In Reaktion auf Russlands Angriff auf die Ukraine stehen im Nahen Osten vermeintliche Gegner plötzlich auf derselben Seite. Vor allem aber wollen sich die arabischen Staatschefs ihre Haltung nicht vorschreiben lassen. Nur ein Land bezieht Stellung.
Ägypten: Alarmstufe Brot
Im März waren Lebensmittel so teuer wie seit 1974 nicht mehr – und kaum ein Land ist so abhängig von russischem und ukrainischem Weizen wie Ägypten. 80 Prozent aller dort importierten Waren stammen aus diesen beiden Ländern. Die Regierung in Kairo sah sich bei Preissteigerungen von 20 Prozent gezwungen, statt wie geplant Lebensmittel-Zuschüsse zu streichen, alle Bäckereien auf einen Fixpreis zu verpflichten. Der sowohl von Kiew als auch Moskau verhängte Exportstopp für Lebensmittel aus dem Kriegsgebiet betrifft aber nicht nur Getreide.
Auch russischer Dünger und ukrainisches Sonnenblumenöl wird nicht mehr geliefert. In Kairo wächst die Angst vor steigenden Lebensmittelpreisen und neuen Protesten – wankt das Sisi-Regime, hätte dies auch Signalwirkung für Moskau. War doch der Sturz von Hosni Mubarak im Arabischen Frühling ein wesentlicher Anreiz für Putin, die russische Präsenz im Nahen Osten auszubauen – und die Stabilität in Ägypten sein Argument, warum sich eine Partnerschaft mit Moskau lohnt.
Israelis und Palästinenser einig
Bei seiner virtuellen Rede vor der Knesset am 19. März erntete der ukrainische Präsident Wolodomyr Zelenskiy bei jüdischen und arabischen Zuhörern Unverständnis. Viele Israelis verbitten sich seinen Vergleich des Kriegs in der Ukraine mit dem Holocaust. Zelenskiys Bitte nach Lieferung des Raketenabwehrschirms Iron Dome stieß dann auch auf taube Ohren – obwohl Israel die Technologie 2021 bereits etwa an Aserbaidschan verkauft hat, einem Export also nicht grundsätzlich abgeneigt ist.
Die israelische Regierung scheint sich dabei vor allem um die guten Beziehungen zu Moskau zu sorgen – nicht zuletzt, weil fast eine Million Menschen mit Wurzeln in beiden Ländern in Israel leben. Tatsächlich reisten bereits zu Beginn der russischen Invasion Dutzende ukrainischstämmige Isra-elis zur Unterstützung Kiews an die Front – viele von ihnen mit militärischer Erfahrung in den israelischen Streitkräften (IDF). Zudem eröffnete am 22. März ein israelisches Feldlazarett in der Westukraine. Premier Naftali Bennet möchte als Vermittler agieren, doch dass Zelenskiy Jerusalem als möglichen Verhandlungsort vorschlägt, stört vor allem arabische Israelis und Palästinenser.
Sie werfen dem Westen Doppelmoral vor. Wo war denn bitte, so der Vorwurf, die Empathie mit dem Leid der Palästinenser bei den Kämpfen um Gaza? Eine Perspektive, die viele Menschen in der Region teilen. Unterbeleuchtet ist hingegen Israels energiepolitische Bedeutung im Konflikt: Als einziges Land hat es die Gasreserven im östlichen Mittelmeerraum bislang nutzbar gemacht – sollte Bennet vor allem mit der Türkei auf einen grünen Zweig kommen, böte sich Europa eine weitere Alternative zum russischen Erdgas.
Saudi-Arabien: Geben und Jemen
Solidaritätsbekundungen für die Ukraine waren aus Saudi-Arabien nicht zu erwarten. Dafür spielt Riad aber eine Schlüsselrolle bei der Umsetzung des Energieembargos gegen Moskau – und erwartet im Gegenzug politische und militärische Unterstützung im Jemenkrieg. Am 21. März stimmte Washington dann auch der Lieferung von Patriot-Abwehrraketen zu, geliefert wurde aus Beständen der Nachbarländer am Golf. Kurz zuvor hatten die Huthis saudische Öl-Anlangen beschossen – Riad argumentiert, dass der Schutz vor den Raketen aus dem Jemen unabdingbar für die Steigerung der Produktion und damit für die vor allem für die USA und Westeuropa wichtige Senkung des Ölpreises ist. Der Preis je Fass war binnen weniger Wochen um über 30 US-Dollar nach oben geschnellt, hat sich danach vorerst aber wieder etwas stabilisiert. Ein möglicher Grund für die saudische Zurückhaltung: Einen Draht wie zu Donald Trump und Jared Kushner fehlt dem saudischen Kronprinzen Muhammad Bin Salman (MBS), stattdessen sind die Beziehungen zur Biden-Regierung seit deren Amtsantritt äußerst angespannt.
Vereinigte Arabische Oligarchen
Moskau betreibt seit Jahren politische Landschaftspflege am Golf – so gastiert etwa Putins Statthalter in Tschetschenien, Ramzan Kadyrov, regelmäßig in den Emiraten. Dass aber ausgerechnet Putins treuester Vasall Mitte März offiziell und mit allen Ehren in Dubai empfangen wurde, betrachten viele westliche Beobachter als Verrat eines vermeintlichen Verbündeten. Zumal der Golfstaat seine (Jacht)häfen für verunsicherte Oligarchen öffnet und seit Jahren auch dem russischen Betreiber der Fake-News-Schleuder Telegram Unterschlupf gewährt.
In Abu Dhabi und Dubai wähnt man sich am längeren Hebel: Und so reiste wenige Tage nach Baschar Al-Assad auch der deutsche Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck in die VAE – und sondierte eine Aufstockung der Energielieferungen. Die Botschaft, die der Golfstaat und Muhammad Bin Zayed (MbZ), der Architekt der emiratischen Regionalpolitik, an den Westen sendet: Verschont uns mit euren moralischen Bedenken.
Katar: Der Ball rollt
Die »Energiepartnerschaft« mit Katar war das erste Ergebnis der Nahost-Reise von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck. Details sind nicht bekannt, bislang jedenfalls bevorzugt das Emirat auf Jahrzehnte ausgelegte Abkommen und bietet den Deutschen wohl eher Kontingente an bereits laufenden Liefergeschäften. Auch wenn zu Zeiten der Blockade durch die Anrainer am Golf auch Doha Angst vor einem militärischen Angriff eines größeren Nachbarn (Saudi-Arabien) haben musste, spielen solche Vergleiche zumindest offiziell keine Rolle. Auch ein Verkauf der 20-Prozent-Beteiligung am russischen Ölriesen Rosneft steht für Katar nicht zur Debatte. Priorität hat, zumindest in diesem Jahr, die Fußball-WM im eigenen Land: Aus Dohas Sicht hat man mit der Anerkennung des Ausschlusses des russischen Teams bereits ausreichend Solidarität mit Europa bekundet.
An Erdoğan kommt keiner vorbei
Das Zusammentreffen der russischen und ukrainischen Außenministerin Antalya Anfang März blieb ergebnislos, unterstrich aber Ankaras Anspruch, eine führende Rolle bei der Befriedung des Konflikts einzunehmen. Auf Europa und die USA kann man sich militärisch nicht verlassen – diese Sicht prägte die türkische Außenpolitik schon in Libyen und Syrien und scheint nun auch für die Ukraine zu gelten. Und obwohl Recep Tayyip Erdoğan immer wieder mit Wladimir Putin aneinandergeriet, sieht er sich selbst wohl besser geeignet als die Staatschefs in Washington, Paris und Berlin, um mit dem Kreml ins Gespräch zu kommen.
Die Kontrolle über den Bosporus und die Dardanellen verleiht der Türkei überdies einen geostrategischen Hebel, über den keine andere Regionalmacht verfügt. Auch bei der ukrainischen Regierung steht Erdoğan besser da als die Europäer, schließlich leisten die türkischen Bayraktar-Drohnen seit Beginn des Krieges einen sichtbaren Beitrag. Zugleich stärkt er das Gewicht der Türkei innerhalb der Nato – und bekommt wohl nun jene Waffensysteme geliefert, die Ankara noch vor wenigen Jahren verwehrt blieben.
Doch engere Abstimmung mit Nato und EU bedeutet keinesfalls eine Wiederannäherung – vor allem nicht in den Themenfeldern Demokratie, Opposition und Menschenrechte in der Türkei. Tatsächlich ist denkbar, dass sich Erdoğan beim Wahlkampf 2023 von der EU bewusst absetzt – und stattdessen den türkischen Ansatz für regionale Stabilisierung und Entwicklung als Gegenmodell präsentiert.
Syrien: Milizen für Moskau?
Baschar Al-Assad hat sich auf Gedeih und Verderb an Russland gebunden – schließlich rettete die russische Intervention in Syrien seinem Regime 2015 wohl das Überleben. Dennoch ist die Stippvisite des Machthabersgen Golf im März auch als Versuch zu deuten, sich für den Fall zu rüsten, dass Moskau als Regimegarant wegfällt oder zumindest nicht mehr die militärische Überlegenheit sicherstellen kann.
Die großspurige Ankündigung, zehntausende Kämpfer an die Front in die Ukraine zu entsenden, ist hingegen vor allem heiße Luft. Sie macht nur unter der Maßgabe Sinn, dass das Regime für die Entlohnung einiger Milizen keine Mittel mehr hat und so Kosten spart (und sich möglicherweise überambitionierter Milizenführer entledigt). Grundsätzlich wird es Damaskus aber zunehmend schwerer fallen, die Unterstützerbasis im eigenen Land zu versorgen. Bei den globalen Verteilungskämpfen von Gas bis Getreide muss sich Syrien hintenanstellen.
Irak: Warnschuss über drei Ecken
Im Irak werden die geopolitischen Kettenreaktionen des russischen Kriegs in der Ukraine besonders deutlich. Mitte März zerstörten iranische Geschosse das Gasthaus des kurdischen Tycoons Karim Barzinji in Erbil. Der betreibt zwar eine Pipeline im Joint Venture mit dem russischen Ölkonzern Rosneft, zum Verhängnis wurde ihm aber wohl eher die Tatsache, dass sein Anwesen nahe der dortigen US-Vertretung lag: Iran behauptet zwar, eine geheime Basis des Mossad beschossen zu haben, wollte aber vor allem ein Zeichen setzen. Auslöser waren die israelischen Attentate auf hochrangige Kommandeure der Revolutionsgarde in Syrien wenige Tage zuvor.
Bislang bestand zwischen der russischen und israelischen Luftwaffe eine Art Koexistenz, doch nun schien Tel Aviv die Gelegenheit gesehen zu haben, um zuzuschlagen. Teheran drückte seinen Unmut aus, indem es die örtliche US-Vertretung ins Visier nahm; und da Angriffe auf die US-Botschaft in Bagdad ob der politischen Lage kurz vor der Regierungsbildung nicht opportun waren und möglicherweise mehr Schaden als beabsichtigt angerichtet hätten, musste Erbil herhalten.
Kuwait: Erinnerungen an Saddam
Was droht, wenn sich ein Autokrat auf historischer Mission wähnt, Grenzen neu ziehen will und Glanz und Gloria der Nation wiederherstellen will, wissen die Kuwaitis. Der kleine Golfstaat ist in der Region in vielerlei Hinsicht ein Unikum. Als der irakische Langzeitherrscher Saddam Hussein Anfang der 1990er Jahre einmarschierte, mussten die Länder der Arabischen Welt eine Seite wählen. Bis heute sind Schock und Enttäuschung in Kuwait groß, dass Hussein auch Unterstützung erhielt – etwa von Jordanien und dem Jemen. Die Wochen der Besatzung, Folter und Verfolgung prägen die kuwaitische Gesellschaft bis heute.
Auch aus diesem Grund gehörte das Emirat als einziger Golfstaat zu den 80 Unterzeichnern des Resolutionsentwurfs für den UN-Sicherheitsrat, der die russische Invasion verurteilte und die territoriale Integrität der Ukraine betonte. Weiter aus der Deckung wagt man sich indes nicht. Sollte Russland langfristig strategisch geschwächt werden und der Westen einen kritischen Blick auf seine Verbündeten am Golf werfen, könnte Kuwait ob seiner Haltung im Ukraine-Krieg an Statur und Einfluss gewinnen.