Walter Spies sah im Bali der 1930er Jahre ein von der Islamisierung des indonesischen Archipels unberührt gebliebenes letztes Paradies. Doch erst unter seinem maßgeblichen Einfluss wurde Bali zur »Insel der Götter und Dämonen«.
Die künstlerische und intellektuelle Avantgarde seiner Zeit war bei ihm zu Gast: Charlie Chaplin, Vicky Baum, Margaret Mead, Gregory Bateson und viele andere besuchten Walter Spies in seinem großzügigen Anwesen in Ubud, um von ihm in die lokale balinesische Kultur eingeführt zu werden. Bali war »in« in jenen exzentrischen Jahren zwischen den Weltkriegen. In den mondänen Salons von Berlin, Paris und New York waren schwärmerische Geschichten von diesem angeblich letzten Paradies auf Erden zu hören, das in sich alle westlichen Sehnsüchte nach einem mystisch-geheimnisvollen Asien und sanfter Südseeschönheit zu vereinen schien. Und immer war dabei auch die Rede von jenem Deutschen, der in die Geheimnisse der Insel und ihrer Menschen wie kein anderer eingeweiht sein sollte: Walter Spies, Maler, Musiker, Ethnograf, Fotograf und bekennender Homosexueller.
Der 1895 in Moskau als Sohn einer wohlhabenden deutschen Kaufmannsfamilie geborene, musisch und künstlerisch vielfach begabte Spies lebte seit 1923 im damaligen Niederländisch-Indien, dem heutigen Indonesien. Um der kulturellen Enge und homophoben Atmosphäre Europas zu entfliehen, hatte er sich nach Batavia eingeschifft. Nach einem Intermezzo als Hofkapellmeister am javanischen Sultanspalast von Yogyakarta fand er ab 1927 auf Bali seine neue Heimat.
»Darum kann beinah jeder Balinese malen, beinah jeder tanzen oder im Gamelan spielen, ebenso wie er im Reisfeld arbeitet oder die Schweine füttert«
Erst 1909 war es den Holländern gelungen, die kleine Nachbarinsel von Java endgültig in ihr Kolonialreich einzugliedern. Als letzte hinduistische Enklave im muslimisch-malaiischen Archipel galt es den Gelehrten bald als »Museum des alten Java«, da hier die hindu-buddhistische Kultur der vorislamischen javanischen Reiche zu überlebt haben schien. Weit über Gelehrtenkreise hinaus erlangte Bali damals jedoch in Europa und Amerika schnell Berühmtheit als »Insel der barbusigen Frauen«, die mit sexuellen Erfüllungen fern aller westlicher Prüderie lockten.
Auch Walter Spies findet hier sein persönliches Paradies. Auf Bali sieht er sich inmitten eines »großen, heiligen Geschehen«, schreibt er in einem seiner Briefe. »Der große Gang des Lebens ist ein Schauspiel, in dem alle Schauspieler zugleich die Zuschauer und Zuhörer sind, und Kunst ist nur eine der vielen Rollen, die man zu spielen hat!« Es ist die selbstverständliche Integration von Kunstformen wie Tanz, Musik und Malerei in das alltägliche Leben auch der Dörfer, die ihn zutiefst beeindruckt: » für einen Balinesen, und dies durch seine Primitivität, Unverdorbenheit und Naturnähe, ist das Leben die herrliche, heilige Tatsache; die Religion ist lebendig und ist da, um das Leben zu lieben und leben zu lehren, und die Kunst ist lebendig und ist da, um die Heiligkeit des Lebens zu preisen. Kunst ist hier nicht außerhalb des Lebens oder des Glaubens!«, so schwärmt er noch 1939. »Darum kann beinah jeder Balinese malen, beinah jeder tanzen oder im Gamelan spielen, ebenso wie er im Reisfeld arbeitet oder die Schweine füttert.«
Bis heute gehört diese Vorstellung von der exotischen Insel, auf der sich Tanz, Musik und Malerei genauso überwältigend üppig und verschwenderisch dem Besucher darbieten wie seine tropische Vegetation, zum etablierten Bali-Mythos nicht nur der Touristenliteratur. Spies nahm durch seine Studien und seine Rolle als kultureller Vermittler maßgeblich Einfluss auf das Bild, das westliche Besucher, Künstler und Wissenschaftler von Bali in ihren Heimatländern bekannt machen sollten. So konnte er als Berater bei den Dreharbeiten zu Victor Baron von Plessens Film »Insel der Dämonen« (1933) seine Wahrnehmung balinesischer Kultur einbringen. Der für diesen Film von Spies deutlich modifizierte, ursprünglich exorzistische Kecak-Tanz ist heute als »Affentanz« fester Bestandteil jeder Touristenshow mit »traditionellen« balinesischen Tänzen.
Bei aller Schwärmerei fand Spies doch zu einem Verständnis balinesischer Kultur
Auch die Anthropologen Margaret Mead und Gregory Bateson wurden in ihrer wissenschaftlichen Annäherung an Bali nicht nur von Spies’ detailliertem Wissen, sondern auch von seinen Vorlieben geprägt. Wie Spies, der in Deutschland mit dem Stummfilmregisseur Friedrich Murnau befreundet und in seinem eigenen künstlerischen Schaffen als Maler magisch-realistischer Bilder stark von dessen Film »Nosferatu« (1922) beeinflusst war, fühlten auch sie sich von der dunklen, bedrohlichen Dimension balinesischer Trance-Rituale um Hexen- und Dämonenaustreibungen angezogen und widmeten diesen Themen eigene Studien.
Doch die Dämonen, vor denen er als junger Mann aus Europa geflohen war, holen ihn auch auf Bali wieder ein. 1939 klagt ihn die niederländische Kolonialregierung wegen seiner Homosexualität, die er auf Bali offen lebt, an und verurteilt ihn zu einer mehrmonatigen Haftstrafe. Der 2. Weltkrieg bringt dann die endgültige Vertreibung aus dem Paradies: Spies wird 1942 zusammen mit anderen im niederländischen Kolonialreich lebenden Deutschen als Kriegsgefangener auf Sumatra interniert. Eine japanische Fliegerbombe trifft und versenkt das Schiff, das sie nach Ceylon deportieren sollte.
Während im Westen Spies’ Name nach dem 2. Weltkrieg nahezu in Vergessenheit geriet, ist das Andenken an ihn auf Bali selbst noch sehr lebendig. Bei aller Schwärmerei fand Spies doch zu einem Verständnis balinesischer Kultur, in dem sich die Balinesen wiedererkennen konnten. Sie sind sich der Rolle bewusst, die diesem aristokratisch anmutenden Deutschen bei der Förderung lokaler Kunstformen zukam: Gerade auf dem Gebiet der Malerei gab Spies entscheidende Anstöße zur Entwicklung neuer künstlerischer Ausdrucksformen, sein Name ist untrennbar mit der modernen balinesischen bildenden Kunst verbunden. So verweist auch 65 Jahre nach seinem Tod nicht nur das Bild, das sich der Westen von Bali, sondern auch das Bild, das sich die Balinesen von sich selbst und ihrer Kultur machen, immer wieder zurück auf Walter Spies.