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Rüstungsexporte, Völkerrecht und der Krieg in Gaza

Die Realität deutscher Waffenlieferungen an Israel

Kommentar
Rüstungsexporte, Völkerrecht und der Krieg in Gaza
GPO/Kobi Gideon

Deutschland hat vermeintlich einen Weg gefunden, Waffen an einen Staat zu liefern, dessen völkerrechtskonformes Handeln es selbst mindestens anzweifelt. Hat die Bundesregierung die Öffentlichkeit in die Irre geführt?

Bundeskanzler Olaf Scholz betonte kürzlich in einer Rede im Bundestag anlässlich des Jahrestages des 7. Oktobers 2023, dass Deutschland nicht entschieden hätte, keine Waffen an Israel mehr zu liefern. Die Bundesrepublik habe solche Ausfuhren getätigt und werde dies auch weiterhin tun. Die von der Bundesregierung veröffentlichten Daten zeigen jedoch, dass es zwischen März und August dieses Jahres de facto einen Exportstopp für Kriegswaffen gegeben hat. Die Diskrepanz zwischen öffentlichen Positionierungen und tatsächlicher Praxis offenbart zweierlei über die deutsche Politik der Waffenlieferungen.

 

Erstens nimmt die Bundesregierung selbst an, dass Israel in Gaza das humanitäre Völkerrecht bricht. Von März bis August versuchte die Regierung, sich durch den De-Facto-Exportstopp juristisch abzusichern; seither geht sie davon aus, einen völkerrechtskonformen Weg gefunden zu haben, doch Waffen an Israel liefern zu können, und schraubt die Bewilligungszahlen für Rüstungsexporte entsprechend nach oben.

 

Zweitens zeigt die Diskrepanz, dass die Frage nach der Legitimität von Waffenexporten in Deutschland nicht primär durch Verweis auf völkerrechtliche Verpflichtungen oder die Abwägung ihrer Wirkung auf Konfliktsysteme beantwortet wird, sondern wesentlich durch innenpolitische Erwägungen bestimmt ist. Die Waffenlieferungen sind zu einem Test für die Verpflichtung zur Staaträson geworden. Die deutsche Rüstungspolitik veranschaulicht, wie die Bundesregierung sich in dem Widerspruch zwischen Völkerrecht und einer mit dem Völkerrecht nicht zu vereinbarenden Interpretation der Staatsräson immer mehr verstrickt.

 

Die Aussage von Olaf Scholz, man habe Waffen geliefert und würde es auch wieder tun, ist faktisch nicht falsch. Sie führt aber in die Irre. Das Volumen von Ausfuhrgenehmigungen für Rüstungsgüter stieg nach dem 7. Oktober sprunghaft an. Im Jahr 2023 haben sich die Rüstungsexporte nach Israel im Vergleich zum Vorjahr verzehnfacht, über 80 Prozent der Genehmigungsanträge wurden nach dem 7. Oktober bewilligt. Das Genehmigungsvolumen bei Kriegswaffen betrug im Jahr 2023 insgesamt über 20,1 Millionen Euro, bei Rüstungsgütern sogar 326,5 Millionen Euro.

 

Doch bereits ab November 2023 kam es zu einem deutlichen Rückgang, Anfang 2024 dann zu einem drastischen Einbruch von Ausfuhrgenehmigungen. Bei Rüstungsexporten wird nach Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern unterschieden. Bis März 2024 wurde die Ausfuhr von Kriegswaffen in Höhe von gerade einmal 32.449 Euro durch die Bundesregierung genehmigt; zum Stichtag 21. August 2024 war es nach Angaben der Regierung bei dieser Zahl geblieben. Auch wurden zwischen Januar und Juni 2024 keine tatsächlichen Ausfuhren von Kriegswaffen nach Israel verzeichnet. Zwischen März und August dieses Jahres gab es also einen Quasi-Exportstopp von Kriegswaffen nach Israel.

 

Jüngst sind die Rüstungsexporte aber wieder gestiegen. Nach einem Bericht des Wirtschaftsministeriums sind zwischen dem 21. August und dem 13. Oktober Rüstungsgüter im Wert von rund 31 Millionen Euro genehmigt worden. Schon eine Woche nach dieser Meldung wurde diese Zahl durch das Auswärtige Amt nach oben korrigiert: Nun heißt es von dort, seit August seien Rüstungsexporte in Höhe von 94 Millionen Euro bewilligt worden. Bis zum 17. Oktober befanden sich darunter nach Angaben des Wirtschaftsministeriums nach wie vor keine Kriegswaffen. Flankiert wurde diese Trendwende bei den Waffenexporten von einer Diskursoffensive der Außenministerin und mehrerer Abgeordneter, die weiterhin behaupten, Israels Militäraktionen fänden im Rahmen von Selbstverteidigung und Terrorismusbekämpfung statt und seien vom Völkerrecht gedeckt.

 

Dass dies nicht der Überzeugung der Bundesregierung entsprechen kann, zeigen jedoch die skizzierten Einbrüche der Genehmigungen insbesondere im Jahr 2024. Besonders deutlich wird das anhand der Exportbewilligungen von Kriegswaffen. Dort betrug das für 2024 bewilligte Volumen bis August gerade einmal 0,02 Prozent des sonstigen Jahresdurchschnitts seit 2009. Wie lässt sich die Diskrepanz zwischen öffentlichem Bekenntnis zu Waffenlieferungen und der tatsächlichen Praxis der Waffenexporte erklären?

 

Deutschland betreibt formaljuristische Absicherung

 

Wichtig ist zunächst die Feststellung, dass dem De-Facto-Stopp der Genehmigungen und Ausfuhren von Kriegswaffen bis August keine grundsätzliche Entscheidung zugrunde lag, von Waffenlieferungen an Israel abzusehen. Vielmehr resultierte dieser Stopp aus einem Entscheidungsmodus, in dem Anfragen fallweise abgelehnt wurden. Eine zentrale Rolle gespielt haben dürften dabei die zahlreichen anhängigen Verfahren vor internationalen und nationalen Gerichten, in denen Israel Verstöße gegen das Völkerrecht und Genozid im Gazastreifen vorgeworfen werden. Es steht eine Sekundärverantwortung derjenigen Staaten im Raum, die durch materielle Unterstützung Verstöße gegen das Völkerrecht ermöglichen.

 

Auf nationaler Ebene lehnte das Verwaltungsgericht Berlin die Klage von fünf Palästinensern auf den Stopp von Waffenlieferungen nach Israel im Juni ab. Das Gericht argumentierte unter anderem, dass die Bundesregierung seit mehreren Monaten keine Kriegswaffenexporte nach Israel genehmigt habe. Auf internationaler Ebene wollte Nicaragua mit einem Eilantrag vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) einen sofortigen Exportstopp deutscher Waffen nach Israel erwirken. Dies wurde mit demselben Argument – Deutschland exportiere faktisch keine Kriegswaffen mehr – abgelehnt. Die Klage Nicaraguas gegen Deutschland aufgrund von Beihilfe zum Völkermord ist aber weiterhin anhängig.

 

Neben der ebenfalls noch anhängigen südafrikanischen Genozidklage gegen Israel vor dem IGH dürften diese Verfahren unabhängig davon, wie sie letztlich beschieden werden, berechtigte Sorge bei der Bundesregierung ausgelöst haben: Staaten haben eine Pflicht, Völkermord zu verhindern, und dürfen gemäß des Waffenhandelsvertrags (ATT) der Vereinten Nationen, den Deutschland im Juni 2013 ratifiziert hat, zudem keinen Waffenlieferungen zustimmen, »wenn ein ›überwiegendes Risiko‹ besteht, dass diese humanitäres Völkerrecht oder Menschenrechte untergraben«

 

Genau gegen diese Risiken von Vertragsverletzungen, Verstößen gegen seine Sekundärverantwortung sowie die Pflicht zur Verhinderung von Völkermord hat die Bundesregierung offenbar in den letzten Monaten Absicherungsversuche unternommen. Dies erfolgte zunächst durch einen einzelballbasierten Entscheidungsmodus und die faktische Aussetzung von Waffenlieferungen. Am 13. Oktober konnte Presseberichten nun entnommen werden, dass die Bundesregierung von Israel verlangt haben soll, eine Klausel als Voraussetzung für weitere Waffenlieferungen zu unterzeichnen. Diese Klausel forderte eine schriftliche Zusicherung der israelischen Regierung, dass deutsche Waffen nur völkerrechtskonform genutzt würden – laut einiger Berichte gar, »die Rüstungsexporte aus Deutschland nicht für einen Völkermord einzusetzen«.

 

Die genauen Inhalte der Klausel sind nach wie vor nicht bekannt. Der israelischen Seite wurde offenbar erläutert, dass das deutsche Beharren darauf kein Ausdruck von Misstrauen sei, sondern eine Maßnahme, um ein generelles Exportverbot zu verhindern. Deutsche Gerichte könnten ein solches mit dem Argument verhängen, dass deutsche Waffen für völkerrechtswidrige Handlungen eingesetzt werden könnten. Laut Medienberichten soll die israelische Regierung diese Zusicherung erbracht haben. Falls sich Israel an diese Zusicherungen halten würde, könnte die Bundesregierung dieser Logik zur Folge nicht haftbar gemacht werden.

 

Nun hat die Bundesregierung also vermeintlich einen Weg gefunden, Waffen an einen Staat zu liefern, dessen völkerrechtskonformes Handeln sie selbst mindestens anzweifelt. Sollte durch die Klausel tatsächlich der Einsatz deutscher Waffen für einen Genozid ausgeschlossen worden sein, hielte die Bundesregierung gar einen Völkermord für plausibel und würde damit der Einschätzung des IGH sowie einschlägiger Genozid-Experten folgen. Dann würde Deutschland auch gegen seine Pflicht zur Verhinderung von Völkermord verstoßen, »die ausgelöst wird, sobald sie ›Kenntnis von der ernsthaften Gefahr hatte, dass Völkermordhandlungen begangen werden könnten‹.«

 

Täuschung der Bevölkerung im Namen der Staatsräson

 

In jedem Fall bedeutet die Klausel, dass die Öffentlichkeit über die vergangenen Monate bewusst getäuscht wurde. Statt ihre Zweifel an der völkerrechtskonformen Politik der israelischen Regierung öffentlich zu machen, unterstützt die deutsche Politik die israelische Kriegsführung weiterhin bedingungslos. Diese Intransparenz untergräbt das Vertrauen der Bürger in staatliche Institutionen und verstößt gegen die Grundprinzipien der demokratischen Ordnung. Sie stellen außerdem eine schwere Verletzung der Amtspflicht dar.

 

Nicht nur lassen Vertreter der Bundesregierung den Vorwurf von Kriegsverbrechen gegen Israel regelmäßig unkommentiert; die Bundesregierung behauptet konsistent, sie hätte keine eigenen Erkenntnisse, ob Israel Kriegsverbrechen begeht. Sie streitet auch ab, dass es in Israel genozidale Handlungen gäbe. Der Vorwurf, Israel würde im Gazastreifen Völkermord begehen, entbehrt laut der Aussage des Bundeskanzlers »jeder Grundlage«. Diese Aussagen sind mit der tatsächlichen Waffenexportpraxis der letzten Monate nur schwer in Einklang zu bringen. Sie stehen auch im Widerspruch zu den zahlreichen Berichten – unter anderem vorgelegt durch die Vereinten Nationen –, die wiederholt Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die israelische Armee festgestellt haben.

 

Warum dieses Verwirrspiel der Öffentlichkeit, der gleichzeitig suggeriert wird, Waffenlieferungen hätten ununterbrochen stattgefunden und seien darüber hinaus völkerrechtlich unbedenklich? Die außenpolitische Debatte über Waffenlieferungen dient als Bühne für den innenpolitischen Wettstreit darüber, wer in Deutschland am glaubwürdigsten die Staatsräson verkörpert. Das Verwirrspiel ermöglicht es der Bundesregierung, öffentlich ihr Bekenntnis zur Staatsräson aufrechtzuerhalten, die Kritik aus der Opposition einzudämmen und die israelische Regierung weiterhin diplomatisch und vor allem öffentlich sichtbar zu unterstützen. International ist die Bedeutung dieser öffentlichen Unterstützung für die israelische Regierung nicht zu unterschätzen, ist Deutschland angesichts der eindeutigen israelischen Verstöße gegen das Völkerrecht neben den USA einer der letzten verbleibenden lautstarken Unterstützer.

 

Waffenembargo statt Absicherungstricks bei der Unterstützung israelischer Gewaltexzesse

 

Gemein ist den Regierungsparteien sowie der CDU/CSU in der Opposition, dass sie alles daran setzen, eine Lieferung von Waffen an Israel zu ermöglichen – in einer Situation, in der politische Verantwortungsträger in Deutschland gleichzeitig mindestens davon ausgehen, dass Israel im Gazastreifen das humanitäre Völkerrecht bricht. Die Autorisierung neuer Waffenlieferungen erfolgt zu einem Zeitpunkt der massiven Eskalation der Gewalt seitens der israelischen Regierung in Nordgaza und im Libanon.

 

Der Versuch, sich durch bürokratische Kniffe von völkerrechtlichen Verpflichtungen loszusagen und sich auf Prozeduralismus zurückzuziehen, täuscht dabei über die eigentlich relevante Frage hinweg: Will die Bundesregierung eine israelische Regierung militärisch unterstützen, die mehrenden Einschätzungen zufolge Verbrechen gegen die Menschlichkeit und genozidale Akte begeht und auf weitere Eskalation setzt? Die klare Mehrheit der deutschen Bevölkerung sagt, sie sollte dies nicht tun.

 

Statt die sich ausweitenden Konflikte durch neue Rüstungsexporte weiter anzuheizen, sollte die Bundesregierung auf Deeskalation setzen. Dazu gehört, umgehend ein Waffenembargo durchzusetzen. Dieses muss alle Arten von Rüstungsgütern umfassen, die eine offensive Kriegsführung ermöglichen. Ein solches Embargo ergibt sich auch als logische Folgerung aus den Leitlinien der feministischen Außenpolitik, die sich das Auswärtige Amt selbst gesetzt hat. Anstatt eine mutlose Politik blinder Solidarität und Waffenlieferungen im Namen der Staatsräson fortzusetzen, muss die Bundesregierung konsequent im Einklang mit dem Völkerrecht handeln und ihrer Sorgfaltspflicht nachkommen, die Bevölkerung nach bestem Wissen und Gewissen über ihre Erkenntnisse zu unterrichten.


Dörthe Engelcke ist kommissarische Leiterin des Kompetenzzentrums für das Recht arabischer und islamischer Länder am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht. Sie forscht zu Recht, Politik und Geschlechterfragen in Westasien und Nordafrika.

Hanna Pfeifer leitet den Forschungsbereich »Gesellschaftlicher Frieden und Innere Sicherheit« am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg und erforscht innerstaatliche und internationale Dynamiken von Ordnung und Gewalt in Westasien und Nordafrika.

Die Information zu der Zusammensetzung der bewilligten Rüstungsexporte zwischen August und Oktober 2024 wurde am 8.11.2024 korrigiert.

Von: 
Dörthe Engelcke und Hanna Pfeifer

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