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Politisches System und Reform im Libanon

So kann es im Libanon vorangehen

Analyse
Reformen im Libanon
Blick vom Beiruter Hafen Richtung Innenstadt, wenige Tage nach der verheerenden Explosion am 4. August 2020. Foto: Sina Schweikle

Die Reformbemühungen im Libanon stecken in der Sackgasse. Wie es gelingen kann, das überholte System zu verändern.

Der Libanon wird gerne als positives Beispiel herangezogen, um zu beschreiben, wie ein auf Religionszugehörigkeit beruhendes System der Machtteilung einen Bürgerkrieg friedlich beenden konnte. Doch entgegen der Annahme, dass das Friedensabkommen von Taif den Libanesischen Bürgerkrieg (1975–89) dauerhaft befrieden konnte, sind die religiösen Auseinandersetzungen in Wirklichkeit im Land weiterhin präsent.

 

Obwohl der Friedensmechanismus, den das Abkommen von Taif 1989 nach 14 Jahren Bürgerkrieg in Gang gesetzt hat, eine große Errungenschaft für den Libanon war, hat das konfessionalistische System rückblickend den Konflikt nur eingefroren, anstatt ihn zu transformieren. Damit befindet sich der Libanon über 30 Jahre nach dem Kriegsende nicht in einem Post-Konflikt-Prozess, sondern in einem andauernden, schwelenden und unterdrückten Konflikt.

 

War die Religionszugehörigkeit im Libanesischen Bürgerkrieg ein wichtiger Konfliktpunkt, stellt dieser bis heute einen zentralen Bestimmungsfaktor bei der Verteilung von Macht in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft dar. Nach dem Bürgerkrieg etablierte sich ein religionsbasierter Mechanismus für die Machtaufteilung. Die Sitzverteilung im Parlament und die Zuteilung wichtiger Staatsämter beruht auf einem Proporzsystem, das sich an der demographischen Größe der Religionsgemeinschaften orientiert.

 

Dies führt allerdings dazu, dass die Ministerien und Institutionen häufig von nur einer Konfessionsgruppe kontrolliert werden. Umgekehrt treten die Bewohner des Landes den Behörden nicht als gleichberechtigte Staatsbürger, sondern als Mitglieder bestimmter Gemeinschaften gegenüber.

 

Zweifelsohne wurde durch die politische Balance der Religionsgemeinschaften ein einigermaßen friedliches Zusammenleben nach dem Bürgerkrieg gefördert. Doch heutzutage reduziert die Machtverteilung auf Basis religiöser Zugehörigkeiten nicht nur die politische Handlungsfähigkeit des Staates, sondern segregiert auch seine Gemeinschaften, anstatt eine Nation mit einer vereinten staatsbürgerlichen Identität zu schaffen.

 

Angetrieben durch Vetternwirtschaft und Korruption hat der Libanon fast 90 Milliarden US-Dollar an Staatsschulden angehäuft.

 

Darüber hinaus teilen die einstigen Kriegsherren bis heute die Macht im Staat so untereinander auf, dass jeweils nur ihre eigene Klientel profitiert, was die Segregation der Gesellschaft entlang religiöser Grenzlinien verstärkt. Lukrative Aufträge der öffentlichen Hand gehen meist an Privatunternehmen, die mit der politischen Elite eng verbunden sind. So werden Arbeitsplätze primär für die eigene Klientel und für den eigenen Wahlkreis geschaffen.

 

Millionen an Steuergeldern, zum Beispiel für Infrastrukturprojekte, fließen durch Vetternwirtschaft in private Taschen. Folglich existiert eine enge Verbindung zwischen der konfessionalistischen Vetternwirtschaft und der Machtaufteilung nach dem Proporz.

 

Die libanesische Politik ist seit dem Abkommen von Taif geprägt von konfessionellen Grabenkämpfen. Auch deswegen ist der Staat nicht in der Lage, seinen Bürgern grundlegende Dienstleistungen zu gewährleisten. Angetrieben durch Vetternwirtschaft und Korruption hat der Libanon fast 90 Milliarden US-Dollar an Staatsschulden angehäuft.

 

Schon am 3. September 2019 hatte die damals amtierende Regierung von Saad Hariri den Wirtschaftsnotstand ausgerufen. Aufgrund der Staatskrise formierte sich eine landesweite Protestbewegung, die bis heute anhält. Ein Novum für den Libanon ist, dass sich diese zivilgesellschaftliche Bewegung partei- und konfessionsübergreifend manifestiert.

 

Ihre Hauptforderungen sind: die Absetzung der gesamten politischen Klasse, die Bildung einer Technokraten-Regierung aus unabhängigen Repräsentanten und die Abschaffung des Taif-Systems. Gerade die Überkonfessionalität der Protestbewegung ist ein Ausdruck dafür, dass das Staatssystem des Libanons überholt ist.

 

Die Dominanz der Hizbullah im Libanon ist der Hauptgrund dafür, dass internationale Geber bis dato nicht bereit sind, einen Zusammenbruch des Landes durch Budgethilfen zu verhindern.

 

Seit langer Zeit vereint die Bewegung das Gefühl, den Staat fernab von den für sie mittlerweile überdrüssig gewordenen Parteien und Milizen zivilgesellschaftlich gestalten zu können. Dabei richtet sich die Bewegung auch gegen die Hizbullah. Allerdings würde eine Systemänderung die Machtverhältnisse zu Ungunsten der schiitischen Partei verändern.

 

Die Dominanz der Hizbullah im Libanon ist gleichzeitig der Hauptgrund dafür, dass internationale Geber wie die USA und die EU bis dato nicht bereit sind, einen Zusammenbruch des Landes durch Budgethilfen zu verhindern – zumindest nicht ohne eine verlässliche Zusage zu grundlegenden wirtschaftlichen und politischen Reformen.

 

In Folge der Explosion im Beiruter Hafen am 4. August 2020 mit über 200 Toten und über 6.000 Verletzten war auch die Regierung von Hassan Diab zurückgetreten, nachdem jeder Versuch, die dringend benötigten Reformprozesse einzuleiten an der Blockadehaltung der etablierten Parteien gescheitert war. Auch sein designierter Nachfolger Mustafa Adib gab aufgrund konfessionalistischer Machtkämpfe bei der Regierungsneubildung im September diesen Jahres auf.

 

Beim jüngsten Versuch, eine neue Regierung zu bilden, ist nun der Ex-Premier Saad Hariri zum designierten Ministerpräsidenten benannt worden – und das nach seinem Rücktritt in Folge der landesweiten Proteste 2019. Seine Ernennung ist ein Schlag ins Gesicht der Protestbewegung, die ihn erst ein Jahr zuvor aus dem Amt gejagt hatte, weil er für sie ein Bestandteil der Machtelite darstellt, die für die Misswirtschaft und Korruption im Land verantwortlich ist.

 

Für die Protestbewegung steht Gebran Bassil wie kein anderer für den Klientelismus und die Vetternwirtschaft der politischen Elite.

 

Bei der Neubildung der Regierung lehnt insbesondere die Hizbullah eine unabhängige Technokraten-Regierung aufgrund ihrer Machtinteressen ab. Sie fordert stattdessen eine Garantie, ihre eigenen Minister weiterhin benennen zu können. Dabei beansprucht sie bislang das Portfolio des Finanzministeriums für sich, weil sie weiterhin die Kontrolle über die Finanzen im Land innehaben will, besonders nachdem die USA die Sanktionen auf die mit ihr verbundenen Funktionäre wie den Ex-Finanzminister Ali Hassan Khalil ausgeweitet hat.

 

Die US-Administration zielt mit der Erweiterung ihrer Sanktionen nicht mehr nur auf die von ihr als Terrororganisation eingestufte Hizbullah ab, sondern auch auf die mit ihr verbündeten Politiker. So wurde am 7. November der Ex-Außenminister und Anführer der christlichen »Freien Patriotischen Bewegung« (FPM) Gebran Bassil vom US-Finanzministerium auf dessen Sanktionsliste gesetzt. Noch kurz zuvor hatte er behauptet, dass eine gute Beziehung der FPM zur Hizbullah einer der zentralen Faktoren für eine Regierungsneubildung im Libanon sei.

 

Für die Protestbewegung steht Gebran Bassil wie kein anderer für den Klientelismus und die Vetternwirtschaft der politischen Elite, zumal er der Schwiegersohn des FPM-Begründers Michel Aoun ist. Da die zivilgesellschaftliche Bewegung Gebran Bassil auf der einen Seite vorwirft, den Konfessionalismus im Land wiederzubeleben, um daraus politisches Kapital schlagen zu können und ihn auf der anderen Seite wegen seiner politischen Allianz zur Hizbullah verurteilt, begrüßt sie die Sanktionen gegen ihn ausdrücklich.

 

Trotz der politischen Pattsituation birgt jede Krise auch eine Chance für Veränderung. Allerdings werden die bestehenden Konfliktlinien zwischen den Religionsgemeinschaften nur durch ein säkulares System dauerhaft zu entkräften sein. Schließlich hat das konfessionalistische System dazu beigetragen, dass bis heute kein politischer Transformationsprozess stattfindet.

 

Zu einem funktionierenden Staat gehört auch ein intaktes Sozial- und Gesundheitssystem.

 

Nicht einmal der festgelegte Proporz entspricht der realen Bevölkerungsverteilung: Während in den letzten Jahrzehnten ein starkes Bevölkerungswachstum aufgrund hoher Geburtenraten unter den Schiiten zu verzeichnen ist, besteht eine vergleichsweise hohe Emigrationsrate bei den christlichen Gemeinschaften. Eine Änderung des konfessionalistischen Systems ist also schon allein auf Basis der stark veränderten Demographie sinnvoll.

 

Dass Taif als Staatssystem nicht mehr zeitgemäß ist, zeigt sich an der berechtigten Forderung der Protestbewegung nach einem säkularen Staat. Aus diesem Grund ist es überfällig, die Machtverteilung im Staat von der Bindung an die Religionszugehörigkeit zu entkoppeln.

 

Dazu bedarf es einen umfassenden Transformationsprozess hin zu einem zivilgesellschaftlichen und säkularen Staat: Das bedeutet die Etablierung eines funktionierenden Staats, der nicht nur die Vielfalt der multireligiösen Bevölkerung des Libanons berücksichtigt, sondern auch den Bestrebungen seiner Zivilgesellschaft gerecht wird.

 

Zu einem funktionierenden Staat gehört auch ein intaktes Sozial- und Gesundheitssystem. Gegenwärtig existiert kaum eine soziale Absicherung außerhalb der eigenen Gemeinschaft. Gleichzeitig gibt es keine flächendeckende gesundheitliche Grundversorgung, was gerade in Zeiten der Pandemie mit steigenden COVID-19-Fallzahlen verheerend ist.

 

Ein intakter Staat würde substaatlichen Akteuren wie der Hizbullah die Möglichkeit entziehen, institutionelle Aufgaben an seiner Stelle zu übernehmen und somit auch ihren Aktionsradius schmälern die jeweilige Gemeinschaft durch strukturelle Abhängigkeit fest an sich zu binden.

 

Teile der Protestbewegung haben erklärt, in die politische Opposition gehen zu wollen – ein sinnvoller Schritt.

 

Folglich bedarf es eines grundlegenden Systemwandels, inklusive unabhängiger, funktionierender Kontrollinstanzen in den staatlichen Institutionen. Um einen solchen Systemwandel einzuleiten, benötigt es eine reformorientierte politische Führung. Hier könnte eine unabhängige Kommission zur Erarbeitung von Reformplänen eingesetzt werden, an welcher die Zivilgesellschaft beteiligt wird.

 

Mit der Protestbewegung sind unterschiedliche sogenannte Graswurzelbewegungen entstanden. Zwar mangelt es ihnen bis dato an organisatorischen und finanziellen Ressourcen, jedoch bieten sie durchaus Potential, den politischen Transformationsprozess voranzutreiben. Teile von ihnen haben vor kurzem erklärt, dass sie in die politische Opposition gehen wollen – ein sinnvoller Schritt, wenn sie nun auch in die politischen Prozesse auf Augenhöhe mit den bestehenden Parteien eingebunden werden.

 

Das Ziel des Transformationsprozesses sollte ein unabhängiges Kabinett mit verfassungsmäßigen Befugnissen sein. Dieses wäre dann in der Lage, mit der internationalen Gemeinschaft, dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank in Verhandlung zu treten und sich auf verlässliche Reformen zu einigen. Dieser Schritt könnte die Blockadehaltung der internationalen Geber durchbrechen, um dem Libanon die dringend benötigten Budgethilfen zu gewähren und das Land dauerhaft aus der Krise führen.

 

Hoffnung macht zuletzt, dass es um den Zusammenhalt der multireligiösen Gesellschaft nicht so schlecht bestellt ist, wie häufig medial dargestellt. Beispielsweise kamen nach der verheerenden Hafen-Explosion Anfang August diesen Jahres Hunderte Freiwillige aller Konfessionen in den zerstörten Vierteln Beiruts zusammen, wo sie den Verwundeten vor Ort Hilfe leisteten und später dabei halfen, die Schäden zu beseitigen.


Christoph Leonhardt ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität der Bundeswehr München und arbeitet seit 2018 an einem von der DFG geförderten Forschungsprojekt zu religiösen Hintergründen des Syrien-Konflikts.

Von: 
Christoph Leonhardt

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