Saif Al-Islam Al-Gaddafi will Präsident werden. Kann Libyen das gebrauchen?
Wenn es nach dem Willen der Einheitsregierung geht, wird in Libyen am 24. Dezember 2021 zum dritten Mal seit dem Sturz von Muammar Al-Gaddafi 2011 gewählt. Ein möglicher Kandidat: dessen zweitältester Sohn Saif Al-Islam. Der hatte sich in einem am 30. Juli in der New York Times veröffentlichten Artikel erstmals seit dem Ende des Regimes seines Vaters zu Wort gemeldet und so Bewegung in das Kandidaten-Karussell gebracht. Wird er tatsächlich antreten? Und wie wird er sich zu dem politischen Erbe seiner Familie positionieren? Wer also ist Saif Al-Islam wirklich?
Bis zur Revolution 2011 galt der heute 49-Jährige westlichen Beobachtern als Posterboy des Regimes. Vor allem in Großbritannien sahen viele in Saif Al-Islam ein weltmännisches Gegenmodell zu seinem Vater und dessen berüchtigter Exzentrik. Der Gaddafi-Spross studierte an der London School of Economics, bewegte sich galant auf diplomatischem Parkett, sprach von sozioökonomischem Wandel, den sein Land durchmachen müsse, um im Wettbewerb zu bestehen.
Einen Ruf als Reformer hatte er sich bereits in den frühen 2000er Jahren erarbeitet, als er einen Aussöhnungsprozess zwischen Regime und politischen Gefangenen geleitet hatte. Sein Angebot: Wer dem gewaltsamen Widerstand abschwört, wird freigelassen.
Ein Kurs der Kompromisse, der spätestens im Februar 2011 ein Ende fand, als die Proteste in den Nachbarländern Ägypten und Tunesien auch seine Heimat erreichten – und das klientelistische Gaddafi-Regime massiv unter Druck setzten. Seitdem prägt ein stürmischer und gewaltsamer Wandel das nordafrikanische Land. Das autoritäre System seines Vaters ist im Frühjahr 2021 einer leidlich akzeptierten, aber letztlich fragilen Übergangsregierung gewichen, die das Land in Folge zweier Bürgerkriege vorerst befriedet hat.
Fünf Monate hat die Interimsführung Zeit, die Wahlen im Dezember zu organisieren. Doch dafür sind weder die rechtlichen Grundlagen gelegt noch eine Situation geschaffen, in der freie und faire Wahlen möglich wären – was wiederum die Akzeptanz des Ergebnisses im In- und Ausland gefährdet.
In diesem Kontext ist eine mögliche Kandidatur von Saif Al-Islam besonders kritisch zu bewerten. Denn nicht nur wird er vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag (IStGH) wegen vermeintlicher Kriegsverbrechen gesucht, 2015 wurde Gaddafi Junior in Abwesenheit zum Tod durch ein libysches Gericht verurteilt. Während sein Vater 2011 von Aufständischen ermordet wurde, war Saif Al-Islam von der Bildfläche verschwunden, nachdem ihn eine Rebellengruppe aus Zintan gefangen genommen hatte.
Die Urteile und Haftbefehle im In- und Ausland scheinen es unmöglich zu machen, dass Saif Al-Islam ein hohes politisches Amt übernimmt
Erste Anzeichen, dass Saif Al-Islam künftig eine tragende Rolle in der Politik seines Heimatlands einnehmen will, mehrten sich in den vergangenen Jahren. 2017 kam er im Rahmen einer Generalamnestie auf freien Fuß, blieb jedoch weiter in der Obhut der Zintaner Miliz. Seitdem spekulieren seine Landsleute über seine politischen Ambitionen: Während manche Hoffnung in ihn setzen und glauben, er könne Ordnung zurückbringen, warnen andere, dass das politische Comeback eines Gaddafi-Sohns vor allem die Rückkehr von Angst und Unterdrückung bedeuten würde.
Eine Kandidatur wäre aber wohl auch aus anderen Gründen problematisch. Die Urteile und Haftbefehle im In- und Ausland scheinen es unmöglich zu machen, dass Saif Al-Islam in die Fußstapfen seines Vaters tritt und ein hohes politisches Amt übernimmt. So schwer wiegen die ihm zur Last gelegten Verbrechen, dass er und in Folge das ganze Land Gefahr laufen, in die Isolation zu geraten – mit gravierenden Folgen für die außenpolitischen Beziehungen.
Andererseits könnte Saif Al-Islam eine solche Ablehnung auch taktisch nutzen. So könnte er argumentieren, dass sowohl die internationale anerkannte Übergangsregierung als auch die selbst ernannte Libysche Nationalarmee (LNA) von General Khalifa Haftar lediglich Vasallen ausländischer Mächte seien. Saif Al-Islam könnte sich so als der Kandidat inszenieren, der das Land aus diesen Abhängigkeiten löst. Doch hat er das Zeug, darüber hinaus eine Vision für Libyen zu verkörpern?
Die politische Agenda von Saif Al-Islam bleibt im Unklaren. In den von der New York Times veröffentlichten Gesprächsauszügen verspricht er zwar, Libyens Entwicklung vorantreiben zu wollen, seine Kernbotschaft reduziert sich aber auf eine Abrechnung mit den vorherigen Regierungen. Die hätten »das Land vergewaltigt und in die Knie gezwungen«.
Auf Unterstützung kann Saif Al-Islam auch in Ägypten zählen
Trotz aller Bedenken genießt Saif Al-Islam erhebliche Unterstützung innerhalb und außerhalb Libyens. Ein wichtiger Partner könnte etwa Russland sein, allen voran Jewgeny Prigozhin. Der Chef der berüchtigten Söldnergruppe Wagner wird in Akten und Berichten immer wieder als Förderer des Gaddafi-Sohns genannt. 2020 etwa löschte Facebook mehrere von Russland aus betriebene Gruppen auf der in Libyen weit verbreiteten Plattform, die im Inland und der Diaspora für Saif Al-Islam getrommelt hatten.
Auch die Kampagne »We nominated you« wird von Moskau unterstützt. Der ehemalige Staatssender Al-Jamahiriyya TV, der nach der Revolution verboten wurde und 2014 auf dem ägyptischen Satelliten Nilesat seine Renaissance erlebte, wird zu 50 Prozent von Prigozhin geführt. Die rund sechs Millionen Zuschauer pro Monat machen den Kanal zu einem einflussreichen Propaganda-Werkzeug in der MENA-Region – das könnte Russland dabei helfen, seinen Einfluss in Nordafrika auszubauen.
Auf Unterstützung kann Saif Al-Islam auch in Ägypten zählen. Vor allem dem Sisi-Regime nahestehende Journalisten äußerten sich in den vergangenen Monaten wohlwollend über Gaddafi Junior und werfen westlichen Geheimdiensten vor, Saif Al-Islams Ruf in Libyen und in der Region beschädigen zu wollen. Offiziell hält sich die Regierung zwar bedeckt, doch für Kairo brächte Stabilität in Libyen viele Vorteile, etwa wenn ägyptische Gastarbeiter erneut dort arbeiten und Devisen an den Nil senden könnten.
Neben ausländischen Unterstützern schart Saif Al-Islam auch Fürsprecher innerhalb Libyens um sich. Hauptsächlich sind es jene Stämme, die seinem Vater in der Vergangenheit bereits die Treue geschworen hatten und in den letzten Jahren eine wichtige Rolle im Bürgerkrieg gespielt haben. Doch neben dieser expliziten Unterstützung spielt Saif Al-Islam in seiner Heimat auch die Gesamtsituation in die Karten. Viele Menschen sehnen sich zurück nach friedlichen Zeiten. Zeiten, in denen sie vielleicht nicht frei waren, dafür aber in bescheidenem Wohlstand leben konnten, ohne Angst um Leib und Leben.
Das Netzwerk des Gaddafi-Sohns ist zwar verzweigt, aber letztlich nur eines von vielen
Saif Al-Islam wird diese Nostalgie für sich zu nutzen wissen. Seine Eloquenz, das Vermächtnis seiner Familie und sein beträchtliches Netzwerk bieten die ideale Projektionsfläche für genau diese Sehnsucht. Auch wenn ein Großteil der Libyer die Gräueltaten seines Vaters nicht vergessen wird, so gewinnen jene Stimmen an Gewicht, die Saif Al-Islam dafür nicht in Haftung nehmen wollen. Würde er sich von seinem Vater lossagen und die Anklage des IStGH rhetorisch untergraben, wäre ihm wohl zumindest die Unterstützung jener Libyer sicher, die nicht direkt von den humanitären Verbrechen des alten Regimes betroffen waren.
Dennoch wäre Saif Al-Islams Kandidatur für das Präsidentenamt ein Spiel mit dem Feuer – für Libyen, für seine Unterstützer im In- und Ausland und auch für ihn selbst. Vermutlich würde zwischen ihm und General Haftar ein Kampf um die Gunst Russlands entbrennen – und ein erneuter bewaffneter Konflikt würde Libyen ins Haus stehen.
Aus Sicht westlicher Beobachter ist ebenfalls unklar, was eine libysche Führung unter Saif Al-Islam bedeuten würde. Bliebe er seinen russischen Unterstützern treu? Würde er bald erneut in den edlen Privatclubs von London auftauchen und das westliche Establishment umgarnen?
Eine positive Entwicklung Libyens ist an Kompromissbereitschaft und die Einsicht in die Notwendigkeit grundlegender Reformen geknüpft. Dass diese Punkte ganz oben auf der Agenda von Saif Al-Islam stehen, scheint unwahrscheinlich. Doch vielleicht wird das keine Rolle spielen: Das Netzwerk des Gaddafi-Sohns ist zwar verzweigt, aber letztlich nur eines von vielen – und trotz des großen Namens gehört Saif Al-Islam nicht mehr zu den zentralen Kräften in Libyen.