Der niedrige Ölpreis zwingt Saudi-Arabien zum Sparen. Aber an seinem Vorzeigeprojekt hält der Kronprinz unbeirrt fest.
Sanfte Strände, türkisblaues Wasser, einsame Berge – der Nordwesten Saudi-Arabiens wirkt wie das perfekte Urlaubsziel: ein unberührter Landstrich direkt am Roten Meer. Doch dort, wo der Golf von Aqaba das Königreich von der ägyptischen Sinai-Halbinsel trennt, soll »Neom« entstehen: eine futuristische Mega-City, dreißig Mal so groß wie Berlin. »Neom« bedeutet so viel wie »neue Zukunft«. Die Technologiestadt mit angeschlossener Freihandelszone ist Teil der »Vision 2030« – der Strategie, mit der Kronprinz Muhammad bin Salman (MBS) die Wirtschaft unabhängiger vom Öl machen will. Das Ziel: Arbeitsplätze schaffen, neue Beschäftigungsfelder erschließen, Investoren aus dem Ausland anlocken. 500 Milliarden US-Dollar soll das Projekt kosten. Ein ambitionierter Plan – aber dem Königreich mangelt es an Geld.
Bereits 2014 waren die Ölpreise und damit die Staatseinnahmen Saudi-Arabiens dramatisch eingebrochen. Das war einer der Gründe dafür, dass MBS drei Jahre später seine »Vision 2030« präsentierte. Im Frühjahr 2020 sanken die Ölpreise dann erneut. Zeitweise kostete ein Fass weniger als 20 US-Dollar. 2011 und 2012 hatten die Preise pro Fass noch bei über 100 US-Dollar gelegen.
Für den Preisverfall war auch die Regierung in Riad verantwortlich: Im Streit mit Russland hatte sie zeitweise die Fördermenge erhöht und gehofft, die deutlich teurer produzierende Konkurrenz zum Beispiel in den USA aus dem Markt zu drängen. Schätzungen des Internationalen Währungsfonds zufolge benötigt Saudi-Arabien für einen ausgeglichenen Staatshaushalt allerdings Ölpreise in Höhe von etwa 80 US-Dollar, denn die Ausgaben des Königreichs sind gewaltig – für die Gehälter im öffentlchen Sektor, für umfangreiche Sozialleistungen und das Militär. Allein die Kosten für den Krieg im Jemen belaufen sich auf 60 Milliarden US-Dollar pro Jahr, schätzen Experten.
Die Corona-Pandemie versetzte der saudi-arabischen Wirtschaft einen zusätzlichen Schlag. Um die Ausbreitung von Covid-19 einzudämmen, setzte das Königreich die kleine Pilgerfahrt, die Umra, aus und sagte die große Pilgerfahrt, die Haddsch, für alle Muslime aus dem Ausland ab. Ein Dämpfer für die zweitwichtigste Einnahmequelle Saudi-Arabiens: den religiösen Tourismus in die Heiligen Stätten Mekka und Medina. »Das Königreich hat in den vergangenen Jahren keine vergleichbare Krise dieses Ausmaßes erlebt«, sagte Finanzminister Muhammed Al-Jadaan im Mai 2020 dem Fernsehsender Al-Arabiya.
Saudi-Arabiens Finanzreserven schrumpfen monatlich um Milliardenbeträge
In großem Stil greift der Staat deshalb auf seine Reserven zurück – und die schrumpfen schnell, seit Februar um etwa 20 bis 25 Milliarden US-Dollar pro Monat. Um die Rücklagen in Höhe von mehreren Hundert Milliarden US-Dollar nicht innerhalb kurzer Zeit aufzubrauchen, muss das Königreich sparen. Viele große Bauprojekte wurden gestrichen oder aufgeschoben. Beamte müssen seit dem Frühsommer auf Zuschüsse zu ihren Lebenshaltungskosten in Höhe von etwa 250 US-Dollar monatlich verzichten.
Im Juli 2020 verdreifachte die Regierung die Mehrwertsteuer auf 15 Prozent. »Das trifft vor allem den ärmsten Teil der Bevölkerung«, sagt Mustapha Kamel Al-Sayyid, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Kairo. »Allerdings liegen keine genauen Daten zu Armut in Saudi-Arabien vor.« Saudische Staatsbürger, die in der Privatwirtschaft arbeiten und infolge der Krise freigestellt wurden, bekommen vom Staat weiterhin 60 Prozent ihres Gehalts ausgezahlt. Auch deshalb hält Al-Sayyid Proteste gegen die Maßnahmen der Regierung für unwahrscheinlich. Viele Gastarbeiter aus dem Ausland hingegen haben ihre Arbeit verloren und das Land verlassen.
Eine Rückkehr ist ungewiss, die Regierung in Riad würde ihre Stellen künftig lieber mit saudischen Staatsbürgern besetzen. Einer, der in sein Heimatland zurückgekehrt ist, ist Sameh Ragai. Der Ägypter arbeitete auf einem Versorgungsboot für die Erdölfördergesellschaft Saudi Aramco. Wegen der Ausbreitung des Corona-Virus musste der 28-Jährige länger in Saudi-Arabien bleiben als geplant. Während seines Urlaubs in Ägypten lief dann sein Vertrag aus. Sollte er die Wahl haben, will Sameh Ragai künftig wieder in Saudi-Arabien arbeiten. »Das Gehalt ist höher als in Ägypten. Die Arbeit ist gut und strukturiert«, sagt er.
Sameh Ragai ist einer von Millionen von Ägyptern, die bislang ihr Geld in den Golfstaaten verdienten und nach Hause schickten. »Sie haben ganz unterschiedliche soziale Hintergründe«, sagt Ayman Ismail, Dozent für Unternehmertum und Innovation an der American University in Kairo. »Manche arbeiten als Fachkräfte in Führungspositionen, als Lehrer, Buchhalter und Ingenieure, unter ihnen finden sich aber auch ungelernte Arbeiter.« Im Jahr 2019 überwiesen ägyptische Gastarbeiter der Ägyptischen Zentralbank zufolge umgerechnet 34 Milliarden US-Dollar in ihr Heimatland. Der größte Teil kam aus den Golfstaaten.
»Die Überweisungen sind eine der wichtigsten Einnahmequellen für die ägyptische Wirtschaft«, sagt Ayman Ismail. Ägypten gehörte 2019 zu den fünf Ländern weltweit, in die Gastarbeiter das meiste Geld schickten. Dass diese Einnahmequelle jetzt – zumindest teilweise – versiegt, trifft viele ägyptische Familien hart.
Oft versorgt ein Gastarbeiter in der Golfregion eine Großfamilie in Ägypten. Diese Rechnung geht jetzt nicht mehr auf. Die ohnehin hohe Arbeitslosigkeit dürfte durch Rückkehrer wie Sameh Ragai noch steigen – und damit auch die Zahl der Menschen, die weniger als zwei US-Dollar pro Tag verdienen. Etwa jeder dritte Ägypter lebt offiziellen Angaben zufolge unterhalb der Armutsgrenze – eine Entwicklung, die die Corona-Krise noch beschleunigt. In den vergangenen Monaten ist der Tourismus in Ägypten fast vollständig zum Erliegen gekommen.
Darunter leiden nicht nur Reiseführer, Hoteliers und Gastwirte, sondern auch Millionen Menschen, die in Wäschereien, Teppichmanufakturen oder als Reinigungskraft arbeiten. »Hätte die Regierung mehr Wert auf Ausbildung gelegt und die Industrie gefördert, stünde die ägyptische Wirtschaft jetzt sehr viel besser da«, meint Mustapha Kamel Al-Sayyid. »Stattdessen baut sie Mega-Projekte wie Brücken, Autobahnen und eine neue Hauptstadt.« Eine Verschwendung von Ressourcen, findet Al-Sayyid.
Ayman Ismail dagegen ist trotz allem überzeugt davon, dass die ägyptische Wirtschaft die Folgen der niedrigen Ölpreise verkraften wird. »Wir betreiben umfangreich Landwirtschaft, produzieren viel und verfügen über einen starken Dienstleistungssektor. Tourismus ist ein großer Teil davon. Dazu kommen Einzelhandel und das Finanzwesen.
Diese breite wirtschaftliche Basis ist ein Grund dafür, dass Ägypten sehr widerstandsfähig ist.« Außerdem sei die Einfuhr von Treibstoff wegen der niedrigen Ölpreise günstiger geworden. Allerdings setze Ägypten – wie viele andere Länder – immer stärker auf erneuerbare Energien. In den vergangenen Jahren hat der Staat außerdem große Gasvorkommen im Mittelmeer entdeckt und teilweise erschlossen. Diese Entwicklung könnte dazu führen, dass die Nachfrage nach Erdöl stagniert – und zwar schneller als gedacht.
Dauerhaft niedrige Ölpreise in Kombination mit einer geringen Nachfrage bringen aber die »Vision 2030« in Gefahr. »Die Krise erschwert die Umsetzung«, sagt Omar Al-Ubaydli, Forschungsdirektor des »Center for Strategic, International and Energy Studies«, eines Thinktank in Saudi-Arabiens Nachbarland Bahrain. »Denn die Vision 2030 basiert darauf, die Produktivität des Privatsektors zu steigern, und dafür sind erst einmal Investitionen nötig.«
Bislang deutet nichts darauf hin, dass MBS den Bau von »Neom« verschieben oder gar streichen will. Im August 2020 wurde das US-amerikanische Unternehmen Bechtel für den Bau der grundlegenden Infrastruktur unter Vertrag genommen. Aber ohne einen drastischen Sparkurs wird Saudi-Arabien das nach eigenen Angaben »ambitionierteste Projekt der Welt« kaum umsetzen können. Eine gigantische Freihandelszone mit angeschlossenem Technologiepark zu scha en und gleichzeitig den Krieg im Jemen weiterzuführen, kann sich selbst das Königreich nicht leisten. Ab 2030 soll »Neom« etwa 100 Milliarden US-Dollar zum Bruttoinlandsprodukt beitragen – pro Jahr. Doch dafür muss die Stadt der Zukunft erst einmal gebaut werden.
Anne Allmeling arbeitet als Nahost-Korrespondentin im ARD-Studio Kairo.