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Der IS und Dschihadismus in Libyen

Der Phantom-Staat

Analyse

Die Ermordung von 21 Ägyptern bei Sirte schürt Ängste vor einer Ausbreitung des »Islamischen Staates« in Nordafrika und dem Mittelmeerraum. Doch ein Herrschaftsgebiet ist die libysche Enklave der Dschihadisten noch nicht.

Kurz vor dem vierten Jahrestag des Revolutionsbeginns am 17. Februar 2011 sind der anhaltende Zerfall des libyschen Staats und die daraus resultierende wachsende Präsenz terroristischer Kräfte im Land auf dramatische Weise offensichtlich geworden. So zeigte der sogenannte »Islamische Staat« (IS) in der siebten Ausgabe seines Propagandamagazins Dabiq zunächst Bilder und später in sozialen Medien ein Video von der Enthauptung von 21 in Libyen entführten ägyptischen Christen an einem Strandabschnitt bei Sirte.

 

Als Reaktion griffen die ägyptische (und auch die libysche) Luftwaffe am 16. Februar mehrfach Ziele in der als IS-Hochburg geltenden Stadt Derna an. Das ägyptische Militär wurde entlang der Grenze nach Libyen verstärkt, um ein Eindringen von IS-Kämpfern nach Ägypten zu verhindern. Auch Algerien und Tunesien verstärkten ihre Militärpräsenz an der Grenze zu Libyen. Nur einen Tag später forderte der ägyptische Präsident Abdel-Fattah Al-Sisi eine militärische Intervention der Vereinten Nationen in Libyen, um den IS dort zu bekämpfen.

 

Mit der erstmaligen gezielten Ermordung von Christen außerhalb des bisherigen Herrschaftsgebiets in Syrien und Irak erreicht der Terror des IS eine neue Dimension – und unterstreicht scheinbar die Rolle Libyens als größte Enklave des »Islamischen Staates« außerhalb der Levante. Doch woher kommt diese scheinbar massive IS-Präsenz in Libyen? Ist das Land wirklich mit dem bisherigen Herrschaftsgebiet in Syrien und Irak vergleichbar oder entsteht durch überhöhte mediale Aufmerksamkeit ein verzerrter Eindruck?

 

Seit September 2014 sollen etwa 800 ausländische IS-Kämpfer nach Libyen eingewandert sein

 

Tatsächlich begann die Geschichte des IS in Libyen bereits im Oktober 2014, als in Derna eine islamistisch-dschihadistische Gruppierung namens »Schura-Rat der Islamischen Jugend«, die schon mit öffentlichen Hinrichtungen von Gegnern auf sich aufmerksam gemacht hatte, einen Treueeid auf den IS und deren »Kalifen« Abu Bakr al-Baghdadi ablegte. Kurze Zeit später wurde ein »Scharia-Gerichtshof« in der Stadt eingerichtet, gefolgt von einer Zivilverwaltung und einer Steuerbehörde.

 

Darüber hinaus begann die Gruppe mit dem Aufbau von Ausbildungslagern in der näheren Umgebung der Stadt. Ungefähr zur gleichen Zeit starteten dem IS nahestehende Islamisten in Sirte und später auch in Sabratha den eigenen Fernsehsender namens Tawhid. Anfang November nahm Baghdadi den Treueeid aus Libyen formal an und schickte seinen engen Vertrauten, den Iraker Abu Nabil al-Anbari, als IS-Anführer ins Land. Neben diesem sollen bereits seit September 2014 etwa 800 ausländische IS-Kämpfer nach Libyen eingewandert sein. Hinzu kommen libysche Syrien-Rückkehrer, die dort in der sogenannten Al-Battar-Brigade gekämpft und nach ihrer Rückkehr möglicherweise die erste Keimzelle des IS in Libyen gebildet haben.

 

Bald nach der Annahme des Treueeids begann in der libyschen Hauptstadt eine Gruppe, die sich »Islamischer Staat – Provinz Tripolis« nennt, durch Anschläge auf sich aufmerksam zu machen. Ziel waren vor allem Botschaften arabischer Länder – unter anderem Ägypten und Algerien. Bei einem koordiniertem Angriff auf das Luxushotel »Corinthia« kamen am 27. Januar 2015 zehn Menschen ums Leben. Zusätzlich mehren sich seit einiger Zeit Berichte über offenbar dem IS nahestehende Personen, die durch die Straßen patrouillieren und die Bewohner von Tripolis über die Einhaltung von Scharia-Regeln belehren.

 

Darüber hinaus werden auch immer wieder Geschäfte und Firmen bedroht, in denen es keine strikte Trennung zwischen männlichen und weiblichen Angestellten gibt. Seit Anfang Februar 2015 ist auch in anderen Landesteilen ein Vordringen des IS zu beobachten. So wurde ein Video veröffentlicht, dass IS-Anhänger beim kampflosen Einmarsch in die strategisch günstig gelegene Stadt Nawfaliya östlich von Sirte zeigt – Von dort ist eine Kontrolle weiterer Abschnitte einer nur wenige Kilometer nördlich verlaufenden Ost-West-Küstenstraße möglich.

 

Den Bewohnern drohten sie mit einem direkten Angriff auf die Stadt, sollte diese sich nicht loyal gegenüber dem IS verhalten. Wenige Tage zuvor hatte eine bewaffnete und vermutlich dem IS nahestehende Milizgruppe ein Ölfeld etwa 170 Kilometer südöstlich von Sirte angegriffen. Gleichzeitig verstärkten IS-Anhänger ihre Präsenz in Sirte, wo sie mehrere Regierungsgebäude und Radiostationen unter ihre Kontrolle brachten, von denen sie seitdem IS-Propaganda ausstrahlen. Außerdem forderten sie am 13. Februar alle anderen Milizen ultimativ auf, die Stadt zu verlassen.

 

Islamistische Milizen betrachten IS als neuen Rivalen um Ressourcen und Rekruten

 

Der fortschreitende Zerfall der staatlichen Strukturen angesichts der anhaltenden bürgerkriegsähnlichen Zustände begünstigt diese stetig wachsende Präsenz des IS in Libyen massiv. Dennoch ist die »IS-Herrschaft« in Libyen längst nicht mit der in Syrien und Irak vergleichbar. Das liegt zum einen daran, dass der IS dort von unterschiedlichen dschihadistischen Gruppen in verschiedenen, zum Teil weit auseinander liegenden Städten und Regionen repräsentiert wird, die vermutlich trotz der Entsendung des gemeinsamen Anführers Al-Anbari nicht unter einheitlicher Kontrolle stehen.

 

Auch ihre Kooperation dürfte zum jetzigen Zeitpunkt nur eingeschränkt funktionieren, da die Gruppen auch stark in die lokalen libyschen Konflikte eingebunden sind. Zum anderen kann der IS bisher keine flächendeckende Kontrolle über ganze Landstriche und Städte ausüben. So können die Kämpfer in Tripolis beispielsweise nur aus dem Untergrund heraus agieren. In Derna, Sirte und Nawfaliya kontrolliert der IS zwar einzelne Stadtteile, sieht sich dort aber gleichzeitig der Konkurrenz anderer islamistischer Milizen und Gruppierungen wie beispielsweise Ansar al-Scharia ausgesetzt, die den IS nicht als Verbündeten, sondern als neuen Rivalen um Ressourcen und Rekruten sehen, zu dem die eigenen Kämpfer abwandern könnten.

 

Zudem haben selbst die als islamistisch geltende Nationalversammlung in Tripolis und die ihr nahestehende Milizen-Koalition »Morgengrauen« die Ermordung der ägyptischen Christen verurteilt und sogar eine (bisher nicht erfolgte) Rückeroberung der besetzten Stadtteile in Sirte angekündigt. Somit existiert in Libyen noch keine »Enklave« des IS. Vielmehr verstehen es die dortigen IS-Aktivisten durch geschickte medienwirksame Aktionen, diesen Anschein zu erwecken.

 

Dennoch ist der wachsende Einfluss dieser Gruppe und die von ihr ausgehende Bedrohung nicht zu unterschätzen, da es in Libyen kaum noch funktionierende staatliche Strukturen gibt, die in der Lage wären, der weiteren Ausbreitung des IS wirksam entgegen zu treten. Sollte sich Libyen aufgrund der zahlreichen internen Kämpfe und Konflikte ganz zu einem gescheiterten Staat entwickeln, könnte das Land schlimmstenfalls zu einem neuen sicheren Hafen für den IS außerhalb seines bisherigen Herrschaftsgebiets werden, von dem nicht nur eine große Bedrohung für die Region, sondern auch für Europa ausgehen könnte.


Thiemo Kapffer ist »Head of Intelligence« bei der Falkensteyn GmbH. Zuvor diente der Politikwissenschaftler zwölf Jahre als Marineoffizier in der Bundeswehr, zuletzt im Einsatzführungskommando in Potsdam. Für die Falkensteyn GmbH analysiert Thiemo Kapffer vor allem die Lage in den Ländern Nordafrikas sowie in ausgewählten Staaten des Nahen und Mittleren Ostens sowie im subsaharischen Afrikas.

Von: 
Thiemo Kapffer

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