Russlands Verbündeter Khalifa Haftar gerät im Libyen-Krieg in die Defensive – und Moskau muss seine Karten neu sortieren, um russische Interessen in Nordafrika zu wahren. Der Schlüssel dafür könnte im Syrien-Konflikt liegen.
Mitte April feierte »Shugaley« seine Weltpremiere. Der Film erzählt die Geschichte des Soziologen Maxim Shugaley, der im Jahr 2019 für einen russischen Thinktank in Libyen forscht. Als er dabei Material aufspürt, das die international anerkannte Regierung von Premierminister Fayez Al-Serraj belastet, wird er von mit der Regierung verbündeten Milizen in Tripolis verhaftet. Soweit zumindest die Geschichte des Films.
Die Realität sah wohl etwas anders aus: Als General Khalifa Haftar im April 2019 auf die libysche Hauptstadt Tripolis marschierte, reiste Maxim Shugaley nach Libyen – in der Hoffnung, ein altbekanntes Gesicht zum neuen Führer des Landes zu machen: Saif al-Islam Al-Gaddafi.
Muammar Al-Gaddafis Sohn und Erbe wurde nach dem blutigen Ende seines Vaters während der Revolution im Jahr 2011 auf der Flucht in den Niger aufgegriffen – bis zu seiner Freilassung im Rahmen einer Generalamnesie im Juni 2017 saß er im Gefängnis in Zintan im Westen Libyens. Obwohl er sich auf der Flucht vor Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshof befindet, schmiedet Saif al-Islam an Plänen, das in seinen Augen rechtmäßige Erbe anzutreten: die Führung Libyens.
Kurz nach seinem Treffen mit Saif al-Islam im April 2019 wurde Maxim Shugaley in Tripolis verhaftet. Der Vorwurf: Spionage und Vorbereitung von Wahlbetrug. Angesichts der Biografie Shugaleys sollte die Reaktion der Regierung in Tripolis nicht überraschen – Shugaley war bereits in einen Wahlskandal auf Madagaskar verwickelt und steht den Unternehmen des Oligarchen Jewgeni Prigoschin nahe, einem der engsten Freunde Putins. Die Geschichte reiht sich als weitere Episode des russischen Engagements in Libyen ein.
Unvereinbare Interessen der regionalen Akteure, ein Wettlauf um Gasreserven im Mittelmeer und der erbitterte Kampf um Einfluss im Land kennzeichnen den Konflikt auch im Jahr 2020. Die Türkei agiert mit eigenen Streitkräften in Libyen, Griechenland versucht, den Gashandel zwischen Tripolis und Ankara zu sabotieren, und Russland will die Kontrolle über die Ressourcen Libyens – derweil betrachtet die EU ihre südliche Grenze mit zunehmender Sorge.
Sowohl in Tripolis als auch im östlichen Tobruk agieren auch Milizen, die regelmäßig ausscheren und Befehle der jeweiligen Regierung missachten.
Noch immer wetteifern zwei Regierungen um Legitimität und die Vormacht in Libyen – eine der beiden, nämlich die Regierung in Tripolis, wird dabei von den Vereinten Nationen unterstützt. Zudem operieren in Libyen momentan zwei konkurrierende Justizsysteme und zwei separate Zentralbanken – obwohl das Geld für den Osten des Landes in Moskau gedruckt wird. Aber sowohl in Tripolis als auch im östlichen Tobruk agieren auch Milizen, die regelmäßig ausscheren und Befehle der jeweiligen Regierung missachten. Und auch in Orten wie Misrata, einer der wichtigsten Hafenstädte des Landes, haben sich eigenständige Milizen gebildet – obwohl die Stadt offiziell unter der Kontrolle der Regierung in Tripolis steht.
Zahlreiche bewaffnete Gruppen, die ebenfalls mitmischen und dabei teilweise die Interessen von Nachbarländern vertreten, verkomplizieren die Situation zusätzlich. So kämpfen beispielsweise sudanesische und tschadische Söldner im Osten Libyens – sie gelten als wichtige Unterstützer der Truppen von General Haftar und erhalten ihren Lohn aus Ägypten und den Emiraten. Während Kairo zudem logistische Aufgaben übernimmt und Haftars Truppen aus der Luft unterstützt, sind die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) für die Durchführung zahlreicher Drohnenangriffe auf Tripolis verantwortlich – immer wieder auch in Wohngebieten.
Zu Beginn des Jahres 2020 stationierten die Emirate zudem selbst Streitkräfte im Osten des Landes, um die Versorgungswege aus Saudi-Arabien und Ägypten zu sichern. Die jüngste Welle der Gewalt begann durch Haftars Offensive auf Tripolis im April 2019, die bisher noch keinen durchschlagenden Erfolg zeitigte. Während Frankreich Haftar unterstützt, steht die ehemalige Kolonialmacht Italien auf Seiten der Regierung in Tripolis. Und während Großbritannien seinen Geheimdienst in West-Libyen einsetzt, hält sich Washington auffällig zurück und begnügt sich damit, die Lage aus der Ferne zu beobachten.
Sollte Haftar militärisch siegreich hervorgehen, wird der General eine Menge Rechnungen zu bezahlen haben.
Der Kreml steht offiziell auf Haftars Seite – verhandelt allerdings hinter den Kulissen auch mit Tripolis. Moskau schickt seine Söldner, die berühmt-berüchtigte »Gruppe Wagner«, auch direkt an Haftars Frontlinien. Ein Teil der Streitkräfte wurde dafür im vergangenen Jahr extra von Syrien nach Libyen verlegt. Russland beabsichtigt so seine Präsenz in Nordafrika und dem Mittelmeerraum zu verstärken. Das Ziel: Neben dem russischen Großstützpunkt im syrischen Tartus soll sich eine weitere Mittelmeer-Basis an der Küste Libyens gesellen.
In jedem Fall will Moskau nicht leerausgehen: Sollte die Regierung Serraj obsiegen, wird auch Russland einen Platz am Verhandlungstisch einnehmen. Sollte Haftar trotz jüngster Rückschläge militärisch siegreich hervorgehen, wird der General eine Menge Rechnungen zu bezahlen haben: Russland sucht immer noch nach Wegen, ausstehende Zahlungen aus Verträgen mit Gaddafi im Milliardenbereich einzutreiben. Die Unterstützung russischer Söldner ist so entscheidend, dass die Regierungsmilizen im Frühjahr Flugblätter sowohl auf Arabisch als auch auf Russisch abwarfen, als sie Haftars Truppen im westlibyschen Tarhuna zur Kapitulation bewegen wollten.
In der Zwischenzeit hat allerdings ein weiterer Akteur die Bühne betreten: Die Türkei, historisch eng mit der Region verbunden, unterstützt die Regierung in Tripolis bereits seit Jahren informell. Im November 2019 unterzeichnete Ankara nun eine ganze Reihe von Abkommen mit Premier Serraj. Sie sollen der Durchsetzung türkischer Interessen dienen: Einerseits ist die Rede von der Einrichtung neuer Wirtschaftszonen, die Ankaras Ansprüche auf die Gasreserven im östlichen Mittelmeer flankieren sollen. Zum anderen wurde die Grundlage für eine militärische Zusammenarbeit gelegt – bei Bedarf könne Tripolis militärische Unterstützung aus der Türkei anfordern.
Durch die Truppenverlegungen findet der syrische Bürgerkrieg eine Fortsetzung im Libyen-Konflikt. Auf beiden Seiten kämpfen nun Syrer.
Unterdessen hat die Türkei bereits Hunderte von Kämpfern der sogenannten Syrischen Nationalarmee entsandt – ein Zusammenschluss ehemaliger syrischer Rebellen, die im Oktober 2019 an der türkischen Operation in Nordsyrien und Afrin teilgenommen hatten.
Durch die Truppenverlegungen findet der syrische Bürgerkrieg eine Fortsetzung im Libyen-Konflikt. Auf beiden Seiten kämpfen nun Syrer: Während die Türkei Kämpfer aus Nordsyrien anheuert, um die Regierung in Tripolis zu stützen, rekrutiert Russland aus den Reihen des syrischen Regimes in Mittel- und Südsyrien, um Haftars Truppen zu verstärken.
Das türkische Parlament ratifizierte das Gasabkommen zwischen Erdoğan und Serraj zügig – und rief damit Griechenland und Zypern auf den Plan, da der Vertrag die maritimen Wirtschaftszonen zu deren Nachteil verändert. Das türkische Abkommen mit Tripolis ist als Reaktion auf das Gasforum im März 2019 zu verstehen– damals hatten sich Zypern, Griechenland, Israel und Ägypten getroffen, ohne die Türkei einzuladen.
Israel, Griechenland und weitere europäische Länder fichten die türkisch-libyschen Vereinbarungen prompt an – die Begründung: Sie würden gegen das Völkerrecht verstoßen. Ungeachtet der harschen Kritik scheint jedoch kein Interesse an einer Eskalation der Spannungen zu bestehen. Lediglich Athen ging so weit, eine Delegation nach Ostlibyen zu schicken: Griechenland wollte seine Absicht demonstrieren, Haftar als Gegner der Türkei zu unterstützen.
Für die Europäische Union haben gute Beziehungen zur Türkei eine hohe Relevanz, allein schon wegen der türkischen Kontrolle über die Fluchtrouten aus Syrien. Griechenland hingegen versucht, eine Allianz mit den VAE, Jordanien, Saudi-Arabien und Ägypten zu schmieden, um sich dem Gasabkommen entgegenzustellen – bisher ohne Erfolg.
Trotz gegenseitiger Provokationen hat Israel eine Delegation für Verhandlungen mit Erdoğans Regierung entsandt. Israelische Gaspipelines nach Europa müssten durch türkisches Hoheitsgewässer verlaufen. Israels Außenministerium ließ im April öffentlich verkünden, dass man kein Interesse an einer Konfrontation habe.
Die Türkei und Russland sehen Libyen als letzten Grenzposten für ihren Einfluss in der Region.
Ankaras Verhältnis zu seinen Rivalen in der Region ist ebenso angespannt wie zu seinen NATO-Verbündeten. Doch die größte Kluft besteht noch immer zu Russland. Trotzdem kooperieren beide Länder an der syrischen Front. Und der Handel boomt – so könnten die türkischen Militärausgaben durch den Kauf russischer S-400-Luftverteidigungssysteme in die Milliarden gehen. Da die US-Regierung wegen dieses Waffendeals den Verkauf amerikanischer Kampfflugzeuge blockiert, wird außerdem erwartet, dass Ankara weiter auf Moskau zugeht, um auch noch eine neue Generation russischer Suchoi-Flugzeuge anzuschaffen.
In Libyen konkurrieren die Türkei und Russland um Gas- und Ölreserven. Beide Mächte sehen Libyen als letzten Grenzposten für ihren Einfluss in der Region. Mithilfe des Mittelmeers und Libyens möchte Erdoğan seine arabischen Rivalen – Ägypten, Saudi-Arabien und die VAE – klein halten und die Zusammenarbeit mit Katar intensivieren.
Indes betonen Haftars Verbündete, dass Ankara und Katar in Libyen den Muslimbrüder an die Macht helfen wollten. Die Furcht vor einer Bedrohung durch islamistische Ideologien trifft auch in Europa auf fruchtbaren Boden. Dabei greift auch Haftars »Libysche Nationalarmee« (LNA) auf religiös motivierte Kämpfer zurück die salafistischen Einheiten der sogenannten Madkhalisten.
Zusätzlich zur diplomatischen Anerkennung der Regierung in Tripolis und der Entsendung syrischer Söldner plant die Türkei, auch eigene Streitkräfte in Libyen zu stationieren. Lokale Nachrichtenseiten berichteten bereits im Januar 2020, dass türkische Militärausbilder, Spezialkräfte und Ausrüstung in Libyen eingetroffen seien und bereitstünden, die Regierung in Tripolis im Kampf zu unterstützen.
Schon Ende 2019 wurde bekannt, dass russische Söldner in Libyen getötet und gefangen genommen wurden.
Die Zusammenarbeit macht sich an der Front bereits bemerkbar. Im April starteten die Streitkräfte der Regierung eine Gegenoffensive im Westen Libyen: Erstmals seit langer Zeit wurde durch die Einnahme der Stadt Sabratha wieder eine direkte Verbindung von Tripolis zur tunesischen Grenze hergestellt.
Gleichzeitig belagerten die Serraj-Truppen auch die Stadt Tarhuna – Haftars Hochburg in Westlibyen, aus der er einen Großteil seiner Versorgung bezieht. Im Mai folgte die Militärbasis Watiya. Diese Gegenoffensiven wären ohne die starke Unterstützung von Ankara kaum vorstellbar – insbesondere nicht ohne das türkische Drohnenprogramm.
Die »Gruppe Wagner« hat bereits Verluste in der libyschen Wüste erlitten, und schon im November und Dezember 2019 wurde bekannt, dass russische Söldner getötet und gefangen genommen wurden. Moskau lehnt das militärische Engagement der Türkei in Libyen offen ab, gerät aber in die Defensive.
Der Kreml könnte daher versuchen, die türkischen Ambitionen für Libyen andernorts auszubremsen: in Syrien. Eine Offensive des syrischen Regimes im Nordwesten des Landes Anfang 2020 hat zur Umsiedlung Hunderttausender Menschen geführt, die nun auf dem Weg zur türkischen Grenze sind. Dieser Angriff wird aktiv von der russischen Luftwaffe unterstützt und gefährdet die dort stationierten türkischen Truppen.
Die VAE wollen die Türkei aus Libyen vertreiben, Russland scheut neue Kämpfe in Nordsyrien.
Die Türkei will Assads Offensive stoppen, um weitere Spannungen an der türkisch-syrischen Grenze zu verhindern. Russland ist sich dessen sehr wohl bewusst. Es bestünde also die Möglichkeit, dass der Kreml seine Angriffe in Syrien stoppt, wenn die Türkei im Gegenzug ihre Militärpräsenz in Libyen zurückfährt. Die neuerlichen Pläne Assads, eine weitere Offensive in Idlib zu starten, passen Russland nun daher aus taktischen Erwägungen plötzlich nicht mehr in den Plan.
Diese Spielchen hinter den Kulissen haben wiederum die Beziehungen zwischen Damaskus und Moskau erschüttert – ein Fakt, der auch auf diplomatischem Parkett nicht unbemerkt blieb.
In Moskau reift daher, auch im Hinblick auf die ökomischen Kosten der COVID-19-Pandemie, die Erkenntnis, dass man eine Exit-Strategie für Syrien braucht. Dafür wäre Moskau sogar bereit, in Nordafrika zu kooperieren. Ähnlich wie in Syrien muss eine Lösung in Ankara, Paris, Moskau und Doha gefunden werden, nicht in Tripolis oder Benghazi. Denn außer der Zivilbevölkerung hat momentan niemand ein Interesse daran, die Kämpfe in Libyen zu beenden.