Äthiopien wähnte sich auf dem Weg zur regionalen Führungsmacht mit stabilen Verhältnissen – und stand im Frühjahr doch kurz vor dem Polit-Kollaps. Auf den Schultern des Neu-Premiers Abiy Ahmed lasten nun die Hoffnungen einer ganzen Generation.
Die Rede ist fulminant. Abiy Ahmed, 41 Jahre, verheiratet, drei Töchter, spricht bei seiner Amtseinführung als äthiopischer Premier über die Größe und die Einheit des Landes. Vor dem Parlament und geladenen Gästen, darunter auch die Opposition, betont er die Rolle der Frauen und bedankt sich bei seiner verstorbenen Mutter und seiner Frau für ihre Unterstützung. Frieden, Gerechtigkeit und Demokratie: Das sind die Schlagworte, die am häufigsten in seiner Rede auftauchen.
Das Wort Revolution fällt indes kein einziges Mal. Dabei steht Abiy Ahmed hier am Podium als neu gewählter Vorsitzender einer Partei, die die Revolution im Namen führt: »Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker« (EPRDF). Und Revolutionen begleiten ihn schon sein ganzes Leben: Schon als Abiy 1976 in der Nähe von Jimma in der Region Oromia als Sohn einer Christin die Welt erblickt, gibt ihm sein muslimischer Vater den Spitznamen Abiyot (»Revolution«). Ein Wortspiel mit seinem eigentlichen Namen Abiy (»der Große«) und eine Anspielung auf den Militärputsch des Derg, der kommunistischen Junta, die 1974 Kaiser Haile Selassie aus dem Amt gefegt hatte.
Die nächste Revolution erlebt Abiy mit 15 Jahren: Nach langem Krieg besiegen 1991 die »Volksbefreiungsfront von Tigray« (TPLF) und die »Eritreische Volksbefreiungsfront« (EPLF) die kommunistische Militärdiktatur. Angeblich unterstützt der junge Abiy diesen Kampf auf Seiten einer oromischen Befreiungsbewegung. Anschließend geht er zum Militär, beginnt eine Laufbahn als Offizier und studiert Informatik.
Ist er das Produkt einer Revolution, hat er sie angeführt oder ist er nur ihr Ergebnis? Ist er schon das Neue oder nur der Übergang dorthin? Fest steht: Abiy ist innerhalb eines Systems aufgestiegen, das sein charismatischer Vorvorgänger Meles Zenawi seit 1991 bis zu seinem Tode 2012 aufgebaut hat. Dessen Kennzeichen: autokratisch-sozialistisch; politische, militärische und wirtschaftliche Vor- oder Schattenherrschaft einer Machtelite aus dem Bundesland Tigray; zweistelliges Wirtschaftswachstum – vor allem dank chinesischer Kredite; großes Wohlwollen der USA trotz Menschenrechtsverletzungen und massiver Unterdrückung.
Doch während 2005 die einzigen offenen Wahlen in der Geschichte Äthiopiens Meles‘ »Revolutionäre Demokratie« einkassieren, macht Abiy einen Abschluss in Kryptographie. 2007 ist er bei der Gründung der Internet-Kontrollstelle INSA dabei. Von 2008 bis 2010 ist er sogar Direktor der Behörde, die Andersdenkende im In- und Ausland ausspäht und bei Bedarf soziale Medien oder das Internet ausschaltet.
Für sein heutiges Ansehen viel wichtiger ist jedoch, dass Abiy 2010 nach einem blutigen Konflikt zwischen Muslimen und Christen in seine Heimatregion Jimma geschickt wird und mit einem positiven Verhandlungsergebnis zurückkehrt. Hätte Abiy nur diese Karriere in der Provinz weiterverfolgt, wäre er heute nicht Ministerpräsident. Doch sein Rückzug in den Bundesstaat Oromia als Chef des Büros für Land- und Wohnraumplanung fällt in eine Zeit eines erstarkenden Selbstbewusstseins der Oromo. Sie stellen mit rund 35 Prozent die Bevölkerungsmehrheit in Äthiopien – politisch fand dies in keiner Phase der langen staatlichen Geschichte Äthiopiens adäquate Berücksichtigung.
Innerhalb des 1995 eingeführten ethnischen Föderalismus spielte stets die TPLF die erste Geige – obwohl die Partei aus Tigray nur etwa sechs Prozent der Gesamtbevölkerung repräsentiert. Die oromische Jugend wollte dies nicht länger hinnehmen. Gegen die Ausdehnung der Hauptstadt Addis Abeba, den der Bundesstaat Oromia umschließt, geht sie seit 2015 auf die Straße, reißt junge Menschen in anderen Landesteilen mit und löst so die derzeitige Staatkrise aus. Als Ministerpräsident Hailemariam Desalegn Mitte Februar etwas überraschend zurücktritt und zum zweiten Mal der Ausnahmezustand erklärt wird, ist die Chance gekommen für den ersten oromischen Premier in der neueren Geschichte Äthiopiens: Abiy nutzt den Rückenwind der Straße und die Schwäche der TPLF in der Regierungskoalition und wird mit Unterstützung der Partei aus Ahmara, die die zweitgrößte Volksgruppe vertritt, neuer Ministerpräsident.
Damit ist er nicht nur Premier, sondern als EPRDF-Parteichef oberster Revolutionsführer. In seiner Antrittsrede erhob er das traditionelle Selbstverwaltungssystem der Oromo, unter dem Namen »Gada« bekannt, zum Vorbild einer spezifisch äthiopischen Demokratie. Ebenfalls auf der Agenda: Aussöhnung mit Eritrea, Kampf gegen die Korruption, Zusammenarbeit mit Menschenrechtsgruppen und Oppositionsparteien, Förderung von freier Presse, die wichtige Rolle und die Erwartungen der Jugend, die Rolle der Frau sowie eine Einladung an die äthiopische Diaspora, sich am Aufbau von Staat und Gesellschaft zu beteiligen.
Klein geht anders. Doch wieviel wird Abiy durchsetzen können? Sein Vorgänger trat mit dem Makel ab, eine Marionette des Militärs und der Geheimdienste und vor allem der Partei-Oligarchen aus Tigray gewesen zu sein. Im Bündnis mit der protestierenden Jugend könnte der Neue aber bereits heute zu mächtig sein dafür. Abiy heißt ja schließlich »der Große«.
Alexander Bestle ist Journalist und seit zehn Jahren in der kommunalen Entwicklungszusammenarbeit tätig (www.vaterstetten-alemkatema.de).