Lesezeit: 11 Minuten
Nationalismus und Religion in Saudi-Arabien

Dämmerung der Wahhabiten

Analyse
Nationalismus und Religion in Saudi-Arabien
Die Prophetenmoschee in Medina Foto: dge

Wie Muhammad Bin Salman den vierten saudischen Staat errichtet und einen neuen Gründungsmythos schafft.

Am 22. Februar 2022 wurde in Saudi-Arabien der »Tag der Gründung« als zusätzlicher Nationalfeiertag eingeführt. Noch Wochen und Monate später schmückten Plakate die Straßen von Riad, auf denen im zentralarabischen Dialekt »Der Tag, an dem wir anfingen« geschrieben stand. Zu sehen war eine Szene mit einem reitenden Kamel und einemBeduinen in einer imaginierten Wüstenlandschaft des 18. Jahrhunderts. Mit den Feierlichkeiten wurde der Übernahme der Macht durch Emir Muhammad Ibn Saud in deralten saudischen Hauptstadt Diriya im Jahr 1727 gedacht.

 

Die saudische Herrscherfamilie bemüht sich schon seit Jahren um die Schaffung eines saudischen Nationalbewusstseins, sodass die Kostümfeste, bei denen Saudis in traditioneller Kleidung aus dem 18. Jahrhundert auftreten, nicht aus dem Rahmen fallen. Viel bemerkenswerter ist die geschichtspolitische Aussage des Ereignisses, denn bisher galt im Land und außerhalb 1744/45 als das Gründungsjahr Saudi-Arabiens. Damals übersiedelte der religiöse Reformer Muhammad Ibn Abd Al-Wahhab – nach dem der Wahhabismus benannt ist – nach Diriya und schloss einen Pakt mit Muhammad Ibn Saud, der eine Allianz zwischen Religion und Staat begründete, die Saudi-Arabien seitdem entscheidend prägt.

 

Verantwortlich für die Umschreibung der Gründungsgeschichte Saudi-Arabiens ist der saudische Kronprinz Muhammad Bin Salman (MBS), seit 2017 der starke Mann im Land. Mit dem neuen Nationalfeiertag will er bekräftigen, dass sein Vorfahr Muhammad Ibn Saud den saudischen Staat begründete. Ibn Abd Al-Wahhab hingegen wird nur noch eine Nebenrolle eingeräumt.

 

Vor der Ankunft des Klerikers war Diriya nur einer von vielen kleinen Stadtstaaten in Zentralarabien

 

Doch die Umschreibung der Frühgeschichte des ersten saudischen Staates hält einem Abgleich mit den Fakten nicht stand, denn Muhammad Ibn Abd Al-Wahhab war dessen dominierende Persönlichkeit. Vor der Ankunft des Klerikers war Diriya nur einer von vielen kleinen Stadtstaaten in Zentralarabien (Arabisch Nadschd), in denen wenige Tausend Einwohner lebten und die nicht mehr als die unmittelbar umliegenden Gegenden kontrollierten.

 

Erst das Bündnis Muhammad Ibn Sauds mit dem Reformer, dessen Lehren dem entstehenden saudischen Staat eine ideologische Grundlage mit großer Strahl- und Sprengkraft lieferten, ermöglichten dem Herrscher und seinem Sohn Abd Al-Aziz (regierte 1765–1803) die anschließende Expansion, die große Teile der Arabischen Halbinsel unter die Kontrolle des Wahhabiten-Staates brachte – der in der Forschung erster saudischer Staat genannt wird und bis 1818 bestand.

 

Ibn Abd Al-Wahhab wurde 1703 als Abkömmling einer prominenten Gelehrtenfamilie in der zentralarabischen Stadt Uyaina geboren. Nach Studienjahren unter anderem in Medina und Basra kehrte der junge Gelehrte in der zweiten Hälfte der 1730er-Jahren in seine Heimat zurück. Bald darauf begann er einen Kulturkampf und wandte sich gegen die Praktiken des lokalen Volksislam und islamischer Mystiker. Dabei ging es vor allem um die Verehrung von Heiligen an deren Gräbern, aber auch die von Steinen und Bäumen sowie die Aktivitäten lokaler Derwische.

 

Stattdessen forderte er die Rückkehr zu einem radikalen Monotheismus (tauhid), wie ihn seiner Ansicht nach die frühen Muslime in den ersten zwei Jahrhunderten nach der Offenbarung in Theorie und Praxis vorgelebt hatten. Das Auftreten des Reformers und seiner Anhängerschaft sorgte in Arabien für große Unruhe und Ibn Abd Al-Wahhab konnte sich nur vor seinen zahlreichen Feinden schützen, indem er 1744/45 Zuflucht bei dem Herrscher von Diriya, Muhammad Ibn Saud, suchte und fand. Im Laufe der Zeit bildete sich ein stabiles Bündnis zwischen den beiden heraus, das die hergebrachte religiöse und politische Ordnung in Zentralarabien revolutionierte.

 

Mit dem Angriff auf die Osmanen waren die Saudis einen entscheidenden Schritt zu weit gegangen

 

Der Reformer übernahm die Kontrolle über das religiöse Leben, Justiz und Erziehung und schuf eine puristische Tugendrepublik, in der die Muslime entsprechend seiner Lehren fünfmal am Tag in der Moschee beten mussten und Musik, das Rauchen und seidene Kleidung verboten waren. Ibn Abd Al-Wahhabs Schüler patrouillierten mit Stöcken bewaffnet die Straßen und setzten die Gebote des Gelehrten buchstabengetreu durch.

 

Der Kleriker verfasste mehrere Kurztraktate, darunter das berühmte »Buch des Monotheismus« (Kitab Al-Tauhid), in denen er seine Ideen einer wachsenden Anhängerschaft in einfacher Sprache nahebrachte. Ibn Abd Al-Wahhab wandte sich mit zahlreichen Briefen an die Gelehrten und Herrscher der Städte der Region und forderte sie auf, seinen radikalen Eingottglauben in Theorie und Praxis zu übernehmen. Wer sich widersetzte, wurde in den Augen der Wahhabiten zum Ungläubigen (Kafir).

 

Mit der Exkommunikation der Muslime in der Umgebung schuf Ibn Abd Al-Wahhab die ideologische Grundlage für die anschließende Expansion des Wahhabiten-Staates – in dem der Reformer mindestens bis in die frühen 1770er-Jahre auch an wichtigen politischen Entscheidungen beteiligt war. Schon 1746 begannen die Truppen Diriyas den Dschihad gegen die Nachbarn. Zwar dauerte es fast drei Jahrzehnte, bis das benachbarte Riad (Diriya ist heute ein Vorort der saudischen Hauptstadt) 1773/74 erobert werden konnte, doch anschließend nahmen die Eroberungen an Fahrt auf.

 

Kurz nach dem Tod des Reformers 1792 nahmen die Wahhabiten ganz Ostarabien und zwischen 1803 und 1806 sogar die Heiligen Stätten von Mekka und Medina ein, die unter Oberhoheit des Osmanen-Sultans in Istanbul gestanden hatten. Prompt zerstörten die wahhabitischen Bilderstürmer Gräber der schiitischen Imame, der Prophetengefährten und sonstiger Heiliger und machten so deutlich, dass sie keinen Jota von den Vorgaben Ibn Abd Al-Wahhabs abweichen würden.

 

Doch mit dem Angriff auf die Osmanen waren die Saudis einen entscheidenden Schritt zu weit gegangen. Zu schwach, um selbst zu reagieren, beauftragte die Hohe Pforte ihren Vizekönig in Ägypten, Mehmet Ali Pascha, Mekka und Medina zurückzuerobern. Das war schon 1811 erledigt, doch die ägyptischen Truppen marschierten weiter in Richtung Diriya, das sie 1818 zerstörten. Sie waren sich der besonderen Bedeutung der wahhabitischen Gelehrten für den Erfolg der saudischen Expansion bewusst.

 

Seit dem späten 19. Jahrhundert war das wahhabitische Establishment immer öfter bereit, sich staatlichen Interessen unterzuordnen

 

Kein Wunder also, dass sie Sulaiman Ibn Abdallah, einen einflussreichen Enkel Ibn Abd Al-Wahhabs und Vertreter einer besonders kompromisslosen Linie gegenüber den Osmanen, sofort hinrichteten – das ägyptisch-osmanische Expeditionskorps soll seine Exekution sogar mit Musik begleitet haben, sodass zum Schaden auch noch der Spott kam. Der Wahhabiten-Herrscher Abdallah Ibn Saud wurde nach Istanbul verschafft, wo er im Dezember 1818 öffentlich enthauptet wurde.

 

Die prominente Rolle Sulaiman Ibn Abdallahs zeigte bereits die besondere Bedeutung der Nachfahren Ibn Abd Al-Wahhabs, die bis heute als »Al Al-Scheich«, also »die Familie des (einen und einzigen) Scheichs« (Muhammad Ibn Abd Al-Wahhab), bekannt sind. Sie übernahmen seit dem Tode des Reformers die Führungspositionen in der religiösen Hierarchie Saudi-Arabiens und vermittelten seine Weltanschauung an nachfolgende Generationen. Zwar erreichte keiner von ihnen die Stellung ihres großen Vorfahren in Religion und Politik des Staates, doch blieben sie Partner der Herrscherfamilie in einem Bündnis, das den Sauds vor allem religiöse Legitimation verschaffte.

 

Nach der Zerstörung Diriyas entstand unter der Führung von Emir Turki Ibn Abdallah Al Saud der zweite saudische Staat mit der neuen Hauptstadt Riad. Dieser zweite Staat war deutlich schwächer als sein Vorgänger und beschränkte sich auf die Herrschaft in Zentral- und Ostarabien. Wie selbstverständlich übernahmen ein weiterer Enkel und Urenkel Ibn Abd Al-Wahhabs die religiöse Führung des Gemeinwesens, wirkten als oberste Richter und Rechtsgutachter (Mufti) und unterrichteten neue Generationen von Gelehrten.

 

Sie konnten aber nicht verhindern, dass nach dem Tod des Herrschers Faisal Ibn Turki im Jahr 1865 Nachfolgekonflikte ausbrachen, die zu einem erneuten Zusammenbruch des saudischen Staates und zur Übernahme der Macht im Nadschd durch die Stammeskrieger der Al Raschid aus Hail weiter im Norden führten. Die lang anhaltenden Wirren, die erst mit der Einnahme Riads durch die Raschids im Jahr 1891 endeten, prägten von damals an den Blick der wahhabitischen Gelehrten auf Geschichte und Politik.

 

Schmerzlich wurde ihnen bewusst, dass sie zwar im Besitz der einzigen Wahrheit waren, der Verlust von staatlicher Unterstützung ihren religiös-ideologischen Einfluss auf die Bevölkerung Arabiens aber schmälerte und die Existenz der Bewegung insgesamt bedrohte. Seit dem späten 19. Jahrhundert war das wahhabitische religiöse Establishment deshalb immer öfter bereit, sich staatlichen Interessen unterzuordnen – um sich auf diese Weise der fortgesetzten Unterstützung der Familie Saud zu versichern.

 

Die beiden Vorgängerstaaten hatten sich der Loyalität der militärisch mächtigen Nomaden nie sicher sein können

 

Als der junge Abd Al-Aziz Ibn Abd Al-Rahman Al Saud – der als Ibn Saud berühmt wurde – Anfang 1902 die Hauptstadt Riad im Handstreich nahm und den dritten saudischen Staat begründete, standen die Gelehrten der Al Al-Scheich wieder bereit. Gemeinsam mit dem neuen Herrscher machten sie sich daran, die Stämme unter Kontrolle zu bringen. Die beiden Vorgängerstaaten hatten sich der Loyalität der militärisch mächtigen Nomaden nie sicher sein können.

 

Ibn Saud begann mit ihrer Ansiedlung in Wehrdörfern, und die wahhabitischen Gelehrten brachten ihnen den »wahren« Islam Ibn Abd Al-Wahhabs nahe. Das Ergebnis war erstaunlich, denn die nun Ikhwan oder »Brüder« genannten Krieger wurden ab Mitte der 1910er-Jahre zur Speerspitze eines wahhabitischen Eroberungsfeldzugs, der große Teile der Arabischen Halbinsel einschließlich Mekka und Medina umfasste.

 

Mit der ganzen Begeisterung der frisch Bekehrten forderten die Ikhwan ganz in der Tradition der frühen Wahhabiten eine Fortsetzung des Heiligen Krieges gegen die Briten im Irak und in Transjordanien, eine gewaltsame Neugestaltung des religiösen Lebens in den Heiligen Stätten und eine massive Unterdrückung der Schiiten im Osten des saudischen Herrschaftsgebiets. Ibn Saud konnte diese Forderungen nicht erfüllen, wollte er nicht in Konflikt mit sämtlichen Nachbarn und Muslimen in aller Welt geraten und gleichzeitig die innere Stabilität und Prosperität seines jungen Staates gefährden. 1930 schlug er eine Rebellion der Ikhwan blutig nieder. Obwohl die wahhabitischen Gelehrten viele Forderungen der Aufständischen teilten, schlugen sie sich auf die Seite Ibn Sauds.

 

Anfang der 1930er-Jahre wurden die Gelehrten zwar endgültig zu Juniorpartnern der Herrscherfamilie, doch ihre Loyalität wurde belohnt. Nirgendwo sonst in der islamischen Welt (mit Ausnahme Irans ab 1979) konnten die religiösen Eliten im 20. und 21. Jahrhundert so großen gesellschaftlichen Einfluss bewahren wie in Saudi-Arabien, wo sie weiter ein Interpretationsmonopol in religiösen Fragen, aber auch viele Funktionen in der Justiz und im Erziehungswesen bewahren konnten. Zwar wurden sie in staatliche Institutionen eingebunden, doch profitierten sie auch von den Öleinnahmen, die es ihnen ermöglichten, die wahhabitische Lehre jenseits der Grenzen des Königreichs zu verbreiten.

 

Persönlichkeiten wie der Großmufti und Oberste Richter Muhammad Ibn Ibrahim Al Al-Scheich (1890–1969) machten es sich in den folgenden Jahrzehnten zur Aufgabe, eine zu weitreichende und schnelle Modernisierung des nun märchenhaft reichen Königreichs zu verhindern. Sie wehrten sich gegen die Einführung des Fernsehens und vieler anderer aus ihrer Sicht unerlaubter Neuerungen, ohne sich aber je gegen die Herrscherfamilie durchsetzen zu können.

 

Immer deutlicher wurde die Diskrepanz zwischen der radikalen Lehre der Wahhabiten und dem Pragmatismus ihrer wichtigsten religiösen Vertreter

 

In den entscheidenden Momenten zeigten sie sich trotzdem kompromissbereit. So beispielsweise im November 1979, als junge wahhabitische Extremisten die Große Moschee von Mekka besetzten und Hunderte Pilger als Geiseln nahmen. Die Gelehrten erlaubten den Sturm des Gotteshauses, in dem das Waffentragen eigentlich verboten ist. Ähnlich entscheidend war ihre Rolle 1990, als irakische Truppen das Emirat Kuwait überfallen hatten und die Herrscherfamilie einen weiteren Vormarsch nach Saudi-Arabien befürchtete. Das religiöse Establishment veröffentlichte ein Rechtsgutachten (Fatwa), das die Stationierung von US-Truppen im Königreich zuließ.

 

Die Rechtfertigung dieser kontroversen Entscheidungen war so wichtig, weil die Familie Saud sich so der Unterstützung der großen konservativen Bevölkerungsteile versichern konnte – für die das Wort der Gelehrten Gesetz war. 1979 erwies sich jedoch als Wendepunkt, weil die jungen Moscheebesetzer gerade die religiöse Legitimität der Herrscherfamilie angegriffen hatten und viele Wahhabiten – einschließlich des damaligen führenden Gelehrten und späteren Großmuftis Abd Al-Aziz Ibn Baz – Sympathien für ihre Forderungen nach einer stärker wahhabitisch geprägten Politik gezeigt hatten.

 

Immer deutlicher wurde die Diskrepanz zwischen der radikalen Lehre der Wahhabiten und dem Pragmatismus ihrer wichtigsten religiösen Vertreter. Deutlich wurde dies vor allem in den 1990er-Jahren, als wahhabitisches Gedankengut zu einer beispiellosen Eskalation der Gewalt durch dschihadistische Gruppen beitrug, sodass der Druck auf die Familie Saud stieg, ihr Bündnis mit den Wahhabiten zu überdenken.

 

Schon in den 1980er-Jahren entstand die islamistische Oppositionsbewegung, Al-Sahwa al-Islamiya oder »das Islamische Erwachen«, die den sozialen und religiösen Konservatismus der Wahhabiten mit der revolutionären Politikorientierung der Muslimbruderschaft verband. Die Vordenker dieser Strömung wehrten sich ab 1990 gegen die Präsenz der US-Truppen im Land und wandten sich gegen den Pragmatismus der wahhabitischen Kleriker. Junge Sahwa-Kleriker wie Salman Al-Auda und Safar Al-Hawali hatten großen Einfluss auf Osama Bin Laden, der sein Heimatland Saudi-Arabien verließ und im Exil Al-Qaida gründete. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 hatte die saudi-arabische Führung große Probleme zu erklären, warum so viele Saudis – nämlich 15 von 19 – unter den Attentätern waren und wieso Saudis eines der größten Kontingente in der Organisation stellten.

 

Noch deutlicher wurde das Problem nach dem Aufstieg des »Islamischen Staates« (IS) ab 2013, denn diese Organisation ist noch viel stärker von wahhabitischem Gedankengut beeinflusst als Al-Qaida – was man schon daran ablesen kann, dass der IS zahlreiche Bücher Muhammad Ibn Abd Al-Wahhabs neu auflegte und zur Pflichtlektüre für seine Anhänger machte. Dass die saudische Politik lange nicht auf diese alarmierende Beobachtung reagierte, dürfte vor allem damit zu tun haben, dass in Riad seit den 1990er-Jahren eine Riege alter Männer herrschte, die physisch und mental immer weniger in der Lage waren, das Königreich in unruhigen Zeiten zu führen. König Abdallah war bei seiner Thronbesteigung 2005 bereits 80 Jahre alt.

 

MBS setzt auf einen neuen, durchgreifenden Autoritarismus, der nach dem Vorbild der Vereinigten Arabischen Emirate

 

Die Situation änderte sich erst mit der (De-facto-)Machtübernahme des jungen Kronprinzen Muhammad Bin Salman, der seit 2017 als starker Mann des Landes gilt und die Politik dominiert. Sein Ziel ist es offenbar, als großer Reformer in die saudische Geschichte einzugehen, und es gibt zahlreiche Hinweise dafür, dass ihm das gelingen könnte. Es geht ihm in erster Linie darum, die Wirtschaft des Königreichs für die Zeit nach dem Erdöl umzubauen, doch hat er zu diesem Zweck auch soziale und kulturelle Veränderungen angestoßen. Die laufen wahhabitischen Vorstellungen teils diametral entgegen. Etwa dass die einst strikte Trennung der Geschlechter aufgehoben wurde und Frauen in immer mehr Berufen zu finden sind, in denen sie in Kontakt mit Angehörigen des anderen Geschlechts kommen.

 

Zunächst war nicht genau zu erkennen, ob MBS sich auch gegen die wahhabitischen Gelehrten wenden würde. 2017 wurden vielmehr Sahwa-Gelehrte wie der einflussreiche Salman Al-Auda, Anhänger der Muslimbruderschaft und Intellektuelle unterschiedlicher Ausrichtung aus dem Verkehr gezogen. Ein Hinweis auf eine weitergehende Agenda des Kronprinzen war, dass er die Aktivitäten der von vielen Saudis gefürchteten Religionspolizei unterband und in Interviews immer wieder darauf hinwies, dass er die konservative Wende – die die Regierung nach der Besetzung der Moschee 1979 angestoßen hatte – rückgängig machen werde.

 

Mittlerweile mehren sich die Hinweise, dass er den Einfluss der Wahhabiten weiter einschränken will. Die Tilgung Muhammad Ibn Abd Al-Wahhabs aus der regierungsamtlichen Erinnerungskultur des Königreichs ist der vielleicht stärkste überhaupt. MBS setzt auf einen neuen, durchgreifenden Autoritarismus, der nach dem Vorbild der Vereinigten Arabischen Emirate auf eine sehr viel weitgehendere Überwachung setzt und auch leicht abweichende politische Meinungsäußerungen der Saudis hart bestraft. Gleichzeitig verliert die religiöse Dimension der Unterdrückung an Bedeutung, die bisher vor allem Minderheiten wie Schiiten und Ismailiten traf.

 

Noch ist unklar, wie weit MBS in seiner Konfrontation gegen die Wahhabiten gehen will. Bisher ist er nicht direkt gegen die Position der Gelehrten in der religiösen Sphäre vorgegangen. Doch auch wenn MBS deren religiösen Einfluss künftig dulden wird, zeigen seine bisherigen Maßnahmen, dass er sie aus Politik, Justiz und Erziehung verdrängen will.

 

Gelingt ihm dies, würde das religiöse Establishment zu einem ähnlich schwachen und oft auch marginalen Akteur wie in anderen arabischen Staaten und MBS zum Begründer eines neuen, des vierten saudischen Staates. Neben dem großen Religionsreformer Muhammad Ibn Abd Al-Wahhab und dem Staatsgründer Abd Al-Aziz Ibn Saud würde er zur dritten beherrschenden Gestalt in der Geschichte des Landes.


Dr. Guido Steinberg ist Islamwissenschaftler und forscht bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin u. a. zum Nahen Osten, politischen Islam und islamistischen Terrorismus.

Von: 
Guido Steinberg

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.