Im Jemen zeigt sich, wie Krieg und Wasserknappheit sich gegenseitig beeinflussen – und wie Menschen eigene Wege aus der Versorgungskrise finden.
Für Dutzende Bewohner des Dorfes Al-Shatt in Südwestjemen endete das Zuckerfest im Juli 2021 im Krankenhaus. Es begann mit Koliken und Durchfall – alles schien auf eine Lebensmittelvergiftung hinzudeuten. »Wir hatten keine Ahnung, was passiert war. Plötzlich fielen die Menschen einer nach dem anderen in Ohnmacht«, erinnert sich Youssef Al-Masawa.
»Wir baten eine nahegelegene Gesundheitsstation um Hilfe, aber wir mussten die Menschen aufgrund der ständig steigenden Fallzahl auf mehrere Einrichtungen verteilen«, schildert der Bewohner des 2.000-Seelen-Dorfs. Einige Patienten wurden ins 74 Kilometer entfernte Bezirkskrankenhaus von Mokka eingeliefert, andere in die Klinik der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen und ein nahegelegenes saudisches Feldlazarett.
Allein in Mokka verzeichnete die Krankenhausleitung 33 Fälle von Vergiftungen, überwiegend Frauen und Kinder. Die Gesamtzahl stieg später auf 55. Obwohl keiner der Patienten starb, traten bei einigen schwere Symptome auf. »Mein Onkel Qayed hatte mit Komplikationen zu kämpfen, wir mussten ihn nach Aden und schließlich nach Taiz verlegen lassen«, berichtet Masawa.
Nach Angaben der Ärzte hatte Qayed Salem schon zuvor an Durchblutungsstörungen gelitten. Flüssigkeitsmangel, verursacht durch Erbrechen und Durchfall, und sein verspätetes Eintreffen beim Facharzt hätten zur weiteren Verschlechterung des Zustands des Mittsechzigers beigetragen. Der Flüssigkeitsverlust ließ das Blut verdicken und die Arterien verstopfen. »Nachdem sich Blutgerinnsel geformt hatten, musste sein Fuß schließlich amputiert werden.«
Nach der Untersuchung der Patienten bestätigten die Ärzte den Verdacht der Dorfbewohner: Ursache der Massenvergiftung waren keine abgelaufenen Lebensmittel, sondern eine chemische Verunreinigung ihrer einzigen Wasserquelle. Im Verdacht stehen eingesickerte Dünger, oder andere Abfälle, die möglicherweise die in der Nähe stationierten Milizen in den Brunnen entsorgt hatten. Doch weil die Kapazitäten für eingehendere Analysen fehlen, liegt die Ursache der Kontamination noch immer im Dunkeln.
Als Trinkwasserquelle sind Brunnen überlebenswichtig in den oft abgelegenen Dörfern
Als Trinkwasserquelle sind Brunnen überlebenswichtig in den oft abgelegenen Dörfern – doch immer wieder sind sie kontaminiert. Der Grund liegt meist im Fehlen von Fachkräften, die für eine effektive und sichere Wasserverteilung und -nutzung nötig sind. Ebenso unklar sind die gesetzlichen Vorgaben für das Brunnenbohren.
Der Krieg, der seit 2015 im Jemen tobt, hat diese zugrundeliegenden Probleme weiter verschärft. Außerdem führten Lohnkürzungen und der Wegfall vieler Arbeitsplätze dazu, dass immer mehr Jemenitinnen und Jemeniten sich zusätzlich in der Landwirtschaft verdingen. Ohnehin lebt bereits der Großteil der Bevölkerung von der Landwirtschaft – und im Agrarsektor ist der Wasserbedarf sprunghaft angestiegen.
Das gilt insbesondere für wasserintensive Kulturen wie Zwiebeln, für die Mokka – neben Kaffee – bekannt ist. Lokalen Statistiken zufolge werden täglich rund 300 Tonnen verschifft, was den Menschen ein in Kriegszeiten notwendiges Auskommen ermöglicht. »Die Bauern pflanzen immer mehr Zwiebeln an«, erklärt Jamal Al-Ramsi. »Aber veraltete Bewässerungsmethoden und der Bedarf an Wasser zur Erhaltung der Bodenfeuchtigkeit lassen die Brunnen versiegen«, so der Professor für Geologie von der Universität Taiz.
Youssef Al-Gharafi ist frustriert, wenn er die kargen Felder um sein Dorf herum betrachtet. »Der größte Teil des Landes ist ausgetrocknet, der Boden ist unfruchtbar geworden, das Brunnenwasser versiegt«, klagt der Bauer aus Gouraph, einem weiteren Dorf im Bezirk Mokka, in dem das Wasser zur Neige geht. »Viele Bauern verlassen ihr Land, weil sie die Äcker nicht mehr bewässern können. Sie versuchen in anderen Dörfern, Wasser ausfindig zu machen.«
Das Einsickern von Salzwasser betrifft vor allem Küstenregionen wie den Bezirk Mokka
»Um in Mokka auf Frischwasser zu stoßen, muss man 70 Meter graben«, schätzt Abdullah Iskander. Der Ingenieur der örtlichen Wasseranstalt beobachtet, wieseit einigen Jahren immer mehr illegale Brunnen gegraben werden. Viel könne er dagegen nicht unternehmen. Seit Ausbruch des Kriegs seien die Vorgaben, die den Brunnenbau regulieren, nicht mehr durchzusetzen. Es gilt das Recht des Stärkeren.
Doch je tiefer das Bohrloch, desto größer die Gefahren. »Ab 40 Metern steigt der Salzgehalt im Grundwasser«, warnt Iskander. Das Einsickern von Salzwasser betrifft vor allem Küstenregionen wie den Bezirk Mokka, der sich entlang des Roten Meers erstreckt. »Sand ist der beste natürliche Filter«, erklärt der Geologe Ramsi. »Aber wenn der Grundwasserspiegel sinkt, fällt der Druck – und Meerwasser sickert ein.« Ramsi fordert eine umfassende Kartierung der Wassereinzugsgebiete sowie der Grabungsstandorte. »Die Pumpleistung muss dem Input entsprechen – nur so können wir sicherstellen, dass die Brunnen nicht trockengelegt und degradiert werden.«
Auch in der gleichnamigen Bezirkshauptstadt wird Wasser knapp. Immer mehr Flüchtlinge strömen in die historische Hafenstadt, die vor dem Krieg etwa 15.000 Einwohner zählte. Derzeit lassen die Lokalbehörden in 15 Kilometer Entfernung neue Brunnen graben. »Doch uns fehlen die Gelder, um die teuren Pumpen zu importieren«, beklagt Ingenieur Iskandar.
Die Menge natürlicher Wasserspeicher hängt im Jemen von der Topografie ab. In Mokka ist Grundwasser bereits in geringer Tiefe verfügbar. Die vier Lagerstätten, die aus Sand-, Schlamm- und Kiesablagerungen bestehen, liefern die höchsten Erträge. Die Böden in den zentralen vulkanischen Regionen im benachbarten Taiz hingegen speichern das Grundwasser in kleineren Mengen. Obwohl die jährlichen Regenfälle in der Region dem weltweiten Durchschnitt entsprechen, sind die Wasservorräte in den Speicherstätten insgesamt niedrig.
Taiz ist mit knapp 600.000 Einwohnern die drittgrößte Stadt Jemens. Die Wurzeln der Wasserkrise reichen hier fast drei Jahrzehnte zurück. Insbesondere ab den 1990er Jahren wuchs die Bevölkerung rapide. Um der Verknappung vorzubeugen, ließ die Wasserbehörde um die Jahrtausendwende zusätzliche Notbrunnen graben. »Schon damals deckten die knapp 70 Anlagen nur den Bedarf von 58 Prozent der Bevölkerung«, schätzt Wathiq Al-Aghbari. Der Ingenieur ist Direktor der Produktionsabteilung der Wasseranstalt von Taiz.
Mittlerweile gehört die Stadt zu den am stärksten vom Krieg betroffenen urbanen Zentren im Land. Taiz ist in militärische Einflusszonen unterteilt, wichtige Zufahrtswege werden von Bewaffneten blockiert. Die Kämpfe zwischen Huthis und der Regierung von Abd Rabbo Mansur Hadi zerstörten die Infrastruktur und staatliche Einrichtungen. Auch die Angestellten der Wasseranstalt flohen – seitdem stehen die meisten Pumpen still.
»Taiz verfügt nur noch über 22 Brunnen mit einer Förderkapazität von 2.000 Kubikmetern pro Tag, dabei liegt der Bedarf bei mehr als 35.000 Kubikmetern«, rechnet Ingenieur Aghbari vor und ergänzt, dass die meisten Maschinen während des Krieges geplündert und der Sitz der Wasseranstalt sowie die meisten ihrer Reservoirs in militärische Einrichtungen umgewandelt wurden.
Viele grundlegende Dienstleistungen in Taiz, einschließlich der Wasserversorgung, sind seit fast sieben Jahren eingestellt. Infolgedessen haben lokale Behörden ihre Finanzierungsquellen auf ausländische Hilfsorganisationen ausgeweitet und einen Teil dieser Mittel für die kostenlose Wasserversorgung aus Reservoirs in Wohngebieten bereitgestellt. Diese Hilfsmaßnahmen decken allerdings nur geschätzt 15 Prozent des Wasserbedarfs in Taiz.
Seit Kriegsausbruch liegen die Brunnen und Reservoirs außerhalb der Kontrolle der Wasseranstalt von Taiz
Die Versorgungslücken zu füllen, liegt dann oft in der Verantwortung von Frauen und Kindern. Sie werden zum Wasserholen in Nachbarorte geschickt – und riskieren dabei ihr Leben. Lokalen Schätzungen zufolge endete der Wassertransport in den vergangenen Jahren in mindestens 80 Fällen mit dem Tod oder schweren Verletzungen.
Für Entsetzen und Wut im gesamten Land sorgte im August 2020 das Schicksal der achtjährigen Ruwaida. Das Mädchen hatte sich, wie jeden Morgen, gemeinsam mit ihrem zweijährigen Bruder und anderen Kindern aus der Nachbarschaft vor dem einzigen Wassertank der Gegend versammelt, auf dem Rücken ein Plastikbehälter mit einem Fassungsvermögen von 15 Litern. Eine Kugel traf sie im Kopf, Ruwaida fiel zu Boden – wahrscheinlich hatte sie ein Scharfschütze der Huthis ins Visier genommen. Das Bild ihres leblosen Körpers verbreitete sich in den sozialen Medien. Wie durch ein Wunder überlebte Ruwaida den Angriff, verlor aber nach der Notoperation zwischenzeitlich ihr Gehör.
»Jeden Morgen sehe ich Kinder mit Plastikbehältern auf dem Rücken, die doppelt so schwer sind wie sie selbst. Oder Frauen, die sich am Straßenrand neben ihrem Wassergefäß ausruhen, erschöpft vom langen Warten in der prallen Sonne«, beklagt Ola Al-Aghbari. Die 29-Jährige ist Gründerin und Vorsitzende der »Saba-Stiftung für Entwicklung«, einer NGO, die sich für Frauen- und Jugendrechte in der kriegsgebeutelten Stadt engagiert. Sie klagt: »Über die letzten sieben Jahre hinweg sind mehr als 15 Millionen US-Dollar in die Wasserversorgung von Taiz investiert worden, aber eine anständige Verteilung bekommt man trotzdem nicht auf die Reihe.«
Seit Kriegsausbruch liegen die Brunnen und Reservoirs außerhalb der Kontrolle der Wasseranstalt von Taiz. Dementsprechend fehlen die Kapazitäten, um beschädigte Leitungen instand zu setzen und Haushalte direkt mit Wasser zu beliefern. Ola Al-Aghbari hat deshalb Kontakt zu den Milizen aufgenommen, die sich in den einst von der Wasseranstalt betreuten Anlagen eingenistet haben. »Wir haben einen Mediationsprozess in Gang gesetzt«, berichtet die Aktivistin.
Immerhin sechs Brunnen und mehrere Wasserspeicher sind seit September 2021 wieder in Betrieb
»Wir verhandeln den Abzug der bewaffneten Kräfte – und fordern die Milizen auf, die Wasserversorgung in Betrieb zu nehmen.« »Bürger und Behörden, Aktivisten und Milizen – jeder zeigt mit dem Finger auf die Anderen. Aber wir wollen mit unserer Initiative aus diesem Teufelskreis ausbrechen und als Gemeinschaft eine Lösung für die Wasserversorgung in unserer Stadt finden«, sagt Shorouk Al-Rifai, der für die Saba-Stiftung die Gespräche mit den Bewaffneten koordiniert.
Trotz aller Schwierigkeiten, mit denen das Verhandlungsteam konfrontiert ist, zahlten sich die Bemühungen aus: Immerhin sechs Brunnen und mehrere Wasserspeicher sind seit September 2021 wieder in Betrieb. Der Rest ist nach wie vor in Milizenhand. »Diese Arbeit wollen wir nun weiterführen und zu Ende bringen«, geben sich Ola und ihr Team zuversichtlich.
Auch Wathiq Al-Aghbari sieht Fortschritte. Nach dem Erfolg der ersten Mediationsrunde konnte seine Behörde die kuwaitische Wassergesellschaft überzeugen, sechs neue Brunnen in der Stadt zu graben. »All diese Bemühungen ermöglichen es uns, immerhin 30 Prozent der Haushalte in Taiz direkt mit Wasser zu versorgen.« Der Ingenieur hofft, diesen Wert weiter zu steigern, sollte die Rückendeckung anhalten. So müssten sich Frauen und Kinder nicht mehr in Lebensgefahr begeben – und es würde sich ein weiterer Vorteil ergeben. »Den Menschen von Taiz den Zugang zu Wasser über das lokale Netz zu ermöglichen, wäre elf Prozent günstiger als die Hilfsmaßnahmen der Wohltätigkeitsorganisationen, also die Verteilung über Wassertanks«, hat Al-Aghbari errechnet.
Sahar Mohamed ist jemenitische Journalistin und arbeitet unter anderem bei Internews.