Ein Jahr vor der Fußball-Weltmeisterschaft 2022 zeigt ein Streik von Gastarbeitern, wie eines der größten Sicherheitsunternehmen den Reformprozess des Kafala-Systems in Katar untergräbt.
»Bitte lasst uns alle als Brüder vereinen und wir werden unsere Rechte bekommen«, steht auf dem Dokument mit der Überschrift »Memo«, das Ende April an alle Mitarbeiter des Sicherheitsunternehmens »European Guarding & Security Services Co.« (EGSSCO) adressiert ist. Mit diesem Satz riefen Gastarbeiter von EGSSCO zu einem, wie sie es formulierten, »friedlichen Protest« auf.
In Wahrheit war es allerdings ein Streik. Das Unternehmen hatte den Arbeitern neue Arbeitsverträge unterbreitet, mit denen nach Ansicht der Streikenden gegen den Reformprozess des Kafala-Systems verstoßen wurde. Dabei hatte die katarische Regierung im vergangenen September wichtige Veränderungen des umstrittenen Systems, das zu menschenunwürdigen Abhängigkeitsverhältnissen zwischen einem Gastarbeiter und seinem Arbeitgeber führen kann, verkündet.
Lange kritisierte die ILO die Situation der Gastarbeiter in Katar, doch mit Eröffnung des Büros in Doha änderte sich der Ton
Die neuen Gesetze sehen vor, dass Gastarbeiter vor Ablauf ihres Vertrages den Arbeitsplatz wechseln können, ohne zuvor eine entsprechende Bescheinigung (No Objection Certificate, NOC) von ihrem Arbeitgeber einholen zu müssen, sowie eine Anhebung des monatlichen Mindestlohns auf 1.000 katarische Riyal, umgerechnet knapp 230 Euro.
Die Internationale Arbeitsorganisation ILO der Vereinten Nationen, die seit 2018 ein Kontrollbüro in Katar betreibt, und der Weltfußballverband FIFA bezeichneten die Ankündigungen der katarischen Regierung damals als »historischen Schritt«. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch waren in ihren Formulierungen vorsichtiger.
Recherchen des WDR-Hintergrundmagazins »Sport Inside« aus dem vergangenen Oktober warfen ein neues Licht auf die Rolle der ILO. Lange kritisierte die Organisation die Situation der Gastarbeiter in Katar, doch mit Eröffnung des Büros änderte sich plötzlich der Ton. Ehemalige Mitarbeiter kritisierten, dass die ILO ihre Unabhängigkeit aufgegeben habe. Denn der Golfstaat finanziert die eigene Überwachung durch die ILO mit 25 Millionen US-Dollar.
Katars Kommunikationsministerium bestätigte, dass die neuen Verträge von EGSSCO gegen geltendes Arbeitsrecht verstoßen
Seit der Vergabe der kommenden Fußball Weltmeisterschaft nach Katar im Jahr 2010 hatte das Emirat immer wieder Reformen des umstrittenen Kafala-Systems versprochen. Allzu oft aber wiesen NGOs oder Journalisten nach, dass neue Gesetze zwar auf dem Papier existierten, aber gar nicht oder nur unzureichend umgesetzt wurden.
Mit dem Beispiel des Unternehmens EGSSCO reiht sich nun ein weiterer Fall in diese Beschreibung ein. Und wirft wieder einmal Fragen auf, wie konsequent und glaubhaft die Rechte der Gastarbeiter in Katar geschützt werden. Das katarische Kommunikationsministerium gab wenige Tage nach dem Protest der Gastarbeiter bekannt, dass die neuen Verträge von EGSSCO tatsächlich gegen geltendes Arbeitsrecht und somit gegen den Reformprozess verstoßen.
Laut Vertrag mussten sich die Arbeiter dazu verpflichten, mindestens fünf Jahre lang für das Unternehmen zu arbeiten und zusätzlich während dieser Zeit nicht zu einem Konkurrenzunternehmen zu wechseln. Entscheidet sich ein Arbeiter trotzdem für eine Jobwechsel, drohte das Unternehmen damit, dem Gastarbeiter angefallene Kosten, etwa Aus- oder Weiterbildungskosten und andere Ausgaben, in Rechnung zu stellen.
Offenbar sollte weiterhin Druck auf die Gastarbeiter ausgeübt werden, von einem Arbeitsplatzwechsel abzusehen. Laut neuem Gesetz muss der Arbeitgeber lediglich einen beziehungsweise zwei Monate vor einem beabsichtigten Wechsel vom Arbeitnehmer informiert werden.
Mit 4.000 Angestellten gehört EGSSCO zu den größten Sicherheitsfirmen des Landes
Der Menschenrechtsexperte Nicholas McGeehan von der NGO Fairsquare, der die Situation von Gastarbeitern in Katar seit über 15 Jahren beobachtet, nennt das Vorgehen von EGSSCO »besorgniserregend«. »Hier wurde aktiv versucht, die Reform des Kafala-Systems vollständig zu umgehen«, erklärt McGeehan. Mit 4.000 Angestellten gehört das Unternehmen zu den größten Sicherheitsfirmen des Landes und stellt unter anderem Sicherheitspersonal für das Arbeitsministerium zur Verfügung.
In diesem Umstand liegt für McGeehan weitere Brisanz. Bestürzt ist er darüber, dass das katarische Arbeitsministerium Personal des Sicherheitsunternehmens EGSSCO nutzt und damit die Missachtung der neuen Gesetze offenbar billigend in Kauf nimmt. »Dass das Sicherheitspersonal des Arbeitsministeriums streikt, zeigt einen mehr als beunruhigenden Widerspruch zwischen den Reformankündigungen der Regierung und der tatsächlichen Umsetzung«, sagt McGeehan.
Das der Fall EGSSCO ein empfindlicher Rückschlag für die Außendarstellung des Reformprozesses Katars darstellt, zeigt der Umstand, dass sich der katarische Botschafter in Deutschland, Abdullah bin Mohammed bin Saud Al-Thani, vor wenigen Tagen zu Wort meldete. »Katar wird kein Unternehmen dulden, das gegen die neuen Arbeitsgesetze verstößt«, erklärte der Botschafter. Die Vergangenheit zeigt eine andere Realität.
Benjamin Best ist Journalist und Filmemacher und wurde für seine Recherchen zu Menschenrechtsverletzungen in Katar mehrfach ausgezeichnet. Über die Lage der Gastarbeiter kurz vor der WM berichtete er unter anderem in dem Dokumentarfilm »Gefangen in Katar«.