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Saudi-Arabiens Kronprinz und der Fall des Journalisten Jamal Khashoggi

Der Verfassungsfeind

Analyse
Kolumne Daniel Gerlach

Im Fall des verschwundenen Journalisten Jamal Khashoggi werden viele Fragen gestellt, allerdings nicht immer die richtigen. Denn in der Causa Khashoggi geht es nicht um die unterstellte Dummheit der Täter, sondern deren Skrupellosigkeit.

Haben Sie schon einmal die Rumelische Festung besichtigt? Es lohnt sich, unbedingt. Die meisten Istanbul-Reisenden sehen sie höchstens aus der Ferne, etwa wenn sie einen Bootsausflug zum Bosporus-Vorort Tarabya unternehmen. Es ist diese Burg dort, wo man gefühlt mit einem Steinwurf jedes vorbeifahrende Schiff treffen könnte. Sieht aus wie eine Filmkulisse, wurde aber tatsächlich unter Mehmed II. Fatih, dem Eroberer von Konstantinopel gebaut. 400 Janitscharen Besatzung hatte sie einst, ihre Kurtinen und Bastionen fügen sich malerisch in den Westhang ein und machen sie zu einem Meisterwerk der Festungsarchitektur.

 

Falls Sie sich demnächst einmal in der Nähe des saudischen Konsulats von Istanbul aufhalten: Bei mäßigem Verkehr sind es maximal 15 Minuten mit dem Taxi, Eintritt: zehn Lira. Ob demnächst ein paar baugeschichtlich interessierte saudische Touristen auftauchen und in einem der großen, saudisch finanzierten Nachrichtensender von der Rumeli Hisarı schwärmen? Nur deshalb seien sie eigens mit einem Privatjet für einen Tag nach Istanbul gekommen – mit einer kleinen Truppe von Freunden, die dieses, in Saudi-Arabien sonst eher selten anzutreffende Hobby teilen. Man hat wenig Zeit und gönnt sich ja sonst wenig im Leben.

 

»Schafft ihn mir vom Hals«

 

Der Fall Jamal Khashoggi bringt täglich neue Indizien, Vermutungen und forensische Details hervor. Im Mittelpunkt des Medieninteresses steht dabei die Frage, ob, aber vor allem wie Khashoggi von einem mutmaßlichen saudischen, oder zumindest mutmaßlich aus Saudi-Arabien beauftragten, Kommando getötet wurde. Man fragt nach dem Tathergang, dem Motiv – war Khashoggi wirklich so ein harter Kritiker des saudischen Regimes, dass man solche Risiken eingeht? – und dem, was schief gelaufen ist.

 

In diesem Zusammenhang kommen wir aber nicht umhin, nach der Mentalität und dem Weltbild derjenigen zu fragen, die andere zu solchen Taten dingen. Im Fall Khashoggi drängen sich Parallelen auf zu anderen Mordfällen – und das nicht wegen etwaiger politischer und diplomatischer Zerwürfnisse, die sie zur Folge hatten, ja nicht einmal aufgrund des Tatmotivs. Es ist vielmehr die Mentalität des Mörders und seiner Hinterleute. So wie man in der forensischen Psychiatrie versucht, die Frage zu beantworten, ob ein Täter zum Tatzeitpunkt in der Lage war, das Unrecht seines Handelns zu erkennen.

 

Wenn Khashoggi tatsächlich auf Geheiß des saudischen Staats getötet wurde, wusste die Regierungsspitze davon und hat die Operation autorisiert: Das mag nicht für König Salman zutreffen, der aus den täglichen Regierungsgeschäften weitgehend entfernt wurde, gewiss aber für den Kronprinzen Muhammad Bin Salman (MBS), der die Außen- und Sicherheitspolitik bestimmt. Grundsätzlich ist in solchen Fällen nicht auszuschließen, dass ein Herrscher einen solchen Auftrag als Kommando oder als Operationsbefehl formuliert: Letzteres kann sogar ein lapidares: »Schafft ihn mir vom Hals« bedeuten. Oder ein »Faîtes le nécessaire – tut das Nötige«, wie Frankreichs Präsident François Mitterand der Legende nach die Ausschaltung von Staatsfeinden auf anderen Kontinenten genehmigte.

 

Bei einem Charakter, wie ihn MBS gern von sich zeichnen lässt, kaum vorstellbar: Ein derart tatendurstiger Feldherr wird die Details einer solchen Operation erfahren wollen. Viele Beobachter fragen sich, ob der Tod Khashoggis, der nach Auskunft engerer Bekannter an einer chronischen Erkrankung litt, eine unbeabsichtigte – gleichwohl vorhersehbare – Folge von Gewaltanwendung und dem Einsatz von Sedativen während der Entführung war. Oder ob von Anfang an geplant war, ihn zu ermorden und seinen Leichnam in Einzelteile zu zerlegen.

 

Entführungen im Ausland mit falschen Krankentransporten haben saudische – ebenso wie türkisch, iranische, israelische, russische und viele andere Dienste – wohl bereits mehrfach erfolgreich durchgeführt. Und sie sind meisten damit davongekommen. Auch Morde an Dissidenten waren in den vergangenen Jahrzehnten keine Seltenheit: Wer allerdings im eigenen Konsulat ein solches Massaker verübt, hat entweder vollkommen den Bezug zu Realität und Risiken verloren, oder möchte ein furchtbares Exempel statuieren.

 

Wie skrupellos kann jemand sein?

 

Weil die Sache an der einen oder anderen Stelle schief gegangen ist, werden nun folgende Theorien in Umlauf gebracht: Die Sache sei entweder eine katarisch-türkische Verschwörung, um Saudi-Arabien zu diskreditieren. Oder aber Netzwerke der alten Garde im Sicherheitsapparat, die MBS weitgehend entmachtet habe, hätten sich durch Sabotage einer Operation rächen wollen.

 

Der Satz »So dumm kann niemand sein« ist schlechterdings keine gute Schablone, um auf den Hergang einer Tat Rückschlüsse zu ziehen: Wenn ein paar Dutzend Geheimdienstler und Sicherheitsexperten, die unter dem Druck eines ehrgeizigen Herrschers stehen, gemeinsam etwas auskochen, ist buchstäblich alles möglich. Aber kann jemand so skrupellos sein?

 

Vordergründig lassen sich Parallelen zu den Morden an Ibrahim Abdel Qadir, Fares Hamadi und Naji Al Jerf erkennen, den Mitgründern und Aktivisten des Mediennetzwerks »Raqqa is being slaughtered silently«, die 2015 in der Türkei getötet wurden: brutal und öffentlich, wenngleich der sogenannte Islamische Staat dafür die Verantwortung übernahm. Weshalb man mit einigem Recht hier von »IS-Methoden« sprechen kann.

 

Der Fall weist aber auch Parallelen auf zur Causa Skripal. Jenem russischen Ex-Spion und Doppelagenten, der gemeinsam mit seiner Tochter im März 2018 offenbar Opfer eines Giftanschlags durch Offiziere des russischen Militärgeheimdienstes wurde und nur knapp überlebte: in Salisbury, wo die mutmaßlichen Attentäter, wie sie später in einem Fernseh-Interview erklärten, die Marienkathedrale und den höchsten Vierungsturm von Großbritannien besichtigt hatten.

 

Für Russland Staatschef Wladimir Putin war Skripal, woraus er keinerlei Hehl machte, ein Verräter, der nicht davonkommen durfte, auch wenn er dem russischen Staat zu dieser Zeit nicht mehr gefährlich werden konnte. Es galt, ein Zeichen zu setzen und Angst zu verbreiten und dabei die Kunst zu beherrschen, die Täterschaft implizit anzuerkennen, aber keine eindeutigen Indizien zu hinterlassen und so Verschwörungstheorien zu befeuern. Wer würde schon so dumm sein, ausgerechnet ein sowjetisches Nervengift einzusetzen? Abermals die falsche Frage.

 

Oberflächlich scheint es, dass sich die saudische Führung an Putin längst ein Beispiel nimmt: Autoritäre, zentrale Herrschaft, spektakuläre Außenpolitik, um innenpolitisch zu mobilisieren, und die Strategie, dass es besser ist, gefürchtet, als geliebt zu werden. Diejenigen kalt zu überraschen, die noch immer sagen: Er wird doch nicht … Hinzu kommt die Verachtung, die Putin ebenso wie MBS für diejenigen empfinden, die ihr Land zuvor beherrschten: Schwächlinge, die es der Lächerlichkeit preisgaben, weil sie sich nicht trauten, zu kämpfen. Hinzu kommt, dass sich Riad und Moskau seit langer Zeit blendend verstehen und ein saudischer Zeitungskommentator jüngst warnte, man könne den Russen eine Militärbasis im Roten Meer eröffnen, wenn die USA sich schlecht benähmen.

 

Der saudische Terrorist ist der deutsche Verfassungsfeind

 

Welche Mentalität liegt aber einem solchen Vorgehen zugrunde? Zunächst ist da wohl das Gefühl der Allmacht und die Gewissheit, von niemandem zur Verantwortung gezogen zu werden und keinerlei Widerspruch zu erfahren. Auch nicht, wenn einem Maß und Urteilsvermögen längst abhandengekommen sind. Hinzu kommt eine archaische, wenn nicht totalitäre Definition von Verrat und Verrätertum – takhwin, das »jemanden zum Verräter zu erklären« bedeutet im Klartext: Wer wie Khashoggi aus dem inneren Kreis, aus einer bestimmen Loyalitätsgemeinschaft stammt, sich aber entfremdet und Zweifel an seiner Treue erkennen lässt, ist tötungswürdig. Ganz gleich, ob von ihm eine Gefahr für die Sicherheit des Staates ausgeht. Und schließlich die – im Westen bis heute kaum hinterfragte – Definition orientalischer Despotien dessen, was Terrorismus ist.

 

Schaut man sich die Semantik und den Gebrauch des Begriffs irhab (Terror) genauer an, so stellt man fest, dass damit längst nicht nur Aufständische gemeint sind, die Flugzeuge entführen oder Handgranaten in voll besetzte Restaurants werfen. Gemeint ist damit jeder, der etwas tut oder sagt, was die Grundfesten der staatlichen Autorität gefährdet. Der saudische Terrorist etwa ist eher gleichbedeutend mit dem, was man in Deutschland als »Verfassungsfeind« bezeichnet: etwa Atheisten, die den Koran, also das saudische Grundgesetzt ablehnen, zählen dazu, aber auch ein moderater Kritiker wie Jamal Khashoggi, der das Verhältnis zu den USA beschädigen kann, Sympathien für die geächteten Muslimbrüder hat und zu allem Überfluss noch zu den Vertrauten der alten saudischen Elite, der Erzfeinde von MBS, gehört.

 

Man kann über diese Einstellung erschüttert sein und vielleicht zu dem Schluss gelangen, dass es in diesem Kontext überhaupt keinen Sinn mehr macht, mit Systemen wie dem saudischen über Terrorismus zu reden. Und schon gar nicht über den angemessenen Umgang mit Feinden des Regimes. Wenn man sich fragt, warum sich bestimmte autoritäre Herrscher dazu ermächtigt fühlen, Staatsfeinde entführen und töten zu lassen, lohnt sich allerdings auch ein Blick in die eigene Geschichte: Die meisten Staaten, die nun in die Causa Khashoggi involviert sind, haben mit geheimen Kommando-Operation ihre eigenen Erfahrungen gemacht. Und wahrscheinlich auch zu einer Verrohung der internationalen Beziehungen beigetragen, in denen jeder das macht, was er will. Und womit er glaubt davonzukommen.

Von: 
Daniel Gerlach

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