In den Tempeln von Baalbek zeigt sich: Gegen die Mysterien des Orients kommt am Ende niemand an. Nicht einmal die Römer.
Als ich vor über 20 Jahren zum ersten Mal nach Baalbek kam, begegnete ich dort einem älteren Mann, der mich fragte, ob ich glaubte, dass Menschen dieses Wunderwerk vollbracht hätten. Als ich ihn erstaunt ansah, lächelte er wissend und flüsterte: »Das waren die Dschinn!«. Dass die Geister und Dämonen, die im Koran erwähnt sind, Baalbek erbauten, war über Jahrhunderte keine Spinnerei, sondern die Erkenntnis seriöser Wissenschaft.
Schon der Steinbruch etwa 900 Meter vor dem Heiligtum von Baalbek gibt Rätsel auf. Hier liegen gigantische Monolithen aus kreidezeitlichem Kalkstein. Einer davon, der den seltsamen Namen »Stein der schwangeren Frau« trägt, ist ein etwa 20 Meter langer Quader, der an seiner massivsten Stelle vier mal fünf Meter misst. Schon ein österreichischer Pilger im 16. Jahrhundert, der Ritter Martin von Baumgarten, berichtete davon. In jüngster Zeit fanden deutsche und österreichische Grabungen zwei weitere Monolithen dieses Ausmaßes. Generationen von Forschern und Privatgelehrten haben versucht zu rekonstruieren, wie diese Kolosse transportiert und aufgerichtet wurden. Spannte man sie in hölzerne Räder und zog sie mit Ochsen fort? Ein vergleichbares Unterfangen ist aus der Neuzeit – also rund anderthalb Jahrtausende später – dokumentiert, wenn auch nur ein einziges Mal: Für die Aufrichtung des berühmten, 300 Tonnen schweren »vatikanischen Obelisken« auf dem Petersplatz in Rom benötigte der Renaissancearchitekt Domenico Fontana 900 Mann, 150 Pferdestärken und 47 Seilwinden.
Einige Jahrzehnte später, der Vordere Orient stand damals unter der Herrschaft des Osmanischen Reichs, reiste ein Gelehrter namens Abd al-Ghani al-Nabulusi (1641–1731) aus Damaskus immer wieder nach Baalbek und stellte Forschungen zum Entstehen der kolossalen Tempel an. Aus heutiger Sicht wirkt er ein wenig wie der Schweizer Erich von Däniken, der Erfinder der »Prä-Astronautik«, die davon ausgeht, dass die großen Baudenkmäler der Antike auf den Einfluss Außerirdischer zurückzuführen seien. Aber Nabulusi ging es deutlich ernster an. Er verfasste eine Art kunsthistorischen Bericht, beschrieb den Stilmix, das verbaute Material und die Epochen. Für Nabulusi (dessen Memoiren unter anderem der in Kalifornien lehrenden Osmanist Nir Shafir ausgewertet hat) war aber grundsätzlich klar: Nicht Menschen, sondern Dämonen hatten Baalbek errichtet – die Dschinn, die aus rauchlosem Feuer geschaffen waren und übermenschliche Kräfte aufbringen konnten.
Im Akkord beschlugen sie die Steine. In klaren Nächten und an nebelschwangeren Tagen schleppten sie Säulen durch die Lüfte, setzten behauene Blöcke darauf und hinterließen ihre kunstvollen Ornamente an Kapitell und Deckensturz.
Die Dschinn müssen launisch, aber produktiv gewesen sein
Nabulusi durchstreifte den Tempelbezirk und fand überall Belege für das Wirken dieser Geister: Die mächtigen Architrave, welche oben auf den 20 Meter hohen Säulen ruhten, erschienen ihm als Fundamente eines Palastes, der einmal hoch im Himmel geschwebt haben musste. Zisternen konnten nur jene »Bassins ohne Boden sein«, welche die Dämonen einer Überlieferung nach zum Vergnügen ihres Herrn angelegt hatten. Und Nabulusi wusste auch etwas über die Identität ihres Auftraggebers: Es musste einer sein, der die Sterne und Himmelskörper lesen und sich deren magische Kraft nutzbar machen konnte. Einem anderen würden die fleißigen, aber launischen Dämonen niemals gehorcht haben. Es konnte also nur König Salomo höchstselbst gewesen sein, jener biblische, auch im Islam verehrte Herrscher, der seiner geliebten Königin von Saba einen himmlischen Palast anlegte.
»Und Salomo machten wir den Wind dienstbar«, so steht es in einem Buch, das Nabulusi auswendig gekannt haben dürfte. »Und von den Dschinn gab es welche, die unter ihm auf Geheiß seines Herrn arbeiteten. Und sollte einer von ihnen sich von Unserem Befehl abwenden, so würden Wir ihn die Strafe des flammenden Feuers kosten lassen«, heißt es weiter in der 34. Koransure.
Die Dschinn waren im Koran ausführlich beschrieben; es konnte also kein Zweifel an ihrer Existenz bestehen. Wo sonst sollte der Schauplatz ihres Wirkens sein, wenn nicht hier, in Baalbek, der spektakulärsten aller Ruinen? Auch der Figur des Salomo (Arabisch: Sulaiman) kam zu Nabulusis Zeit eine besondere Bedeutung zu: 1689, als der Damaszener seine erste Forschungsreise nach Baalbek unternahm, herrschte auf dem osmanischen Thron in Konstantinopel ein Padischah mit Namen Süleyman II. Ein Jahrhundert zuvor hatte dessen Namensvetter Süleyman, genannt »der Prächtige«, die antiken Schätze des Vorderen Orients durchforsten lassen, um Spolien für seine Prachtbauten und Moscheen in Konstantinopel zu beschaffen: aus Marmor, Porphyr und Rosengranit.
Führt die Lösung des Rätsels von Baalbek nach Jerusalem?
Schon die von den Osmanen eroberte byzantinische Kaiserkirche Hagia Sophia war nach dem Vorbild des Tempels Salomons errichtet. Dafür hatte man Säulen aus Baalbek entwand. Die Süleymaniye-Moschee des Padischahs sollte dem nun in nichts nachstehen. So knüpften Süleyman I. – und später auch sein glückloser Nachfahre Süleyman II. – an das Erbe des für seine Weisheit berühmtesten aller biblischen Könige an.
Für Nabulusi war jedenfalls der Beweis erbracht: Er hatte den Palast Salomos gefunden. Wir müssen heute davon ausgehen, dass er Unrecht hatte. Aber es gibt dennoch einen Bezug zwischen Baalbek und der biblischen Geschichte, der erst in jüngster Zeit ermittelt wurde. Womöglich hatte nämlich ein Bauherr, der uns auf dieser Reise bereits begegnet ist, Anteil an den Ursprüngen dieses Meisterwerks: König Herodes der Große in Jerusalem. Dafür spricht nicht nur die Chronologie – Herodes herrschte im ersten vorchristlichen Jahrhundert und war ein Bundesgenosse der Römer –, sondern sprechen auch einige stilistische Gemeinsamkeiten. Beim Bau des sogenannten Herodianischen Tempels in Jerusalem wurden ähnlich kolossale Steine verwendet wie in Baalbek, mit ähnlich auffälligen Proportionen. Es könnte also sein, so resümiert der italienische Physiker Giulio Magli in einem 2019 erschienen Sammelband mit dem Titel »Archaeastronomy in the Roman World«, dass die Ingenieure von Baalbek von den Baumeistern des Herodes lernten.
Allein das Podest, auf dem der berühmte Jupitertempel von Baalbek ruht, beinhaltet drei Megalithen von jeweils rund 800 Tonnen. Die massiven Säulen, die in der Antike den Jupitertempel umgaben, von denen heute noch sechs zu sehen sind, ragen fast 20 Meter in die Höhe. Wer davorsteht, ist tatsächlich geneigt zu glauben, dass hier übermenschliche Kräfte am Werk waren – oder am besten über dem Erdboden schwebende Raumschiffe, welche die Kolosse einen nach dem anderen mit Stahlseilen senkrecht stellten, bis das Tagwerk vollendet war und der extraterrestrische Polier am Boden den Helm absetzen konnte.
Die Spuren der Erbauer sind dennoch äußerst menschlich – und darüber hinaus bescheiden. Am oberen Schaftende einer der kolossalen Säulen hinterließ ein Steinmetz ein Graffito mit einem Datum, das einen Anhaltspunkt für die Bauzeit des Jupiterheilig- tums gibt: Es ist der 2. August des Jahres 60. Vermutlich ein heißer Tag hier in der libanesischen Bekaa-Ebene; die Baumeister von Baalbek dürften ordentlich geschwitzt haben. Es war die Herrschaftszeit des Kaisers Nero, der weniger als Bauherr, sondern als notorischer Brandstifter in die Geschichte eingegangen ist. (Während man in Baalbek an einem Prunkwerk römischer Zivilisation schuftete, ließ der Gottkaiser der Legende nach seine Mutter Agrippina im Tiber mit einem eigens dafür angebohrten Schiff ertränken.) Aufgrund dieser Datierung nimmt man an, dass das Herz der Tempelanlage von Baalbek unter der julisch-claudischen Dynastie entstand.
Jupiter, Sol Invictus und der 25. Dezember
Wobei es Zeit wird, ein wichtiges Detail zu erklären, nämlich was es mit dem Namen Heliopolis auf sich hat, wie dieser Ort bei den Römern hieß: die Stadt der Sonne. Womit zweierlei gemeint sein konnte, das wiederum eins ergab: jener an seiner Oberfläche rund 5700 Grad heiße Zwergstern im Zentrum unseres Planetensystems und Helios, der strahlende Sonnengott.
Wem galt nun dieser Tempelbezirk: Jupiter oder dem Sonnengott? Man ahnt schon, wohin solche Bemühungen um Klarheit führen. Auch hier lautet die Antwort: Es kommt darauf an. Am Eingang zum Altarhof liegt beinahe unübersehbar ein Steinblock mit einem eingravierten, aufschlussreichen Kürzel: »I. O. M. H.«. Die ersten drei Buchstaben finden sich an vielen Tempeln der Römerzeit. Sie stehen für »Jupiter, Optimus, Maximus«, den besten und höchsten Göttervater. Hier gibt es aber noch den Zusatz »Heliopolitanus«, womit man den römischen Gott sozusagen zum Einheimischen machte. Die Erbauer des Tempels von Heliopolis wollten damit ganz offensichtlich die Verehrung Jupiters in der orientalischen Provinz promoten und dessen Bewohner in das Imperium »integrieren«. Ähnlich wie bei heutigen Integrationsdebatten dachte man schon damals: Das Zusammenleben klappt besser, wenn man mehr oder weniger denselben Göttern huldigt und eine gemeinsame Identität ausprägt, was im Regelfall heißt, dass man die der Sieger übernimmt.
Von der Eroberung Syriens und der Levante durch den Feldherrn Pompeius im Jahr 63 v. Chr. bis in die Spätantike hinein blieb die Region Teil des Römischen Reichs. Politisch, militärisch und wirtschaftlich konnte man den Römern wenig vormachen. In Sachen Religion aber konnten wiederum die Eroberer den nahöstlichen Kulturen nicht das Wasser reichen. Die hatten nicht nur schon ihre Götter, sondern offenbar auch die interessanteren Mythen und Mysterien. Das religionspolitische Bemühen, die Marketingkampagnen Roms schlugen fehl und wurden schon bald nur noch pro forma verfolgt.
Bei den Saturnalia im Dezember hat sich so mancher überfressen
Die Invasion der orientalischen Götter und Mysterienkulte war gleichwohl nicht aufzuhalten, was uns zurück nach Baalbek führt. Dort nämlich lässt sich beobachten, wie der römische Versuch, den Gott Jupiter in Syrien zu beheimaten, zugleich das Gegenteil beförderte: Jupiter Optimus Maximus Heliopolitanus verschmolz mit orientalischen Sonnengottheiten, etwa mit Schams, dem die Bewohner Palmyras in Syrien huldigten. Als griechischer Gott Helios war Sol im Römischen Reich bereits seit langer Zeit bekannt. Im 3. Jahrhundert aber erstrahlte er als »Sol Invictus« – die unbesiegte Sonne – noch heller als zuvor. Mehrere Kaiser wählten Sol zu ihrer Schutzgottheit. Auf Münzen tauchte der Strahlenkranz auf, der später auch als »Heiligenschein« die Häupter berühmter Persönlichkeiten schmücken sollte. Konstantin, angeblich der erste christliche Kaiser des Imperiums, errang seine Siege wahlweise im Zeichen des Kreuzes und der Sonne.
Die Geburt des Sonnengottes war ein Datum, das sich leicht bestimmen ließ: Die Wintersonnenwende, an der die Tage wieder länger werden und der Siegeszug der Sonne über das Jahr beginnt. Dank babylonischer Astronomen hatten die Griechen und Römer Zugang zu einer guten Datenlage, um die Welten der Götter und der Gestirne miteinander in Einklang zu bringen. In den dunklen Tagen, da das eine Sonnenjahr sich dem Ende neigte und ein neues geboren wurde, feierten die Römer die Saturnalia, ein rauschendes Fest nach dem Motto: Ende gut, alles gut. Wie manche Menschen heute Ende Dezember ihre sonst nicht gern gesehen Verwandten einladen und bewirten, so bedienten römische Herren ihre Sklaven. Es wurde aufgetischt, was die Vorratskammern an Speisen und Wein zu bieten hatten.
Manche dürften sich nach einer Woche mindestens so überfressen gefühlt haben wie unsereiner nach dem Zweiten Weihnachtstag. Nun wurde in der Spätantike ein neuer Feiertag hinzugefügt: Der Geburtstag des Sol Invictus (»dies natalis solis invicti«), der laut dem damals gebräuchlichen Kalender auf den 25. Dezember fiel. Heute findet die Wintersonnenwende kalendarisch vier Tage früher, am 21. Dezember, statt. Ein Datum, das uns bekannt vorkommen dürfte.
Wer die Baalbeker zum Christentum bekehren wollte, dem erging es schlecht
Zu dieser gewiss nicht zufälligen Gemeinsamkeit zwischen dem Geburtstag Sols und dem christlichen Weihnachtsfest, kursieren bis heute diverse Deutungen: Einige meinen, das Christentum, das Ende des 4. Jahrhunderts Staatsreligion wurde, habe das Weihnachtsfest dorthin gelegt, um den Sonnenkult zu überschreiben. Demnach verehren wir in der Heiligen Nacht eigentlich den heidnischen Sol Invictus.
Andere vermuten, mit dem Geburtstag der Sonne hätten die letzten heidnischen Imperatoren das immer stärker und selbstbewusster auftretende Christentum verdrängen wollen: quasi als sakrales Konkurrenzprodukt. Für die frühen Christen dürfte in jedem Fall klar gewesen sein, dass der Heiland nicht an irgendeinem Tag zur Welt gekommen sein kann. Und welches Datum könnte sich dafür besser eigenen, als das, an dem das Jahr wiedergeboren wird und die Dunkelheit allmählich wieder verschwindet. »Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben«, so heißt es schließlich im Evangelium des Johannes.
Der orientalische Mysterienkult der »Christianoi« setzte sich letzendlich durch im Imperium Romanum. In Baalbek aber hielten sie noch lange danach an der Verehrung des Sonnengottes – vermutlich in Gestalt des Jupiter Heliopolitanus – fest. Etliche Bischöfe, die in römischer und byzantinischer Zeit den störrischen Bewohnern der Bekaa-Ebene ihre heidnischen Kulte verbieten wollten, bezahlten dafür mit Knochenbrüchen. Einen, den Diakon Kyrill, sollen sie der Legende nach nicht nur erschlagen, sondern auch noch aufgegessen haben.
Die christlichen Chroniken erwecken gar den Eindruck, als sei es nie wirklich geglückt, die Bewohner von Heliopolis zum wahren Glauben zu bekehren. Womöglich lebten hier noch Heiden, als im 7. Jahrhundert die arabisch-muslimischen Eroberer eintrafen. Wer wollte schon in einer langweiligen byzantinischen Backsteinkirche das Abendmahl begehen, wenn man in den Tempeln des Jupiters, des Bacchus, der Venus und des Sol spektakuläre Kulte feiern und dabei noch selbst angebautes Opium konsumieren konnte? Man kann es den Baalbekern kaum verübeln, dass sie an dem festhielten, was die besten Baumeister der Antike ihnen da vor ein paar Jahrhunderten buchstäblich auf den Acker gestellt hatten. Und wofür die Dschinn des Königs Salomo einst im Akkord geschuftet hatten.
Der hier in gekürzter Fassung präsentierte Text ist ein Auszug aus dem Buch »Die letzten Geheimnisse des Orients – Meine Entdeckungsreise zu den Wurzeln unserer Kultur« von Daniel Gerlach (C. Bertelsmann 2022). Zur gleichnamigen Dokumentation in der ZDF-Mediathek geht es hier.