut und Umland, die sich für neue Kandidaten erwärmen konnten.

 

Das heißt, nicht wenige der »Unabhängigen« sind Sunniten, sie dürften schon aufgrund des Wunsches, das Schattenreich des »8. März« zurückzudrängen, sich eher dem »14. März« annähern. Urbane, gebildete Wähler mit Hochschulabschluss tun sich zudem schon seit einigen Jahren in Beirut schwer mit den etablierten Parteien. Die teils deutlichen Siege der mit der »17. Oktober«-Revolte assoziierten Kandidaten bei den als sehr kompetitiv geltenden Hochschulwahlen bestätigen dies. Allerdings nahmen viele etablierte Parteien erst gar nicht an diesen teil, allen voran Hizbullah selbst.

 

Viele entschieden sich dann aber doch vor allem im ländlichen Raum für die christlich-konservativen Parteien der Phalangisten und der LF

 

Diese Repräsentationslücke im urbanen, liberalen bis linken Bereich gilt auch für den christlichen Teil der Stadt. Die Partei von Präsident Aoun versuchte diese liberale und säkular gestimmte Klientel einzufangen, wird aber vermehrt als Verbündeter der Hizbullah für eben diese in Haftung genommen. Sie verlor diesmal deutlich ihren Platz als führende christliche Partei an die LF. Viele entschieden sich dann aber doch vor allem im ländlichen Raum und außerhalb der so oft von westlichen wie arabischen Journalisten hofierten akademischen Seminare für die christlich-konservativen Parteien der Phalangisten und der LF.

 

Unter schiitischen Befragten fanden die Vertreter der »17. Oktober«-Proteste relativ wenig Zustimmung: Nur 10 Prozent bewerteten sie positiv. Dies dokumentiert den Erfolg der Hizbullah-Kampagne, über den Vorwurf der Parteilichkeit der Justiz, das Verfahren gegen die Minister ihrer Verbündeten zu delegitimieren. Wie sehr bestimmte Lebenswelten des Libanon soziomoralisch intakt geblieben sind, unterstreicht auch ein weiterer Umstand: Zwar wurden unter dem Strich alle libanesischen Parteien in Umfragen vor der Wahl vom Wähler negativ bewertet, aber die höchsten Zustimmungswerte genossen neben den neuen »17. Oktober«-Kräften gerade die Hizbullah, Amal sowie die LF und die Aoun-Partei FPM, die schlussendlich aber schlechter abschnitt als, es diese Umfragedaten erwarten ließen.

 

Ebenso wie diese Parteien die Euphorie der besseren Zukunft, des handlungsfähigen Staates und des Bruchs mit der dysfunktionalen Vergangenheit bei ihren Anhängern mobilisieren können, aber am Wegrand auch abgrundtief Enttäuschte zurücklassen, können auch die Gefühle der Wähler der »Unabhängigen« der »17. Oktober«-Proteste rasch vom »Traum« zum Resignation umschlagen – die mit 41 Prozent denkbar niedrige Wahlbeteiligung weist den Weg in diese Richtung. Allerdings wird die Wahlbeteiligung auch von der zuletzt massiv angestiegenen inoffiziellen Migration ins Ausland nach unten gedrückt: Kollegen an libanesischen Universitäten schätzen, dass zwischen einem Drittel und der Hälfte ihrer Kollegen entweder schon das Land verlassen haben oder auf gepackten Koffern sitzen. Der Staat registriert jedoch diese Abwanderung nur unvollständig.

 

Die nun zu beantwortende Frage wird sein, wie sich die neuen »Unabhängigen« sortieren werden. Wer dann überhaupt eine Regierung bilden kann, steht noch aus. Die Hizbullah und ihre Verbündeten haben jedenfalls ihre Mehrheit verloren, können jedoch mit ihrem bewaffneten Apparat jede Regierung faktisch lahmlegen. Im schlimmsten Falle läuft dies auf eine ähnlich totale Polarisierung hinaus wie nach der Wahl 2009. Was folgte, waren Jahre der gegenseitigen Blockade, in denen der Libanon von der Substanz zehrte, die nunmehr aufgebraucht ist. Dass rund 90 Prozent der libanesischen Weizenimporte aus Russland und der Ukraine stammen, deutet bereits das kommende Desaster an.


Christian Thuselt ist Research Associate am Orient-Institut Beirut. Zuvor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter am Institut für Politische Wissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er wurde über politische Parteien im Libanon promoviert.

Von: 
Christian Thuselt

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