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Saudi-Arabien unter Kronprinz Mohammed Bin Salman

Von Barrels Gnaden

Analyse
MBS
Palácio do Planalto (CC BY 2.0)

Der saudische Kronprinz Mohammed Bin Salman ist auf der Höhe seiner Beliebtheit. Diese steigt und fällt jedoch mit der Höhe des Ölpreises.

Jubel überall im Königreich nach dem historischen 2:1-Sieg des saudischen WM-Teams gegen Argentinien. Der saudische König Salman bin Abdulaziz dekretiert einen Nationalfeiertag. Auf die Idee dazu ist der 86-jährige Monarch sicherlich nicht alleine gekommen. Sie stammt vermutlich von seinem 37-jährigen Sohn Mohammed Bin Salman, kurz MBS, dem de-facto Herrscher. Der Sieg war ein globaler Public-Relations-Erfolg seines ehrgeizigen Modernisierungsprogramms »Vision 2030«.

 

Dieses Programm beinhaltet eine gewisse Öffnung nach außen, vor allem durch touristische Großprojekte, etwa in der Oase al-Ula. Hier soll die lange von den Saudis versteckte, nach Petra zweitgrößte nabatäische Stadt Madain Saleh zur weltweiten Attraktion werden. Bis zum Ende des Jahrzehnts sollen 100 Millionen Touristen das Königreich besuchen. Wichtiger noch ist die Öffnung im Inneren. Frauen dürfen seit 2018 Auto fahren und sich seit 2019 ohne Kopftuch und Schleier zeigen – gemeinsam mit Männer sogar große Rave-Parties besuchen.

 

Wirtschaftlich ist die Vision 2030 extrem ehrgeizig. Fast 1.000 Milliarden Euro, ein Drittel der geplanten Gesamtsumme, sollen bereits für gigantische Infrastrukturprojekte ausgegeben worden sein. Ein Beispiel: die als visionär vermarktete Smart City »Neom« oder »The Line« im Nordwesten. 105 Kilometer lang und 500 Meter breit soll sie sich mit einer Spiegelfassade am Roten Meer entlangziehen und neun Millionen Einwohner beherbergen – ohne Straßen, Autos, karbonfrei mit ultramodernen Transportmitteln.

 

Vision 2030 zielt auch auf die »Saudisierung« der Wirtschaft. Über ein Drittel der 35 Millionen Menschen im Lande sind Migranten, die in ihre Heimatländer zurückkehren sollen. Ihre Jobs sollen junge Saudis übernehmen, denn fast zwei Drittel der Bevölkerung sind jünger als 35 und 63 Prozent von ihnen sind arbeitslos, obwohl die Mehrheit einen Universitätsabschluss besitzt. Parallel soll das Land vom Ölreichtum, welcher 80 Prozent der saudischen Bruttosozialproduktes ausmacht, unabhängiger werden.

 

Unter jungen Saudis herrscht Aufbruchstimmung und Enthusiasmus für die Reformen und den Kronprinzen – trotz schlimmer Menschenrechtsverletzungen, einem blutigen Krieg im Jemen und Gräueltaten gegen geachte Saudis. Dies konstatierte auch die deutsche Bundestagsabgeordnete der Grünen, Lamya Kaddor, bei einem Besuch des Königreichs im November. Auf die Ermordung in Istambul des renomierten Journalisten Jamal Khashoggi angesprochen antworteten ihr junge Saudis: »Niemand ist perfekt aber es geht voran«.

 

MBS, der mit spektakulären Aktionen, wie der Inhaftierung von Hunderten Mitgliedern der Königsfamilie und der Businesselite im Ritz Carlton von Ryad 2017 alle Rivalen ausschaltete, hat heute vermutlich mehr Rückhalt unter den Saudis als je zuvor.

 

Ein Fünftel der Bevölkerung lebt an der Armutsgrenze

 

Wie lange der so selbstsichere Machthaber jedoch mit seinem Kurs »Die Vision bin ich« durchkommen wird, hängt vor allem von einem Faktor ab: dem Ölpreis. Saudi-Arabien rechnet für 2022 mit einem Wirtschaftswachstum von acht Prozent, dem höchsten in einem Jahrzehnt. Dies liegt vor allem an dem durch die russische Invasion der Ukraine verursachten jährlichen Rekord-Ölpreis von über 95 Dollar pro Barrel. Jedoch wird für 2023 mit noch rund drei Prozent gerechnet. Und gemäß dem IWF braucht Saudi-Arabien Preise zwischen 69 und 79 Dollar pro Barrel, um einen ausgeglichenen Haushalt zu haben.

 

Saudi-Arabien hatte bereits vor dem erneuten Anstieg des Ölpreises durch den Krieg in der Ukraine wegen der Covid-Krise für einen Golfstaat eine extrem hohe Staatsverschuldung von über 30 Prozent und musste bei einigen Mammut-Projekten pausieren. Im Jahre 2020 lag der Durchschnittpreis bei rund 40 Dollar pro Barrel.  Sollte der Preis erneut so weit fallen, wird es kritisch für die Vision 2030 des Kronprinzen. Er könnte zum Anzugspunkt des Zornes werden. Eben weil die jahrzehntealte Konsens-Politik innerhalb der Königsfamilie beendet wurde und die Königsfamilie entmachtet wurde, existieren keine Blitzableiter mehr – dafür aber zahlreiche religiöse, regionale und politische Fliehkräfte: zum Beispiel die extrem konservativen Wahhabiten, die Anhänger der puristischen Gründungsideologie und Machstützen der Saudis, werfen MBS vor, er habe die Doktrin verraten.

 

Die trotz Repression immer noch sehr präsenten Muslimbrüder vertreten Ideen, die mit dem absolutistischen Herrschaftsanspruch des Kronprinzen nicht vereinbar sind: eine politische Auslegung des Islams, ein Mitspracherecht des Volkes. Unter den vier Millionen diskriminierten Schiiten im Osten des Landes, wo der Ölreichtum liegt, grollt es seit langem. Unzufrieden ist auch die Urbevölkerung der Region Hedschas mit den heiligen Orten Mekka und Medina. Die Region wurde erst in den 1920er Jahren von den Saudis erobert.

 

Auch ist Saudi-Arabien lange nicht so märchenhaft reich wie oftmals angenommen. Saudi-Arabiens Pro-Kopf-Einkommen liegt weltweit nur an der 44. Stelle, hinter dem von Portugal. Ein Fünftel der Bevölkerung lebt an der Armutsgrenze. Fällt der Ölpreis und entstehen keine neuen Jobs, dann würde MBS auch vermutlich unter seinen Fans der Mittelklasse immer weniger Rückhalt haben. Viele entmachtete Mitglieder der Königsfamilie warten nur auf ihren Moment.

Von: 
Asiem El-Difraoui

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