Drogenhandel, Waffenschmuggel, Auftragsmorde: Die wichtigsten türkischen Mafiabosse pflegen enge Kontakte in die Politik und erschließen sich neue Geschäftsfelder.
Die letzten 16 Jahre verbrachte der Mafiaboss Alaattin Çakıcı in unterschiedlichen türkischen Hochsicherheitsgefängnissen. Dort errichtete er stets seine eigene Parallelherrschaft – immer wieder ließ er Wächter verprügeln; angezeigt wurde er deshalb nie. Stattdessen genoss er eine ausgedehnte Besuchszeit von elf Stunden pro Tag.
Doch Mitte April 2020 wurde Çakıcı aus dem Sincan-Gefängnis in Ankara entlassen – im Zuge der Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie befreite die Türkei Zehntausende aus ihren überfüllten Gefängnissen. Während Journalisten, Oppositionspolitiker, Intellektuelle oder Künstler explizit nicht in den Genuss dieser Amnestie kamen, entließ die türkische Justiz damit nicht nur einen mehrfach verurteilten Schwerkriminellen, sondern auch eine der wichtigsten Figuren der türkischen Unterwelt.
Die im Volksmund mafya genannten kriminellen Netzwerke sind aus der türkischen Politik, Gesellschaft und Wirtschaft nicht wegzudenken. Die Geschichte der organisierten Kriminalität in der Türkei reicht bis ins Osmanische Reich zurück. Die kabadayı (»Rüpel, Schurken«) waren stadtbekannte Verbrecher, oftmals Klein- oder Gelegenheitskriminelle, hielten sich an einen gewissen Ehrenkodex und waren fester Bestandteil der Gesellschaft.
Sie spielten eine bedeutende Rolle bei der Organisation von Mobs und wurden von politischen Eliten immer wieder instrumentalisiert – beispielsweise im Zuge der Unruhen gegen die Griechen im Jahr 1955.
Im Rahmen solcher krimineller Netzwerke florierte der Drogenhandel. Bis zum Zweiten Weltkrieg wurde in der Türkei vor allem Opium produziert – in ländlichen Regionen noch bis in die 1970er Jahre. Ein von den USA verlangtes Anbauverbot in den kurdischen Provinzen trug allerdings maßgeblich zur Verarmung und Verbitterung der Opiumbauern bei und erleichterte die Aktivitäten linksradikaler bewaffneter Gruppen in der Region.
Seit dem Zweiten Weltkrieg sind für den Großraum Istanbul allerdings auch die Produktion und der Schmuggel von Heroin nachgewiesen. Türkisches Heroin fand über armenische und griechische Verbindungen zur korsischen Mafia seinen Weg über Marseille in die USA (die »French Connection«, die auch Pate für den gleichnamigen Hollywood-Thriller von 1971 stand).
Nach Ausschreitungen gegen die christlichen Minderheiten in den 1950er Jahren kamen Produktion und internationaler Heroinhandel in türkische Hände – besser gesagt, in die Hände türkischsprachiger Muslime: Bis heute sind Volksgruppen wie Albaner, islamisierte Georgier vom Schwarzen Meer, Lasen, Kurden und Araber prominent im Untergrund vertreten.
Die heutige türkische Mafia entstand in den politisch heißen 1970er Jahren und erlebte ihre Blüte von Mitte der 1980er bis Ende der 1990er Jahre, als Alaattin Çakıcı verhaftet wurde. In den letzten zwei Jahrzehnten entstand eine neue Mafia, als deren wichtigster Vertreter Sedat Peker gilt – oder galt, wie sich noch zeigen wird.
Die Beziehungen der türkischen Mafiaclans zur Politik und dem Geheimdienstmilieu sind gut dokumentiert. In der Regel unterstützten sie konservative Parteien oder die faschistische »Partei der Nationalistischen Bewegung« (MHP). Einige Mafiabosse standen jedoch auch der politischen Linken nahe, wie der aus dem kurdischen Lice stammenden Behçet »Beco« Cantürk.
Der Sohn eines Kurden und dessen armenischer Zweitfrau war seit frühester Jugend mit seiner Familie im Drogenschmuggel aktiv, baute aber rasch auch florierende Bau- und Transportunternehmen auf. Er unterstützte die »Revolutionären Kulturvereine des Ostens«, ob er später tatsächlich Mitglied der »Arbeiterpartei Kurdistans« (PKK) war, wie oft behauptet wird, darf angezweifelt werden – dass er wie die meisten kurdischen Geschäftsleute die »Revolutionssteuer« der Organisation bezahlte, kann mit Sicherheit angenommen werden.
Cantürk nahm Mitte der 1970er Jahre Kontakt mit seiner armenischen Verwandtschaft in Nordsyrien auf. Die war nicht nur ebenfalls im Schmuggel aktiv, sondern unterhielt zudem Kontakte zur Terrororganisation »Armenische Geheimarmee zur Befreiung Armeniens« (ASALA), die für zahlreiche Attentate auf türkische Diplomaten verantwortlich zeichnete.
Mitte der 1970er Jahre stieg er in den Waffenhandel ein und belieferte als Geschäftsmann linke wie rechte Gruppen gleichermaßen. Die illegalen Waffen für die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen kamen überwiegend aus Bulgarien. Obwohl Cantürk mehrfach verhaftet wurde, expandierte sein Drogenimperium – er stieg zum geschätzten Geschäftspartner europäischer, vor allem italienischer Familien auf.
1994 wurde er gemeinsam mit seinem Chauffeur entführt und ermordet. Vorher hatte ihn Hüseyin Baybaşin gewarnt, dass er auf einer geheimen Todesliste stehe, gemeinsam mit weiteren kurdischen Geschäftsleuten und Drogenhändlern. Jahre später bestätigte sich der Verdacht, dass türkische Sicherheitskräfte den Mord verübten.
Hüseyin Baybaşin stammt ebenfalls aus Lice und verbüßt seit 1998 wegen mehrfachen Mordes und Drogenhandels eine lebenslange Haftstrafe in den Niederlanden. Baybaşin erklärt seinen Werdegang damit, dass ihm bereits als Jugendlichem, unmittelbar nachdem er die Mittelschule absolvierte hatte, vom Studium abgeraten wurde – im Drogengeschäft könne er mehr Geld machen. 1976 wurde er erstmals in Istanbul mit elf Kilogramm Heroin erwischt, 1984 mit vier Kilogramm Heroin in England, weshalb er dort zu zwölf Jahren Haft verurteilt wurde.
Nach drei Jahren wurde er jedoch entlassen und in die Türkei zurückgeschickt, wo man ihn auf freien Fuß setzte. 1992 versuchten türkische Sicherheitskräfte, den Frachter Kismetim-1 im Mittelmeer abzufangen, weil er mutmaßlich 3.000 Kilogramm Morphinbase für Baybaşin nach Europa transportieren sollte. Doch die Besatzung versenkte ihr eigenes Schiff noch rechtzeitig.
1994 ging Baybaşin nach London, wenig später ließ er sich jedoch in Amsterdam nieder. 2014 schrieb die Tageszeitung Milliyet unter Berufung auf Zeugenaussagen vor Gericht, dass der damalige Polizeidirektor Mehmet Ağar 1995 in die Niederlande reiste und Baybaşin die ominöse Schwarze Liste der zu tötenden PKK-Sympathisanten zeigte. Im Gegenzug verlangte er vom Mafiaboss, den »Idealisten« (ülkücüler, also den »Grauen Wölfen«) den Zugang zum Drogenhandel in Europa zu erleichtern.
Um diese Zeit galt der Baybaşin-Clan bereits als größter Heroinlieferant Europas und Hüseyin Baybaşin als Europas Pablo Escobar – die Drogeneinkünfte des Clans wurden 1998 auf 16–45 Milliarden US-Dollar geschätzt. Das Vermögen legte das Kartell gewinnbringend in der Tourismusindustrie an, vor allem in Hotels in verschiedenen Mittelmeerländern und in Großbritannien.
Seit einigen Jahren versuchen seine Unterstützer, ihn und den gesamten Clan als kurdische Aktivisten darzustellen und seine Entlassung zu erwirken. Cantürk und Baybaşin gelten als linke Drogenhändler. Vor allem Cantürks Fall gilt vielen Kritikern als Beweis dafür, dass linke Untergrundorganisationen wie die PKK ins Drogengeschäft verwickelt sind. Im Falle der TKP/ML, einer maoistischen Gruppe, führte ein Streit über Drogengelder 1993 sogar zu einer ihrer vielen internen Spaltungen.
Weder links noch rechts, sondern in der Mitte des politischen Spektrums stand die schillerndste Figur der türkischen Unterwelt: Mehmet Nabi İnciler, genannt İnci Baba, aus Urfa. Den Kern seiner Unternehmen bildeten Baugewerbe, Scheckbetrug und Drogenhandel. Er kannte MHP-Gründer Alparslan Türkeş sowie Polit-Schwergewicht Süleyman Demirel persönlich, verkehrte aber auch mit linksorientierten Künstlern wie Yılmaz Güney.
Er gerierte sich als Mäzen und Filmliebhaber, was nicht immer auf Gegenseitigkeit beruhte: Als die Schauspielerin Filiz Akın 1979 seine Avancen abwies, ließ er ein Messerattentat auf sie verüben, das sie mit Stichwunden im Gesäß überlebte. İnci Baba besaß zwei Leoparden, die er als Fan der amerikanischen Fernsehserie »Dallas« »Ceyar« (nach J.R. Ewing) und »Sue Allen« nannte. Die Raubkatzen dienten unter anderem säumigen Schuldnern als Motivation, ihre Verbindlichkeiten zu begleichen.
Besonders bedeutend war sein enges Verhältnis zu Süleyman Demirel. Den siebenmaligen türkischen Ministerpräsidenten und ehemaligen Staatspräsidenten kannte er seit 1971. Demirel bekannte sich nicht nur in aller Öffentlichkeit zu İnci Baba, er lud ihn auch zu offiziellen Empfängen ein und nahm ihn auf Auslandsreisen mit. Inspiriert von der protokollarischen Kranzniederlegung Demirels in Washington, nutzte İnci Baba die Gelegenheit für einen spontanen Ausflug nach Chicago, um am Grab von Al Capone ebenfalls einen Kranz niederzulegen. Sein gewaltsamer Tod im Dezember 1993 dürfte auf einen Streit zwischen seinem Neffen und seinem Leibwächter zurückgehen, in dessen Zug sich ein Schuss löste.
In der Regel steht die türkische Unterwelt jedoch weit rechts, was selbst auf die meisten kurdischen Gruppen zutrifft. Einen besonderen Stellenwert nehmen rechtsextreme Banden ein, die bei der Jugendbewegung der MHP, den sogenannten Grauen Wölfen, sozialisiert wurden und mit dem türkischen Geheimdienst direkt oder indirekt kooperierten.
Die Gemengelage aus Geheimdienstmilieu, organisiertem Verbrechen und Politik wird in der Türkei der »tiefe Staat« genannt. Die Debatte um den »tiefen Staat«, dessen Funktionsweise und Hauptakteure auch außerhalb der Türkei in einschlägigen Kreisen bekannt gewesen sein müssen, erreichte nach dem Susurluk-Skandal 1996 auch in der Türkei eine breite Öffentlichkeit.
Damals starben bei einem Autounfall in der Nähe der Kleinstadt Susurluk der international gesuchte Mafiaboss Aptullah Çatlı, seine damalige Geliebte, die Schönheitskönigin Gonca Us, und der stellvertretende Polizeipräsident von Istanbul. Einzig der kurdische Stammesführer und konservative Abgeordnete Sedat Edip Bucak überlebte. Er hatte seine Milizionäre aus freien Stücken für den Kampf gegen die PKK abgestellt. Çatlı war Auftragsmörder, Mitglied der Grauen Wölfe und Drogenhändler und als solcher auch in das Attentat auf Papst Johannes Paul II. im Jahr 1981 involviert.
Aufsehenerregende Anschläge wie das Papstattentat sind jedoch eher untypisch für die türkische Mafia. Neben Revierkämpfen im Milieu zeichnen rechte Clans im Auftrag der türkischen Sicherheitsbehörden vor allem für Anschläge und Einschüchterungen gegen linke, kurdische und armenische Aktivisten und Terrorgruppen im In- und Ausland verantwortlich.
In dieses Milieu gehören auch Alaattin Çakıcı und sein Schwiegervater, Dündar Kılıç, der eigentlich Dündar Alikılıç hieß. Geboren wurde er 1935 in Sürmene in der Provinz Trabzon. Als er neun Jahre alt war, zog seine Familie nach Ankara, ein Jahr später bekam er seine erste Pistole, womit seine kriminelle Karriere begann – mit 14 wurde Kılıç erstmals verhaftet.
Als er 1960, elf Jahre später, erneut festgenommen wurde, galt er bereits als führender Gangsterboss Ankaras. Er genoss den Ruf eines gutherzigen Mafiosos, weil er Schutzgeld von anderen Kriminellen verlangte und bedürftige Familien unterstütze – unter anderem soll er 10.000 Stipendien an Studenten aus ärmlichen Verhältnissen vergeben haben. Daneben war Kılıç in der Glückspielbranche tätig. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis ging er 1965 nach Istanbul, wo er in den Drogen- und Waffenhandel einstieg und eine Reihe von Morden beging.
Sein Charisma, seine Durchsetzungskraft und seine mutmaßlich guten Beziehungen zu mächtigen Personen im Staatsapparat verschafften ihm einen ausgezeichneten Ruf in der Unterwelt. In den 1980er Jahren galt er bereits als babalar babası, Pate der Paten. 1984 wurde er im Rahmen einer groß angelegten Polizeiaktion verhaftet und mit anderen Drogen- und Waffenhändlern wie Behçet Cantürk verurteilt, konnte aber seine Geschäfte ohne Probleme aus dem Gefängnis heraus fortsetzen.
Noch vor dem Tod von Kılıç im Jahr 1999 hatte Alaattin Çakıcı seinem Schwiegervater die Rolle des Bosses der Bosse streitig gemacht. Die Familie war tief in den Strukturen der MHP verwurzelt. Çakıcı verlor im Zuge der gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen linken und rechten Gruppen in den späten 1970er Jahren erst seinen Onkel und später den Vater, andere Familienangehörige wurden in Schießereien verwundet.
1980 wurde er wie die meisten militanten Anhänger politischer Gruppen verhaftet, ihm wurde vorgeworfen, in 41 politische Morde verwickelt gewesen zu sein. 1982 wurde er aus Mangel an Beweisen freigelassen.
Unmittelbar nach seiner Entlassung wurde Çakıcı vom türkischen Geheimdienst MİT für den Kampf gegen die armenische Terrororganisation ASALA angeworben und war in dieser Funktion in Griechenland und im Libanon aktiv.
1991 war er endgültig in der High Society angekommen, ein handgreiflicher Streit mit einem Konkurrenten wurde durch die Intervention des anwesenden Premierministers Turgut Özal und renommierter Geschäftsleute beigelegt. 1995 ließ er seine in zweiter Ehe angetraute und mittlerweile wieder geschiedene Gattin, Nuriye Uğur Kılıç, die Tochter von Dündar Kılıç, vor den Augen ihres aus erster Ehe stammenden Sohnes ermorden – und zwar genau an dessen 13. Geburtstag.
Çakıcı wurde verurteilt, konnte jedoch ins Ausland fliehen. 1998 wurde er im französischen Nizza verhaftet und an die Türkei ausgeliefert. 2002 wurde er freigesprochen, nur um zwei Jahre später wieder verurteilt zu werden, da er im Jahr 2000 vom Gefängnis aus einen Anschlag auf den Istanbuler Drittligisten Fatih Karagümrük SK verüben ließ.
Der neuerlichen Verhaftung entzog er sich 2004 durch Flucht zunächst nach Frankreich. Als er seinem Sohn, der in Graz studierte, einen Besuch abstattete, wurde er dank eines Tipps der türkischen Behörden verhaftet und erneut ausgeliefert. Vor Gericht gestellt, berief er sich gerne auf seine Verdienste für das Vaterland: »Ich bin ein Krimineller, aber ich bin kein Vaterlandsverräter«. Einen mittleren Skandal löste 2007 der ehemalige Leiter für Auslandsoperationen des Geheimdienstes MİT, Nuri Gündeş, aus, als er sich während einer Fernsehdiskussion über den »tiefen Staat« überschwänglich für Çakıcıs Verdienste bedankte.
In der Haft genoss Çakıcı weiterhin die volle Unterstützung der MHP. Während eines Krankenhausaufenthalts im Jahr 2008 besuchte ihn Parteichef Devlet Bahçeli. Verärgert über die Balkonrede Erdoğans nach den Wahlen im Juni 2018, in der der Präsident den Koalitionspartner und Parteiführer Bahçeli mit keinem Wort erwähnte, richtete Çakıcı eine Drohung an den »Reis«: »Du bist nicht der Herr des Staates. Vergiss nicht, du bist nur ein Reisender, und die Idealisten (Graue Wölfe, d. Red.) und die türkischen Nationalisten und alle Patrioten, egal welcher Volksgruppe sie angehören, sind die Betreiber der Herberge.«
Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist nicht bekannt dafür, Beleidigungen einfach auf sich sitzen zu lassen. Die Freilassung Çakıcıs im April 2020 ist daher als Stärkung des ultranationalistischen Koalitionspartners MHP zu verstehen.
Als versierter Politiker hat sich Erdoğan jedoch ebenfalls mit Gruppen vernetzt, die Zugang zur organisierten Kriminalität haben. So versicherte er sich der Unterstützung der Osmanlı Ocakları (»Osmanische Herde«). Diese Anfang der 2000er Jahre entstandene Gruppe ähnelt in Organisationsform und Anhängerschaft den Grauen Wölfen, führt aber den politischen Diskurs deutlich islamischer und sieht sich vor allem Erdoğan gegenüber verpflichtet.
Die Osmanlı Ocakları betonen das osmanische Erbe und sind eifrige Verfechter des Neo-Osmanismus-Kitsches in Politik und Kultur. Unterstützer der Gruppe ist unter anderem einer der wichtigsten Vertreter der jüngeren Mafiageneration: Sedat Peker.
Sedat Peker, geboren 1971, dessen Familie ebenfalls vom Schwarzen Meer stammte, sich aber in Sakarya niedergelassen hatte, wuchs in München auf und kehrte in den 1990er Jahren in die Türkei zurück, wo er 1997 wegen Mordes an einem Schmuggler verurteilt wurde. Er entzog sich der Haft nach Rumänien und kehrte nach Vermittlung konservativer Politiker freiwillig in die Türkei zurück, wo er seine Haft antrat, aber 1998 vorzeitig entlassen wurde. Seine Karriere erinnert in Eckpunkten an die Çakıcıs, ob er allerdings tatsächlich dessen Geschäfte übernommen hat, ist mangels Quellenlage nicht nachvollziehbar. 2005 wurde Peker erneut verhaftet, kam wieder frei und heiratete sei- ne Anwältin noch im Gefängnis.
Nach dem Putschversuch im Jahr 2016 schwor er Erdoğan öffentlich die Treue. Er ist in den Medien ungemein präsent und äußert sich auf Twitter zu allen möglichen öffentlichen Angelegenheiten. Den Aufruf der »Akademiker für den Frieden« im Jahre 2016 beantwortete er beispielsweise mit dem Versprechen, deren »Blut fließen lassen und darin eine Dusche nehmen« zu wollen. Nach der Freilassung Çakıcıs war Peker der erste, der sich negativ äußerte. Er bezeichnete ihn als jemanden, dessen Zeit ab- gelaufen sei, und schickte noch eine Reihe deftiger Beleidigungen hinterher.
Heißt das nun, dass die MHP mit der Freilassung Çakıcıs eine Fehlinvestition getätigt hat, weil Erdoğan ohnehin den wichtigsten Vertreter der jüngeren Mafiageneration in seinem Lager stehen hat? Noch scheint die alte Garde, in diesem Fall Alaattin Çakıcı, jedenfalls nicht abgetreten zu sein: Ab der zweiten Jahreshälfte 2019 beleidigte und bedrohte Çakıcıs rechte Hand Peker in aller Öffentlichkeit via YouTube, unter anderem damit, dass »der Staat« sich Pekers annehmen würde – eine Anspielung auf den Zugriff der MHP auf Teile des Sicherheitsapparats. Daraufhin musste Peker das Land Richtung Balkan verlassen.
Die Auseinandersetzungen zwischen Peker und Çakıcı müssen als Verhandlungstaktik gesehen werden. Im April 2020 versöhnten sich die beiden, mit Çakici in der Rolle des Leitwolfs. Dadurch konnte ein Krieg im rechten Spektrum des Milieus abgewendet und der Übergang zur jüngeren Generation aufgeschoben werden.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist damit zu rechnen, dass Çakıcı und Peker ihre geschäftlichen und politisch-ideologischen Aktivitäten in Europa ausweiten, vermutlich zu Lasten des kurdischen Baybaşin-Clans. Vielleicht sogar mit erweitertem Geschäftsfeld. Denn vor dem Hintergrund des neuerlichen Interesses der türkischen Heroinmafia am Kokain könnte die türkische Präsenz in Libyen neue Bedeutung erlangen: Das Land ist Endpunkt der südamerikanisch-westafrikanischen Kokainroute nach Europa.
Dr. Walter Posch hat Islamwissenschaft, Iranistik und Turkologie studiert. Momentan forscht er am Institut für Friedenssicherung und Konfliktmanagement der Landesverteidigungsakademie in Wien.