Lesezeit: 10 Minuten
Übergangsjustiz in Libyen

Wer richtet über Saif al-Islam?

Kommentar

Am 19. September will Libyen Saif al-Islam al-Gaddafi vor Gericht stellen – und verprellt den Internationalen Strafgerichtshof. Doch wer ist wirklich für den Fall zuständig?, fragt Botschafter a.D. Gerhard Fulda.

Der Internationale Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag hat seine Arbeit im Jahre 2002 aufgenommen. Seit den Nürnberger Prozessen nach dem Zweiten Weltkrieg hat es also mehr als 50 Jahre gedauert, ehe Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen international mit Strafe bedroht wurden. Weniger als zwei Drittel aller Staaten haben sich bisher dieser Gerichtsbarkeit unterworfen. Russland und China fehlen ebenso wie die USA und Israel. Auch Indien und die Türkei haben das zu Grunde liegende Statut von Rom entweder nicht unterzeichnet oder nicht von ihren Parlamenten bestätigen lassen.

 

Die Zahl der anhängigen Verfahren ist noch klein, bisher sind es weniger als zwanzig. Einige haben weltweite Aufmerksamkeit erregt, zum Beispiel die Anklage gegen den sudanesischen Staatspräsidenten Omar Al-Baschir. Noch mehr Medieninteresse hat die Anklage gegen den Gaddafi-Sohn Saif al-Islam ausgelöst – nicht zuletzt befördert durch einen Streit zwischen dem ICC und der Regierung in Tripolis über die Frage, wo der verhaftete zweitälteste Sohn Gaddafis vor Gericht gestellt werden soll: in Libyen oder in Den Haag?

 

Die Hartnäckigkeit beider Seiten hat jeweils verständliche Gründe

 

Ende August hat der libysche Generalstaatsanwalt verkündet, der Prozess gegen Saif al-Islam al-Gaddafi und eine größere Zahl von Mitangeklagten werde am 19. September in Libyen beginnen. Das ist eine massive Herausforderung gegenüber der Autorität des internationalen Gerichts, das zuvor entschieden hatte, Den Haag sei für dieses Verfahren zuständig. Es gibt oder gab nicht weniger als sieben weitere internationale Strafgerichtshöfe, die im Gegensatz zum ICC nicht auf Dauer angelegt und vor allem zur Verfolgung von Straftaten in bestimmten Ländern eingesetzt worden sind – so etwa für das ehemalige Jugoslawien, Ruanda, Kosovo und Ost-Timor – jeweils in der Folge kriegerischer Ereignisse.

 

Diese spezifischen Gerichtshöfe wurden entweder als Zwangsmaßnahme durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen oder durch bilaterale Abkommen der UN mit den betroffenen Staaten eingesetzt (abgesehen von hier nicht weiter erwähnenswerten Besonderheiten für Kosovo und Ost-Timor). All diese Ad-Hoc-Gerichte haben Vorrang vor der Rechtsprechung dortiger nationaler Gerichte. Anders beim Internationalen Strafgerichtshof.

 

Das Römer Statut lässt diesen nur tätig werden, wenn die jeweilige nationale Justiz die in Frage stehenden Verbrechen nicht verfolgen will oder kann. Da die libysche Regierung schon im Jahr 2012 erklärt hatte, sie wolle Gaddafi Jr. selbst vor Gericht stellen, schien die Frage erledigt zu sein: Saif al-Islam Gaddafi werde nicht nach Den Haag ausgeliefert. Trotzdem hat der ICC Ende Mai 2013 erneut die Überstellung nach den Haag verlangt. Die Hartnäckigkeit, mit der beide Seiten ihre eigene Zuständigkeit durchsetzen wollen, hat jeweils verständliche Gründe. Libyen will politisch nicht den Vorwurf akzeptieren, das Land sei noch gar nicht in der Lage (oder nicht willens), ein solches Strafverfahren kompetent und fair durchzuführen.

 

Dem Gaddafi-Sohn droht in Libyen die Todesstrafe

 

Auch für den ICC geht es um die Frage, wie weit er respektiert wird. Verfahrensrechtlich entscheidet er selbst über die Frage, ob er zuständig ist oder nicht. Er hat, wie die Juristen sagen, die Kompetenzkompetenz. Der ICC musste entscheiden, ob die Erklärungen der libyschen Regierung über eine eigene Strafverfolgung ernst zu nehmen sind. Daran konnten schon deshalb Zweifel bestehen, weil der Beschuldigte von einer Miliz in Zintan im Westen Libyens festgehalten wird. Zweifel ergaben sich auch aus der merkwürdigen Tatsache, dass Saif al-Islam in Libyen Landesverrat vorgeworfen wurde, weil er der dort hingereisten Vertreterin der Anklage des ICC Dokumente ausgehändigt hatte.

 

Libyen ist nicht Vertragsstaat des Römer Statuts. Trotzdem hat sich die libysche Regierung aktiv an dem Vorverfahren über die Zuständigkeit beteiligt. Denn der ICC ist tätig geworden, weil er einen Auftrag des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen hat, den libyschen Bürgerkrieg strafrechtlich aufzuarbeiten. Dieser Auftrag ist politisch überaus bemerkenswert, weil in New York mit China, Russland und den USA drei Vetomächte, die für sich selbst den ICC prinzipiell ablehnen, dessen Tätigwerden für Libyen akzeptiert haben.

 

Auch Saif al-Islam ist dort durch einen Verteidiger vertreten, der vehement dafür eintritt, seinen Mandanten nach Den Haag zu bringen. Dem Gaddafi-Sohn droht in Libyen die Todesstrafe, es wird kaum aufzuklären sein, welche Aussagen möglicherweise unter Folter erzwungen werden und in der heutigen Machtelite gibt es genügend Personen, die ganz spezifische Interessen haben, um einige Wahrheiten zu unterdrücken und andere aufzuklären.

 

Vor diesem Hintergrund ist die Haager Gerichtsentscheidung vom 31. Mai 2013 im Vorverfahren über die Zuständigkeit eine ausgesprochen trockene, fast bürokratische Lektüre. Der richtige Prozess hat noch gar nicht begonnen und trotzdem muss sich der Leser durch 91 Seiten penibler juristischer Einzelfragen quälen. Das noch junge Gericht versucht, sich seiner selbst zu vergewissern und definiert subtil die Grundbegriffe seiner eigenen Existenz.

 

Für Libyen und für den ICC steht politisch viel auf dem Spiel: Nur einer kann gewinnen

 

Diesen Text wird in Libyen kaum irgendjemand verstehen. Zum Beispiel ist das Gericht nicht überzeugt, dass Libyen wirklich in der Lage ist, ein solches Verfahren ordnungsgemäß durchzuführen. Aber wenn als eine Begründung dafür angeführt wird, manche Zeugen könnten bei der gegenwärtigen Sicherheitslage gar nicht zu einem Prozess in Tripolis anreisen, dann fragt sich der unbefangene Leser natürlich, ob diese Zeugen denn nach Den Haag würden reisen können.

 

Für Libyen und für den ICC steht politisch viel auf dem Spiel. Nur einer kann gewinnen. Also wird es auch einen Verlierer geben. Entweder wird der libyschen Regierung rechtskräftig bescheinigt, sie sei nur der Abglanz einer Regierung. Oder der ICC steht begossen da, weil er zwar im Vorverfahren entscheiden, seine Zuständigkeitsentscheidung aber nicht durchsetzen kann.

 

Auch wenn der Fall völkerrechtlich nach Den Haag gehört – was könnte geschehen, wenn in Libyen tatsächlich ein (wenn auch rechtsstaatlich unbefriedigender) Strafprozess gegen Saif al-Islam al-Gaddafi durchgeführt würde? Gilt dann anschließend der Grundsatz ne bis in idem, nach welchem niemand wegen der gleichen Anschuldigung noch einmal verurteilt werden darf? Die Reputation des Gerichts würde Schaden nehmen.

 

Im Vergleich mit anderen kritischen Argumenten gegenüber den Zukunftsperspektiven dieses Gerichtshofs wäre der Fall Gaddafi aber wohl nur eine Petitesse. Denn politischen Gegenwind gibt es durchaus: Die fehlende Unterwerfung wichtiger Länder lässt die bisherige Praxis als selektiv erscheinen: Man hat dem Gerichtshof vorgeworfen, seine Tätigkeit konzentriere sich vor allem auf Afrika.

 

Traumata und politische Weisheit gleichermaßen in Rechnung stellen

 

Darüberhinaus werden inzwischen aber auch leise grundsätzliche Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Gerichts geäußert. Solche Zweifel nähren sich aus politisch-pragmatischen Überlegungen. Könnte es sein, dass die Assads und Mubaraks und Ben Alis dieser Welt auch deshalb alle Kompromisse abgelehnt haben, weil sie inzwischen wissen, sie könnten auch in Den Haag enden? Wirkt die Strafandrohung möglicherweise in den schlimmsten Fällen nicht abschreckend, sondern anstiftend?

 

Halten die Beschuldigten durch und treten erst zurück, nachdem ihnen national und international Straffreiheit zugesichert worden ist? Bis dahin haben dann viele Menschen ihr Leben verloren. Hinterfragt wird auch die Rolle der Strafverfolgung beim politischen und gesellschaftlichen Neubeginn nach einem extrem polarisierenden Bürgerkrieg oder nach jahrzehntelanger brutaler Unterdrückung einer Minderheit.

 

Der Vergeltungscharakter der Strafe hat immer auch den Beigeschmack der Rache. Hilft es den Schiiten im Irak, wenn Sie jetzt den Sunniten das Gleiche antun, was sie selbst unter Saddam Hussein erlitten haben? Hülfe es ihnen, wenn sie wüssten, dass die Untaten des früheren Regimes strafrechtlich verfolgt werden? Oder wäre es nicht besser, mit Hilfe von Versöhnungskommissionen wie in Südafrika oder Ost-Timor einen gemeinsamen Neuanfang zu suchen?

 

Die Antworten auf solche Fragen müssen Traumata und politische Weisheit gleichermaßen in Rechnung stellen. Wir sollten dies im Hinterkopf behalten, allerdings ohne unsere generelle Unterstützung für diese historisch längst fällig gewesene Stärkung unabhängiger Rechtsprechung in den internationalen Beziehungen abzuschwächen. Die jüngste Diskussion zu der Frage, ob man die Verantwortlichkeit von Chemiewaffen nicht von dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag untersuchen lassen sollte, zeigt, dass diese Institution in der Zukunft noch wichtiger werden könnte. In dieser Perspektive braucht der noch junge Gerichtshof nicht nur juristisch saubere Argumente, sondern auch politisches Fingerspitzengefühl.

Von: 
Gerhard Fulda

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.