Tausende gedenken am 19. November der Toten der Mohammed-Mahmoud-Straße und zeigen, dass der gesellschaftliche Graben in Ägypten längst nicht so tief wie befürchtet ist – und sich nicht einfach zwei verfeindete Lager gegenüber stehen.
Viele Junge Männer haben sich versammelt. Mit leeren Augenhöhlen erinnern sie an die brutale Gewalt des Regimes vor zwei Jahren, als die Menschen auf die Straße gingen, um gegen die Macht der Interimsregierung unter Verteidigungsminister Tantawi zu protestieren. Damals hatten Polizisten gezielt auf die Augen von Demonstranten geschossen. Entgegen aller Erwartungen sind die Kundgebungen weitestgehend friedlich verlaufen.
Erstmals seit dem Sturz von Präsident Mursi am 3. Juli ist dabei General Sisi in die Kritik der Demonstranten geraten, der die aktuelle Übergangsregierung leitet und somit indirekter Nachfolger Tantawis ist. Seit den Demonstrationen vom 30. Juni, die den Sturz Mursi einleiteten, galt Sisi als neuer Held Ägyptens. Insbesondere in Kairo, aber auch in weiten Teilen des Landes hatte der Mann, den ägyptische Medien mit Gamal Abdel Nasser vergleichen, einen fast gottgleichen Status. Überall in Kairo ist das Konterfei des Generals zu sehen. Sisi in Uniform, Sisi mit Löwe, Sisi ist überall.
Auf einigen Plakaten prangt sogar der Titel »Assad Masr – Ägyptens Assad« – eine Ehrerbietung, unter der man sich in Europa wohl kaum etwas Positives vorstellen kann. Und auch in Ägypten erfreut sich Syriens Staatschef keiner übermäßigen Beliebtheit. Korrekt übersetzt bedeutet die Zuschreibung eigentlich nur »Ägyptens Löwe«. Dennoch schwingt in dieser Ehrenbezeichnung eine drohende Ambiguität mit.
Immerhin ist das Blutbad vom 14. August in Rabaa al-Adawiyya mit hunderten Toten wohl eines der größten Massaker an Demonstranten seit dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking im Jahr 1989. »Assad Masr« ist also auch eine Warnung: Sisi ist bereit, auf Widersacher und Demonstranten, oder aus einer anderen Perspektive, auf Terroristen zu schießen.
Revolutionäre Sozialisten neben Aktivisten der Kifaya-Bewegung, Anti-Putsch-Demonstranten neben Atheisten
Tatsächlich hat die Militärregierung die Demonstrationen am 19. November sehr gelassen hingenommen. Den ganzen Tag über waren weder Soldaten noch Polizisten in der Nähe des Tahrir-Platzes zu sehen. Nur das Ägyptische Museum wurde dezent von einigen Soldaten gesichert. Durch die Abwesenheit des Militärs konnten sich Gruppen mit verschiedenen politischen Standpunkten zum ersten Mal seit Monaten frei begegnen.
Lange Zeit hatten ägyptische Medien ein Bild vermittelt, demnach die Anhänger des Militärs und die Anhänger der Muslimbrüder bis aufs Blut verfeindet und unversöhnbar seien. Diese Feindschaft war weiterhin spürbar, dennoch sind sich die Menschen nicht an die Kehle gesprungen – und es standen sich nicht länger nur noch Anhänger von Sisi oder Mursi gegenüber. Der Tahrir-Platz präsentierte sich als ein unübersichtliches Gedränge aus verschiedenen Gruppen: Mursi-Anhänger streckten vier, Sisi-Anhänger streckten zwei, Fußballfans den kleinen und den Zeigefinger, Revolutionäre die geballte Faust – manche schlicht den Mittelfinger in die Luft.
Neu war der Protest mit drei Fingern. Die drei Finger stehen für drei Betrüger: Die sogenannten Fulul, einige wohlhabende Systemgünstlinge in Ägypten, die Muslimbrüder und die Armee. Andere erklären die drei Finger als Triumvirat von Mubarak, Mursi und Sisi, die sich nur durch Äußerlichkeiten unterscheiden würden. Die ganze Bandbreite Ägyptens zeigte plötzlich wieder auf dem Tahrir-Platz Präsenz: revolutionäre Sozialisten neben Aktivisten der Kifaya-Bewegung, Anti-Putsch-Demonstranten neben Atheisten.
Während die eine Gruppe skandierte »Das Volk und die Armee sind eins«, rief eine andere, direkt davor »Nieder mit der Militärregierung«. Schließlich waren sogar Slogans wie »Sisi, Kus Umek« , im übertragenen Sinn »Sisi, du Hurensohn«, zu hören. Und dabei ist der Wert der Beleidigung im Arabischen mindestens mit der deutschen Übersetzung gleichwertig. Irgendwann wurde der Slogan auf Mursi ausgedehnt und beiden wurde mit dem Text »Kursi, kursi, kursi, Kus Umek, Sisi ala Mursi« vorgeworfen, nur nach Macht zu streben. Eine Aussage auf die sich anscheinend die Mehrheit der Demonstranten einigen konnte.
Erst in den Abendstunden treibt die Armee die Demonstranten mit Tränengas und Schrotmunition durch die Straßen von Downtown
Der Bann ist gebrochen, die Dichotomie ist aufgehoben. Jeder hat wieder seine eigene Meinung, die Leute diskutieren wild, hin und wieder kommt es zu Rangeleien, ein paar Fäuste und Steine fliegen. Aber im Großen und Ganzen ist die Stimmung zwar angespannt – nicht hasserfüllt. Zwischendurch gibt es zwei Stunden Verschnaufpause. Die ägyptische Fußball-Nationalelf spielt das Qualifikations-Rückspiel gegen Ghana. Nach dem 1:6-Desaster im Hinspiel kann allerdings auch ein 2:1 Sieg das erste WM-Ticket seit 1990 nicht mehr sichern.
Erst in den späten Abendstunden taucht die Armee auf und versucht, die Demonstranten mit Tränengas vom Tahrir-Platz zu treiben. Steine fliegen, angeblich auch Molotowcocktails, die Demonstranten entzünden große Feuer mitten auf dem Platz – in der Hoffnung, dass die Brände das Tränengas neutralisieren könnten. Schließlich müssen sich die Demonstranten geschlagen geben.
Die Armee, die sich den ganzen Tag über zurückgehalten hat, besetzt nun mit Panzern den Platz und treibt die Demonstranten mit Tränengas und Schrotmunition durch die Straßen von Downtown. Drei Monate hat sich die Armee nun dafür feiern lassen, dass sie Ägypten aus der Hand der Muslimbrüder befreit habe. Doch genau wie 2011, als sich die Armee für die Verweigerung von Mubaraks Schießbefehl bejubeln ließ, ist der Punkt gekommen, an dem immer mehr Ägypter nicht länger vom Militär regiert werden wollen.