Brände, Überschwemmungen, Dürre: Der Klimawandel trifft die Türkei mit voller Wucht. Nun könnte ausgerechnet Unternehmern gelingen, was Umweltschützer seit Jahren fordern.
Die Türkei ist ein Land, in dem eine neue Krise weniger als Überraschung, sondern beinahe als Alltäglichkeit daherkommt. Terroranschläge, der Putschversuch 2016, der autoritäre Umbau des Landes, die Wirtschaftskrise: Viele Türkinnen und Türken haben sich schon lange vor Covid daran gewöhnt, dass man auf vermeintlichen Gewissheiten lieber nicht bauen sollte.
Diese Krisenaffinität, die auch zu einer gewissen Resilienz geführt hat – ob man jetzt an Corona stirbt oder an einem Anschlag, was macht das schon für einen Unterschied? – wird dieses Jahr auf eine besonders harte Probe gestellt.
Den großen Feuern in den Küstengebieten an Mittelmeer und Ägäis folgten im August 2021 großflächige Überschwemmungen nach Starkregen in mehreren Städten am Schwarzen Meer. Zu Feuer und Überschwemmung kam Wasserknappheit. Ausbleibender Regen ließ die Pegel in den Wasserreservoiren im Großraum Istanbul auf den niedrigsten Stand seit 15 Jahren fallen.
Wo der Schleim längere Zeit den Meeresboden bedeckt, entstehen Todeszonen
Dazu gab es Dürren und damit einhergehendes Tiersterben in Anatolien sowie eine von Wissenschaftlern »Meeresrotz« (Deniz Salyası) getaufte Veralgung im Marmara-Meer. Genau wie die Waldbrände sind auch die anderen Phänomene nicht neu in der Türkei. Die Algenschwemme etwa tritt seit 2007 auf, nur eben nicht in dem Ausmaß wie dieses Jahr.
Bereits im August waren große Teile des Schleimteppichs abgesaugt, der sich zwischenzeitlich bis ins Schwarzmeer und die Ägäis ausgebreitet hatte. Aber das zugrunde liegende Problem ist so nicht gelöst. Das übermäßige Wachstum von Phytoplankton – einem Mix aus verschiedenen Algenarten und Bakterien – wird nicht nur durch die übermäßige Verschmutzung mit Phosphor am Industriestandort İzmit sowie die Einleitung anderer Abwässer der Millionenmetropole Istanbul hervorgerufen, sondern auch durch den Anstieg der Wassertemperatur im Laufe der letzten Jahre.
2020 war das drittheißeste Jahr in der Türkei seit 1971. Das Marmara-Meer, das nur durch die Dardanellen und den Bosporus mit Frischwasser versorgt wird, ist besonders betroffen. Der Temperaturanstieg hat gravierende Auswirkungen für Tourismus und Fischerei: Wo der Schleim längere Zeit den Meeresboden bedeckt, entstehen Todeszonen, in denen maritimes Leben nicht bestehen kann.
Angesichts dieser Vielzahl von Katastrophen liegt die Vermutung nah, dass der Klimawandel mittlerweile im öffentlichen Bewusstsein der Türken angekommen sein sollte. Aber anders als in Deutschland, wo es manchem Kanzlerkandidaten schwerfällt, das Thema von der Agenda zu drücken, ist Umweltproblemen in der Türkei meist nur kurz Aufmerksamkeit sicher.
Das Wachstumsmodell der AKP stützt sich stark auf den Bausektor
Denn die eingangs beschriebene Krisenanfälligkeit des Landes führt dazu, dass andere Schlagzeilen die Umweltkatastrophen schnell aus den Medien verdrängen. Der Regierung, aber auch der Opposition ist das scheinbar recht, denn umweltpolitisch haben die wenigsten Parteien vertiefte Expertise oder Politikvorschläge zu bieten.
Der Staat hat in den letzten Jahrzehnten mit der rapiden Modernisierung von Wirtschaft und Infrastruktur den Türkinnen und Türken große Wohlfahrtsgewinne verschafft – oft aber auch auf Kosten von Umwelt- und Naturschutz. Das Wachstumsmodell der Regierungspartei AKP stützt sich stark auf den Bausektor, der in den letzten 20 Jahren nicht nur dazu beigetragen hat, eine oft marode Infrastruktur zu modernisieren, sondern auch im großen Stil ganze Landschaften mit Beton versiegelte.
In einem Land, in dem die Jugendarbeitslosigkeit bei 24 Prozent (2020) liegt und gut ein Drittel der arbeitenden Bevölkerung nur den Mindestlohn von umgerechnet 350 Euro erhält, sind Umweltprobleme schlicht nicht die größte Sorge vieler Menschen. Dass die wesentlich höhere Folgekosten verursachen können, ist bisher nicht Teil der Diskussion.
Wie in vielen aufstrebenden Schwellenländern ist die Modernisierung in der Türkei mit einem riesigen Energiehunger verbunden. Die Türkei ist das Land, dessen Energieverbrauch im OECD-Raum seit 2002 mit 5,5 Prozent pro Jahr am stärksten angestiegen ist. Der Großteil dieses Verbrauchs wird weiterhin mit heimischer Kohle gedeckt. Damit ist die Türkei zusammen mit Deutschland und Polen in Europa auf einem der vordersten Plätze bei den Kohlesündern. Im OECD-Vergleich liegt die Türkei auf Platz acht der Verursacher von Treibhausgasen (Deutschland: Platz drei).
Die türkische Kohle gehört bisher zu den wenigen fossilen Energieressourcen, die das Land nicht importieren muss
Verantwortlich dafür ist neben dem Transportsektor vor allem die Energieerzeugung. Was den Pro-Kopf-Verbrauch angeht, liegt das Land zwar aufgrund seiner großen Bevölkerung am unteren Ende der Skala, doch das Grundproblem der schmutzigen Energieerzeugung im Land bleibt ungelöst.
Die türkische Kohle, deren Brennwert zu gering für den Export ist, gehört bisher zu den wenigen fossilen Energieressourcen, die das Land nicht importieren muss. Der Bezug von Gas und Öl aus Russland, Iran und Irak haben der Türkei ein enormes Außenhandelsdefizit beschert. Auch nicht umweltbewegte Politiker der AKP haben also eigentlich einen guten Grund, auf den Ausbau der erneuerbaren Energien zu setzen.
Und dort gibt es auch Fortschritte: Von den heute 97.000 Megawatt Leistung, die türkische Kraftwerke erzeugen, werden 44 Prozent (Stand 2019) aus erneuerbaren Quellen gewonnen. Das entspricht einem Zuwachs von 194 Prozent seit 2010. Im Vergleich ist die aus Kohle gewonnene Energie im gleichen Zeitraum aber ebenfalls um 96 Prozent gestiegen und trägt heute noch rund 37,3 Prozent (Stand 2018) zum türkischen Energiemix bei. Gerade der hohe Bedarf der Industrie wird nur zu zwei Prozent aus erneuerbaren Quellen gedeckt.
Während das Land in den letzten Jahren verstärkt Solar- und Windkraftanalgen ausbaut, wird ein großer Teil des regenerativen Stroms weiterhin aus Talsperren gewonnen. Der Ausbau besonders in der bergigen Schwarzmeerregion besorgt nicht nur Naturschützer, sondern bringt aufgrund der negativen Auswirkungen für die Landwirtschaft auch die bäuerliche Landbevölkerung gegen die Regierung auf.
Im Kleinen entstehen Allianzen zwischen ländlicher, sonst eher AKP wählender Landbevölkerung und urbanen Naturschützern aus der Mittelschicht
Proteste, die durchaus mehrere Hundert Menschen anziehen, werden von den Sicherheitskräften meist gewaltsam aufgelöst. So entstehen hier im Kleinen oft Allianzen zwischen ländlicher, sonst eher AKP wählender Landbevölkerung und urbanen Naturschützern aus der Mittelschicht. Wäre diese Bewegung besser koordiniert und etwas homogener, könnte sie durchaus zum Problem für die Regierung werden, die auf politische Polarisierung setzt.
Dabei ist Präsident Recep Tayyip Erdoğan, anders als man es von vielen anderen Populisten kennt, kein Leugner des Klimawandels. Die Regierung engagiert sich bei den sogenannten COP-Verhandlungen der Vereinten Nationen, das grundsätzliche Problem des menschengemachten Klimawandels erkennt die Regierung an.
Der Präsident und dessen Umfeld äußern sich durchaus zu umweltpolitischen Fragen; seine Frau Emine setzte sich vor einigen Jahren an die Spitze einer sehr erfolgreichen Kampagne, die den Einsatz der im Land allpräsenten Plastiktüten in den Supermärkten einschränkte. Allerdings ist auch klar: Umweltschutz ist zweitrangig, weil sich so kaum Wählerzustimmung oder Patronage-Gewinne für die AKP erzielen lassen.
An erster Stelle der politischen Agenda steht daher weiterhin der wirtschaftliche Aufschwung, mag es aktuell um ihn auch noch so schlecht bestellt sein und mag er auch auf Kosten der nachfolgenden Generationen gehen. Darin unterscheidet sich die politische Führung in Ankara wenig von der vieler anderer Staaten.
Ankara hat das Pariser Klimaschutzabkommen zwar unterzeichnet, weigert sich aber, es zu ratifizieren
Die türkische Regierung argumentiert dabei ähnlich wie in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern: Es könne nicht sein, dass »der Westen«, der seinen wirtschaftlichen Aufschwung über CO2-basierte Industrien finanziert habe, jetzt Ländern wie der Türkei so einen Aufstieg verwehren wolle. So hat Ankara das Pariser Klimaschutzabkommen zwar unterzeichnet, weigert sich aber als nur einer von sechs Unterzeichnerstaaten es zu ratifizieren.
Der Grund: Das Land wird im UN-Klimarahmenprotokoll in den »Annexes 1 & 2« als Industrieland geführt. Diese Listung geht auf den Anfang der Konvention 1992 zurück, bei der alle OECD-Mitgliedsstaaten als solche eingestuft wurden. Die Türkei, OECD-Mitglied seit 1961, nimmt für sich in Anspruch, dass sie zwar einerseits wichtiger Industriestaat der G20 sei, andererseits aber nicht den gleichen Anforderungen unterliegen sollte wie wirtschaftsstärkere Länder.
Wahr ist, dass Länder mit wesentlich höherem Industrialisierungsgrad wie Südkorea nicht in den Annexen gelistet sind, weil sie erst später der OECD beitraten. Wahr ist aber auch, dass wesentlich wirtschaftsschwächere Länder wie die Ukraine oder Weißrussland ebenfalls dort aufgeführt sind. Nach Ansicht der Türkei könne man das Protokoll nicht ratifizieren, bevor sich diese Einordnung nicht ändert. Denn nicht nur würden der Türkei höhere CO2- Einsparungen auferlegt als einem Entwicklungsland, vor allem könne man nicht von Finanzspritzen aus der sogenannten Klimafazilität profitieren.
So bleiben die Klimaziele des Landes weiterhin im Ungefähren. Die bisher in den Verhandlungen zugesagten 21 Prozent CO2-Einsparungen bis 2030 halten Fachleute für unrealistisch beziehungsweise schöngerechnet, da die Regierung nicht vorzuhaben scheint, ihre Industriepolitik infrage zu stellen.
Mit dem »European Green Deal« legt der wichtigste Handelspartner der Türkei relativ eindeutige Klima- und CO2-Einsparungsziele vor
Neben einer Bevölkerung, die immer stärker von katastrophalen Auswirkungen des Klimawandels betroffen ist, wie die Waldbrände zeigen, könnte die Regierung allerdings bald noch unter Druck von dort geraten, wo es sie am meisten trifft: seitens der Privatwirtschaft.
Viele Geschäftsleute – etwa die im Verband TÜSIAD zusammengeschlossenen Industriellen, die 80 Prozent des Außenhandels verantworten – haben Angst, den Anschluss zu verlieren. Denn mit dem von der EU verkündeten »European Green Deal« legt der wichtigste Handelspartner der Türkei relativ eindeutige Klima- und CO2-Einsparungsziele vor.
Zwar ist vieles an der Strategie noch unklar und muss weiterverhandelt werden, vorgesehen ist aber ein sogenannter Grenzausgleichsmechanismus. Der soll bei höherer CO2-Bepreisung innerhalb der EU europäische Firmen wettbewerbsfähig halten: Exporte in die EU, die aus Ländern kommen, die nicht CO2-neutral arbeiten, sollen dann mit zusätzlichen Strafzöllen belegt werden. Der Schaden für die exportorientierte türkische Wirtschaft wäre enorm.
Vielleicht wird der Einfluss der türkischen Industrie das vermögen, was Klimaforscher und Umweltaktivisten bisher nicht konnten: ein Umdenken der türkischen Führung einleiten. Bisher stellt sich die Regierung auf den Standpunkt, die EU solle doch erst mal die Anreize erhöhen, damit der Klimaschutz für Ankara attraktiv würde. Nach dem verheerenden Brandsommer mag sich vielleicht auch nach und nach bei weiteren Teilen der Öffentlichkeit die Erkenntnis durchsetzen, dass das eine Milchmädchenrechnung ist.
Kristian Brakel ist Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung Istanbul.