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»Es geht um unsere Menschenwürde«

»Es geht um unsere Menschenwürde«

Feature

Sie sind schwul, lesbisch, bisexuell und sie wollen Gleichberechtigung. Homosexuelle in Tunesien wagen erste Schritte in den Individualismus und brechen das Schweigen. Den Anfang macht ein Online-Magazin.

Sie sind unermüdlich, kennen sich oft nicht persönlich und wissen voneinander nicht mehr als ihrem Facebook-Pseudonym. Die Aktivisten der homosexuellen Community in Tunesien sprechen das Tabuthema Nummer Eins der arabischen Welt verdeckt-offen aus engagieren sich entschlossen gegen Homophobie und sexuelle Diskriminierung. Sie wollen keine Bars für Homosexuelle, auch kein Ehe oder Paraden, sondern dass die internationalen Menschenrechte auch in Tunesien im vollem Umfang Anwendung finden. »Es geht um unsere Menschenwürde«, bringt es Aktivist Bilal auf den Punkt. Ganz konkret geht es ihnen um die Abschaffung des Paragraphen 230 des tunesischen Strafrechtes, der den homosexuellen Geschlechtsakt unter eine Haftstrafe von bis zu drei Jahren stellt.

 

Vor über einem Jahr entwickelte die Community für ihr Anliegen die Plattform GayDay Magazine. Die Online-Zeitung ging kurz nach der Flucht des ehemaligen Diktators Ben Ali erstmals im März 2011 ans Netz. Die Redakteure schreiben auf Englisch, Französisch, Arabisch und berichten aus aller Welt. Das Magazin überlebte mehrfache Cyberangriffe. »Mit denen haben wir gerechnet«, sagt Bilal, der Sprecher der Community. Auch ein Jahr nach dem Start ist die Seite immer wieder Attacken aus dem Internet ausgesetzt. Das entmutigt die Macher jedoch nicht. Die technischen Möglichkeiten haben sie im Griff.

 

Insgesamt besteht der enge Kreis der Aktivisten aus vierzig Personen, darunter etwa zehn Frauen. Die Zahl der insgesamt Beteiligten lässt sich jedoch nicht genau beziffern. »Vielleicht über hundert«, schätzt Bilal. Durchschnittlich sind die Betreiber der Seiten zwischen 17 und 28 Jahre alt und quer über das gesamte Land verteilt. Das Online-Magazin wurde vom 23- jährigen Fadi entwickelt. Als die Seite online ging, verzeichnete sie wöchentlich über 30.000 Klicks. Neben der eigentlichen Zeitung betreiben die Aktivisten auch eine Facebook-Seite, die rund 1800 Facebook-Fans zählt. Hier kündigen sie kurzfristig ihre Aktionen und die Ausstrahlung ihrer Radiosendungen an.

 

Ich treffe mich mit Bilal dort, wo im vergangenen Jahr der Ruf »Degage!« aus Tunesien in die ganze Welt hallte, auf der Hauptstraße von Tunis, der Avenue Habib Bourguiba. Er berichtet, dass er viele junge Homosexuelle kennt, die lieber heute als morgen das Land verlassen würden. Neben der Ächtung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung haben die jungen Akademiker unter ihnen so gut wie keine Chance auf Arbeit. Andere kämpfen für eine Verbesserung und hängen an ihrer Heimat.

 

»Ich will nicht weg, ich wüsste nicht einmal wohin. Ich liebe Tunesien«

 

»Als Jungs entdecken wir unsere Sexualität unter Jungs, und genauso ist es auch bei den Mädchen«, sagt Bilal. »Es ist ein offenes Geheimnis, dass es Homosexualität gibt, wie überall auf der Welt. Natürlich haben wir nach der Flucht Ben Alis angefangen, freier zu reden. Über Sexualität sprechen wir trotzdem noch nicht. Dabei gibt es so viele wichtige Themen, die mit Sexualität in Verbindung stehen. Vieles davon versuchen wir in unseren Radiosendungen zu thematisieren. Wir leisten dort auf freiwilliger Basis Aufklärungsarbeit und sprechen über alle wichtigen Themen: über das Entdecken der eigenen sexuellen Orientierung, die Probleme die damit einhergehen, über Reaktionen von Familie und Freunden, das Altern als Homosexueller und auch über Geschlechtskrankheiten. Wir reden über alles, was unsere sexuelle Identität betrifft.«

 

Manchmal müsse er die jungen Leute und ihren Aktionismus bremsen. »Sie planen dann Plakataktionen, die ich ihnen ausreden muss, weil es taktisch unklug ist, unter den derzeitigen politischen Umständen zu viel Staub aufzuwirbeln.« Doch zum »Internationalen Tag gegen Homophobie« am 17. Mai gab es eine ausdehnte Radiosendung, ein YouTube-Video und eine Guerilla-Graffiti-Aktion.

 

Verstorbene Kultfiguren, die gut im kollektiven Gedächtnis der tunesischen Kulturszene verankert sind, wie der Sänger Ali Riahi, der sich für seine Auftritte auffällig schminkte, die Haare färbte und manchmal Frauenkleider trug, oder die Schauspielerin Habiba Msika, will die homosexuelle Community indes nicht in ihre Aktionen einbinden.

 

»Wenn wir so etwas tun, dann bringen wir die Gesellschaft erst Recht gegen uns auf, schließlich sind diese Persönlichkeiten nationales Kulturgut«, so Bilal. »Es steht uns nicht zu, sie für unser Anliegen zu vereinnahmen. Sie haben selbst nie offen über ihre Homosexualität gesprochen. Warum sollten wir es jetzt nach ihrem Tod tun? Unter den derzeitigen politischen Umständen, würden wir damit ihre Nachkommen in Schwierigkeiten bringen, das möchten wir nicht. Für mich ist es eine Frage der Würde und des Respekts, sie nicht in unsere Kommunikationsmaßnahmen einzubinden. Doch über das Radio spielen wir manchmal ihre Musik. Die jungen Leute interessieren sich allerdings heute mehr für Lady Gaga oder Freddy Mercury«, erklärt mir Bilal.

 

Aus der Politik weht ein kräftiger Gegenwind

 

Gemeinsam mit seinen Mitaktivisten Charlotte und Richard geht er dreimal in der Woche über einen Livestream auf Sendung. Parallel läuft ein Chatroom, in dem sich die Hörer über das Thema der Sendung austauschen. »Solidarität von tunesischen Intellektuellen, Künstlern und Journalisten erwarten wir in diesem politischen Übergangsprozess nicht. Trotz mehrfacher Morddrohungen und wüster Beschimpfungen kämpfen wir im Moment alleine für unser Anliegen.«

 

Aus der Politik weht ein kräftiger Gegenwind. Dem Menschenrechtsbeauftragten der islamistischen Ennadha Samir Dilou ist die Bewegung ein Dorn im Auge. Für ihn sind Homosexuelle nichts anderes als Perverse, die man medikamentös behandeln muss. Die Macher des Gayday Magazine sollten sich davor in Acht nehmen, nicht die rote Linie zu überschreiten und weiterhin die tunesische Kultur zu besudeln, ließ er Amnesty International auf die Frage nach dem Umgang mit der Online-Zeitung wissen.

 

Auch von Moncef Marzouki, dem Präsidenten der Übergangsregierung, früher selbst einmal aktiver Menschenrechtsrechtsaktivist und Neurologe, ist keine Unterstützung zu erwarten. Zwar begab er sich als erster tunesischer Staatspräsident überhaupt nach Djerba, um mit Vertretern der jüdischen Minderheit ein Zeichen gegen radikale Islamisten zu setzen. Doch das Thema Homosexualität wurde von ihm bislang gemieden. »Wir kämpfen für die Abschaffung des Paragraphen 230«, sagt Bilal. »Doch ehrlich gesagt sehe ich, dass es bis dahin noch ein langer Weg ist.«

Von: 
Aida Ben Achour

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