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Der Krieg im Jemen und Heuschrecken in Ostafrika und der Arabischen Halbinsel

Der Krieg und die Heuschrecken

Analyse
Der Krieg im Jemen und Heuschrecken in Ostafrika und der Arabischen Halbinsel
Wikimedia Commons

Ostafrika, Iran und die Arabische Halbinsel kämpfen mit der größten Heuschrecken-Plage seit Jahrzehnten. Was wie eine Naturkatastrophe wirkt, hat seinen Ursprung im Jemen-Krieg.

 

»Eine Plage biblischen Ausmaßes« und »in modernen Zeiten beispiellos« – so beschreibt eine Erklärung von UN-Organisationen die aktuelle Heuschrecken-Situation in Ostafrika. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten erleben Länder wie Kenia oder Kongo massive Heuschrecken-Invasionen – die Ernährungssicherheit vieler Millionen Menschen steht auf dem Spiel. Bereits Mitte Februar forderte die Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) Soforthilfen in Höhe von 138 Millionen US-Dollar zur Bekämpfung der Insekten.

 

Die apokalyptisch anmutenden Schwärme bestehen aus Wüstenheuschrecken – laut der FAO die »zerstörerischsten aller Heuschreckenarten«. Die Insekten können täglich bis zu 150 Kilometer zurücklegen und überfliegen problemlos das Rote Meer. Ein kleiner Schwarm von der Größe eines Quadratkilometers besteht aus bis zu 80 Millionen Insekten und kann so viel Nahrung zu sich nehmen wie 35.000 Menschen – große Schwärme können mehrere hundert Quadratkilometer umfassen.

 

Normalerweise leben diese Insekten als Einzelgänger und meiden ihre Artgenossen. Doch unter bestimmten Umständen finden sich die Tiere zusammen und bilden Schwärme. »Wenn die Lebensräume der Wüstenheuschrecken durch Regen ergrünen, vermehrt sich die Population rasant. Sobald der Boden wieder austrocknet, findet sich plötzlich eine riesige Anzahl hungriger Insekten auf immer kleiner werdenden Grünflächen«, erklärt Dr. Steve Rogers vom Zoologischen Institut der Universität Cambridge im Gespräch mit zenith. »Um dem sicheren Tod zu entkommen, müssen sie weiterziehen. In einem Akt völliger Verzweiflung brechen sie daher in Schwärmen auf, um fruchtbarere Regionen zu finden.«

 

Invasionen der Wüstenheuschrecken sind die wohl älteste Plage der Welt und sind historisch gesehen gar nicht so selten – allein das 20. Jahrhundert erlebte fünf mehrjährige Plagen. »Die letzte große Heuschreckenplage dauerte von 1950 bis 1962«, erläutert Dr. Michel Lecoq, Insektologe und ehemaliger Direktor des Heuschreckenprogramms am »Centre de coopération internationale en recherche agronomique pour le développement« (CIRAD) in Paris. »Damals waren alle Länder von Mauretanien bis Indien betroffen.«

 

Bereits in wenigen Wochen werden 20-mal so viele Insekten schlüpfen, sowohl in Ost-Afrika wie auch im Jemen, in Iran und in Pakistan.

 

Erst seit Anfang der 1960er Jahre konnte die katastrophale Zerstörungskraft der Insekten eingedämmt werden. Die Gründe dafür, so Lecoq, lagen einerseits in neuen Forschungen über die Ausbruchsursachen, durch die eine effektive Präventionsstrategie möglich wurde. Andererseits begann man in den 1960er und 1970er Jahren nicht nur mit der Verwendung effektiverer Pestizide, sondern setzte auch Flugzeuge zur Bekämpfung sowie Satelliten zur Beobachtung der Wettersituation ein. Auf diese Weise konnten die regelmäßigen Ausbrüche schnell eingedämmt werden.

 

Der Ausgangspunkt für die aktuelle Heuschrecken-Plage war ein Zyklon: Im Mai 2018 traf »Mekunu« den Süden der Arabischen Halbinsel und führte dort zu starkem Regen, wodurch der normalerweise unwirtliche Lebensraum der Wüstenheuschrecken aufblühte. Normalerweise stellt das kein großes Problem dar: Die Wüste trocknet schnell wieder aus und verhindert eine Fortpflanzung im großen Stil.

 

Doch in diesem Fall traf ein zweiter Zyklon die Region, die Landschaft blieb grün und innerhalb weniger Monate hatten sich die Heuschrecken bereits um das 8.000-fache vermehrt und entlang der Küste des Roten Meeres, am Golf von Aden sowie ins Innere der Arabischen Halbinsel verteilt. Da die Bedingungen weiterhin förderlich waren, wuchsen die Schwärme von Generation zu Generation – etwa um das 20-fache in drei Monaten. Auf der Suche nach Nahrung und guten Brutplätzen erreichten die Tiere im Oktober 2019 das Horn von Afrika und Anfang 2020 Iran, Pakistan und mit dem Irak sogar ein Land, in dem seit Ewigkeiten keine Wüstenheuschrecken mehr aufgetaucht waren.

 

Dennoch erlebt die Region wohl noch die Ruhe vor dem Sturm, meint Keith Cressman, der bei der FAO für die Analyse und Vorhersage von Heuschreckenschwärmen zuständig ist. »Die Heuschrecken haben ihr Lebensziel erreicht, indem sie Eier gelegt haben und dann gestorben sind.« Genau diese Eier sind das Problem: Bereits in wenigen Wochen werden 20-mal so viele Insekten schlüpfen, sowohl in Ost-Afrika wie auch im Jemen, in Iran und in Pakistan. Die sich neuformierenden Schwärme werden genau dann Flügel bekommen und hungrig durchs Land ziehen, wenn die Erntesaison näher rückt.

 

»Der Jemen wurde quasi zum Urlaubsort für die Heuschrecken: perfekte Bedingungen und niemand, der sie belästigt«

 

»Wie bereits bei früheren Plagen besteht auch aktuell die Gefahr, dass die Schwärme im Juni oder Juli Richtung Westafrika migrieren und sich auch dort ausbreiten werden«, so Lecoq. Dann wären erstmals seit über 60 Jahren wieder alle Länder im potenziellen Einzugsgebiet der Heuschrecken betroffen. Simulationen des CIRAD prognostizieren, dass die Schwärme bereits im Juni den Tschad erreichen könnten – was vermutlich den Start einer Invasion in Westafrika bedeuten würde.

 

Im Süden der Arabischen Halbinsel sowie am Persischen Golf und der Küste des Roten Meeres sind Heuschrecken hingegen keine Seltenheit – im Gegenteil: »Nicht nur der Jemen, sondern auch Oman, Iran und Saudi-Arabien verzeichnen jedes Jahr Heuschreckenpopulationen«, so Keith Cressman. Daher seien diese Länder bestens vorbereitet: »Mit hochausgebildeten und bestens ausgerüsteten Teams bekämpfen sie Jahr für Jahr kleine Schwärme sehr effektiv«, so der FAO-Experte.

 

Auch das regnerische Wetter seit 2018 kann nicht allein für die aktuelle Krise verantwortlich gemacht werden: So können Wetterphänomene wie Zyklone durch den Klimawandel häufiger auftreten, neu sind sie für die Region dennoch nicht. Außerdem »spielt das überhaupt keine Rolle für die Heuschrecken-Plage – zumindest nicht solange Beobachtungen und Kontrollen in den betroffenen Gebieten konsequent durchgeführt werden«, so Lecoq. »Das Problem tritt erst dann auf, wenn die präventiven Maßnahmen ausfallen.«

 

Der eigentliche Grund für die aktuelle Heuschrecken-Situation liegt im Jemen. »Vor dem Krieg verfügte das Land über ein gutes Heuschrecken-Programm«, erzählt Cressman, »doch das ist inzwischen vollkommen kollabiert – das Hauptquartier in Sanaa wurde sogar mehrmals geplündert.« Dementsprechend findet die Insektenbekämpfung im Jemen kaum mehr statt. Als dann 2018 der Regen begann, »wurde der Jemen quasi zum Urlaubsort für die Heuschrecken: perfekte Bedingungen und niemand, der sie belästigt.«

 

Die Invasion der Heuschrecken ist keine reine Naturkatastrophe.

 

Der Jemen wurde zum regionalen Heuschrecken-Reservoir. Von hier aus machten sich die Insekten auf den Weg – einerseits Richtung Norden durch Saudi-Arabien und in die Golfregion, und andererseits über das Rote Meer nach Ostafrika. »Der Jemen ist der Ursprung der Heuschrecken-Invasion in Ostafrika«, so der FAO-Experte.

 

Damit ergibt sich eine neue Perspektive: Die Invasion der Heuschrecken ist keine reine Naturkatastrophe – der Ausbruch hat auch politische Gründe. »Schon in den Jahren 1987 und 2004, den letzten beiden größeren Ausbrüchen seit 1962, waren es primär institutionelle Schwächen und politische Instabilität, die eine frühe Eindämmung des Problems verhinderten«, sagt Lecoq.

 

Wenn ein einziges Land im Rückzugsgebiet der Wüstenheuschrecke bei einem drohenden Ausbruch versagt, gefährdet es die gesamte Region. Diesmal sind es die Probleme im Jemen: zwei separate und schlecht koordinierte Heuschrecken-Programme in Sanaa und Aden, kaum finanzielle Ressourcen, schlechte Ausrüstung sowie ganze Regionen, in denen aufgrund der Sicherheitslage keine Kontrollmaßnahmen durchgeführt werden können.

 

»In solchen Fällen brauchen die Nachbarländer Notfallpläne: Sie müssen sich stets der Möglichkeit von Heuschreckenausbrüchen in den unerreichbaren Regionen bewusst sein und notfalls eigene Kapazitäten für die kommenden Monate hochfahren«, sagt Lecoq. Doch das allein wird nicht reichen, denn Populationen ab einer gewissen Größe können zwar bekämpft, aber nur schwerlich besiegt werden. »Einzelne Länder allein können nichts gegen die Heuschrecken ausrichten. Kooperation zwischen allen betroffenen Staaten ist essenziell«, appelliert der CIRAD-Forscher an die Behörden in der Region.

 

Ausgerechnet der Jemen verfügte über eines der effektivsten Heuschrecken-Programme.

 

Einige Formen solcher Kooperationen bestehen bereits: Die FAO betreibt den »Desert Locust Information Service«. Dort trägt Keith Cressman täglich Informationen zur Heuschreckensituation aus allen Ländern sowie Wettervorhersagen, Satellitenbilder und weitere Umweltdaten zusammen. So versucht er, die Situation einzuschätzen und im Fall von Ausbrüchen rechtzeitig zu warnen.

 

Darüber hinaus betreibt die FAO Regionalkommissionen, die benachbarte Länder zusammenbringen und bei der Verteilung von Ressourcen helfen sollen. Zusätzlich treffen sich regelmäßig alle betroffenen Staaten von Mauretanien bis Indien gemeinsam mit potenziellen Geberländern beim »Desert Locust Control Committee« in Rom und besprechen die Situation sowie Herausforderungen und Kooperationsmöglichkeiten.

 

Das Problem: Im Kern liegt die Macht im Kampf gegen die Heuschrecken bei den Nationalstaaten. Die Kontrollprogramme zur Bekämpfung der Insekten sind national organisiert, die Auftraggeber der FAO sind die Nationalstaaten und Koordinationstreffen funktionieren nur, wenn alle die entsprechenden Maßnahmen auch umsetzen können und wollen.

 

Neben intensivierter Kooperation zwischen den Ländern fordert und fördert die FAO daher auch Heuschrecken-Programme, die finanziell und politisch unabhängig von den Nationalstaaten agieren können. Ein Bespiel dafür wäre der Jemen – vor Ausbruch des Krieges. »Das jemenitische Heuschrecken-Programm unterhielt ein eigenes Hauptquartier, seine eigenen Fahrzeuge und eigenes Equipment. Es war sogar unabhängig vom Landwirtschaftsministerium und verfügte im Grunde über ein eigenes Budget«, erläutert Cressman. »Das war wirklich ideal.«

Von: 
Michael Nuding

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