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Anschläge in Paris und IS-Terror in Europa

Ein Strategiewechsel des IS?

Analyse

Der Terror von Paris erschüttert Frankreich. Was Ziel und Vorgehen über die Täter und die Strategie des »Islamischen Staats« (IS) aussagen – und welche militärischen Optionen Präsident Hollande und der NATO nun zur Verfügung stehen.

Die islamistischen Terroranschläge der vergangenen Jahre, sei es das Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo, der Angriff auf das jüdische Museum von Brüssel oder der Mord an dem britischen Soldaten Lee Rigby, wurden allesamt von Einzeltätern oder isolierten Zellen ohne direkte Unterstützung des »Islamischen Staates« oder seiner Vorgängerorganisation durchgeführt. Diese oft mit den Fachbegriffen »Homegrown«-und »Lone-Wolf«-Terrorismus beschriebenen Attentate stellen eine enorme sicherheitspolitische Herausforderung für die europäischen Regierungen dar, vor allem weil geplante Anschläge nur sehr schwer zu erkennen sind und Prävention nahezu unmöglich ist.

 

Gleichwohl sind diese Vorfälle bislang keine substanzielle Gefährdung für den Staat oder die öffentliche Sicherheit – sie sind isoliert und meist haben die Angreifer weder die Mittel noch das Können, in der Fläche und über einen Zeitraum von mehreren Tagen Schaden anzurichten. Nach allen bislang bekannten Informationen gehören die gestrigen Anschläge von Paris nicht in diese Kategorie. Sechs der Attentäter sprengten sich selbst in die Luft, bei der Auswahl der Ziele spielte die Repräsentationskraft der Orte nur eine untergeordnete Rolle – die Maximierung der Opferzahl stand offensichtlich im Vordergrund.

 

Die Durchführung solch einer Anschlagsserie setzt viele Monate der Planung und eine enorme Logistik-Kette voraus – etwas worüber isolierte Einzeltäter, selbst wenn sie fest in salafistische Netzwerke eingebunden sind, nicht verfügen.

 

Was Al-Qaida und den IS unterscheidet

 

Wie bereits beim Absturz des Metrojet-Fluges auf dem Sinai am 31. Oktober veröffentlichen IS-nahe Mediendienste unmittelbar nach dem Anschlag mehrere Botschaften, in denen sie die Verantwortung übernahmen, ohne jedoch Details zu den Operationen zu verraten. Im Falle des russischen Fliegers handelte es sich dabei um mehrere Videos und ein Tondokument, im Falle der gestrigen Anschläge von Paris um zwei Textdokumente und eine Audiobotschaft.

 

Die bislang identifizierten Attentäter von Paris entstammen der französischen und belgischen Islamistenszene, mindestens ein Angreifer sei den Sicherheitsbehörden bereits bekannt gewesen. Noch unklar ist, ob ein am Nationalstadion gefundener syrischer Pass in Zusammenhang mit den Angriffen steht. Eine direkte Involvierung des IS in Planung und Durchführung der Anschläge wäre insbesondere aus Perspektive des IS eine deutliche Neuformulierung der eigenen Strategie: Eine der zentralen Fragen, in der die zentralen Ideologen von Al-Qaida und ISIS bislang grundsätzlich unterschiedliche Positionen einnahmen, ist das Konzept des »nahen Feindes« und des »fernen Feindes«.

 

Während Al-Qaida Angriffe auf symbolische Ziele auf dem Gebiet des Feindes zur effizientesten Taktik zur Radikalisierung von Muslimen weltweit erklärt hat, konzentriert sich der Terror des IS für gewöhnlich auf die Errichtung und Vergrößerung des Staatsgebietes des Kalifats. In gewisser Weise ähneln die unterschiedlichen Ansätze beider Organisationen sehr den ideologischen Grabenkämpfen zwischen den linksradikalen Anhängern leninistischer Aufstandstheorien und den Anhängern der Stadtguerilla nach Carlos Marighella (darunter etwa die RAF und die Roten Brigaden).

 

Im Falle der strategischen Unterschiede zwischen IS und Al-Qaida ging es sogar so weit, dass Al-Qaida-Anführer Ayman al-Zawahiri die massenhafte Tötung von irakischen Schiiten als kontraproduktiv ansah, wohingegen der IS Massaker als zentrales Werkzeug zum Brechen der Widerstandskraft der irakischen Bevölkerung und zur religiösen Säuberung des beanspruchten Staatsgebietes nutzte. Während Al-Qaida eine reine Terrororganisation ist, die niemals Versuche unternommen hat, Gebiete zu erobern und zu halten, ist der IS das, was Terrorexperten eine hybride Organisation nennen.

 

Klassischer Terrorismus, die gezielte Gewaltanwendung gegen Zivilisten für politische Ziele, ist dabei nur ein Instrument im Werkzeugkasten. Ebenso tritt sie als Guerilla-Bewegung, als Staatsmacht und als soziale Organisation auf. Damit gleicht der IS viel weniger Al-Qaida, sondern mehr der libanesischen Hizbullah oder der palästinensischen Hamas.

 

Der Vergleich mit der Ausrufung des NATO-Bündnisfalls nach dem 11. September 2001 eignet sich nur sehr begrenzt

 

Sollte der IS selbst und nicht einer seiner semi-autonomen regionalen Ableger als Organisation hinter den Anschlägen von Paris und auf dem Sinai stecken, so ist das eine bedenkliche Entwicklung. Damit würde er, sei es um von den jüngsten militärischen Misserfolgen abzulenken oder um neue Rekruten zu gewinnen, erstmals den »fernen Feind« ins Visier nehmen. Bislang konzentrierte er alle organisatorischen Kapazitäten auf die Bürgerkriegsgebiete in Syrien und im Irak – das machte den IS zwar für dortige Gesellschaften deutlich gefährlicher, für Europa jedoch zu einer berechenbaren Gefahr.

 

Definiert er nun seine Interessen und Strategien neu, muss auch Europa eine neue Haltung dem IS gegenüber entwickeln. Insofern gleichen die gestrigen Angriffe dann auch einer Kriegserklärung. Auch der französische Präsident François Hollande nahm bei einer Pressekonferenz am Sonntag das Wort »Krieg« in den Mund. Ob es sich dabei lediglich um eine politische Aussage handelt, oder Frankreich tatsächlich überlegt, etwa den NATO-Bündnisfall auszurufen oder Maßnahmen zur Selbstverteidigung gemäß Artikel 51 der UN-Charta vorzubereiten, ist noch unklar.

 

Unstrittig wäre ein solches Vorgehen nicht. Zwar hat die in direkter Folge des 11. September erlassene Resolution 1368 des UN-Sicherheitsrates festgestellt, dass Artikel 51 auch bei terroristischen Angriffen von nicht-staatlichen Akteuren gelten kann, diese Rechtspraxis ist jedoch in den vergangenen 15 Jahren heftig diskutiert worden und noch immer gelten für die Anwendung deutliche Einschränkungen. So muss eine Selbstverteidigung etwa stets den Grundsatz der Proportionalität wahren, es keine politische Alternative zu einer militärischen Reaktion geben und diese muss in direktem, auch zeitlichen, Zusammenhang mit dem erfolgten Angriff stehen.

 

Und obwohl sich IS-Theologen stets gegen die Gültigkeit des internationalen Rechts ausgesprochen haben, würde der IS durch solch eine Reaktion Frankreichs zu einem Subjekt des Völkerrechts aufgewertet. Bislang sind Frankreich und eine Koalition anderer Nationen im Irak auf Einladung der Regierung in Bagdad und der kurdischen Provinzverwaltung in Erbil aktiv. Im Schreiben der US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen Samantha Powers an UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon vom 23. September 2014, in dem die USA ihr militärisches Vorgehen gegen den IS begründen, betont Powers die territoriale Integrität des Irak. Die Luftangriffe auf Syrien hingegen werden mit einer Verletzung der Schutzverantwortung Syriens begründet.

 

Den Militäreinsatz gegen den IS auf eine neue völkerrechtliche Basis zu stellen, erscheint vor diesem Hintergrund widersinnig oder zumindest ein enormer zusätzlicher Aufwand. Sofern keine der dortigen Regierungen Einspruch gegen die internationale Militärpräsenz einlegt, sollte ein Einsatz gemäß Artikel 51 der UN-Charta unnötig sein und eine Ausrufung des NATO-Bündnisfalles hätte ebenfalls ausschließlich politische Gründe. In jedem Fall müsste eine militärische Eskalation, insbesondere die Entsendung von Bodentruppen, mit Bagdad und Damaskus abgesprochen werden, sollte Frankreich kein international legitimiertes Mandat anstreben.

 

Insofern eignet sich auch der Vergleich mit der Ausrufung des NATO-Bündnisfalls nach dem 11. September 2001 nur begrenzt: Die UN-Resolution 1368 und die anschließend ausgerufene Operation »Enduring Freedom« hatte die Formation eines historisch einzigartigen ad-hoc Bündnisses zur Folge – heute ist der Kampf gegen des IS bereits in vollem Gange. Und die nahezu grenzenlose Handlungsbefugnis, die der UN-Sicherheitsrat den USA 2001 im Kampf gegen den Terror einräumte, hat sich nicht zur gewohnheitsrechtlichen Praxis entwickelt.

 

In jedem Falle müsste sich Frankreich um eine neue Resolution des UN-Sicherheitsrates bemühen, um seine Militärkampagne gegen den IS langfristig – bis zum Fall von Mosul und Raqqa werden in jedem Fall noch Monate vergehen -  absegnen zu lassen. Einen uneingeschränkter Krieg gegen den Islamischen Staat, wie ihn das Nordatlantikbündnis 2001 gegen die Taliban führte, kann Frankreich unter den aktuellen sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen nicht anstreben. [Der Text wurde nach seiner Veröffentlichung in den letzten drei Absätzen geringfügig überarbeitet, um die juristischen Auswirkungen von UN-Resolution 1368 auf die Rolle von nicht-staatlichen Akteuren zu verdeutlichen. Der Autor.]

Von: 
Nils Metzger

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