Der Vize der christlichen Kata'eb-Partei Sejaan Azzi über Parteipolitik im Libanon, den Neustart der Kata'eb nach 2005 – und die ungebrochene Führungsrolle des Gemayel-Clans.
zenith: Herr Azzi, wie hat der Bürgerkrieg den Libanon verändert und hat er das zum Nachteil der christlichen Bevölkerung?
Sejaan Azzi: Man kann nicht von dem einen Libanonkrieg sprechen. Es gab viele, voneinander unabhängige Kriege im Libanon. Den der Palästinenser, den der Syrer, den der Israelis und den der Iraner. Gerade erleben wir – keinen Krieg – aber dennoch eine schwere Krise zwischen den arabischen Staaten und dem Iran, oder noch grundlegender, einen Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten. Heute befindet sich der Libanon an einem Scheideweg. Entweder wir entscheiden uns für einen säkularen Staat oder für eine Föderation vieler religiös geprägter Einzelstaaten. Und meiner Wahrnehmung nach bewegen wir uns aktuell langsam hin zu Letzterem.
Aber vergleichen wir den heutigen Libanon einmal mit dem der 1940er Jahre. Welches Idealbild eines Staates hatten Franzosen und Libanesen, als die Unabhängigkeit 1943 deklariert wurde?
Damals waren 60 Prozent der Libanesen christlich, heute sage ich, dass es zwischen 40 und 42 Prozent sind. Genauso könnte ich aber auch 90 Prozent oder zehn Prozent sagen. Niemand kann Ihnen exakte Zahlen nennen. Wir führen keine zuverlässigen Statistiken darüber, welchen Glaubensgemeinschaften die Menschen angehören.
Ein Umstand, der Ihnen ja gelegen kommen müsste, schließlich wurde die Zahl der Parlamentsabgeordneten für jede Konfession anhand der Zahl ihrer Gläubigen festgesetzt. Demnach wären die Christen aktuell deutlich überrepräsentiert.
Ja, das stimmt. Aber alle Konfessionen des Libanon stimmen auch darin überein, dass die Maroniten auch weiterhin die Politik des Libanon bestimmen. Wir übernehmen die Rolle des Moderators, des Mittlers zwischen den anderen Religionen. Als die Christen die dominierende politische Kraft des Landes waren, hörte man nichts von Problemen zwischen Schiiten und Sunniten, mit den Drusen gab es keinerlei Konflikte. Heute, da die Rolle der Christen geschwächt wurde, ist auf einmal die Rede vom Krieg zwischen Sunniten und Schiiten.
Wie erklären Sie sich da die aktuelle politische Dominanz der Hizbullah?
Die hat nichts mit parlamentarischen Mehrheiten zu tun, sondern vielmehr mit den Waffen der Hizbullah. Mit Gewalt kann sie niemand entwaffnen, allein die Vorstellung ist verrückt. Uns bleiben nur Verhandlungen zwischen Hizbullah, der Armee und den Repräsentanten des Rechtsstaats. Wie schwierig das ist, zeigt, dass selbst Israel die Hizbullah nicht entwaffnet sehen möchte. Als Ass im Ärmel um von eigenen Problemen abzulenken und um Europa und die USA um Hilfe zu erbitten, ist sie ist viel zu hilfreich, genau wie die Hamas im Gaza-Streifen.
Trotzdem hatte die Hizbullah nach dem Sommerkrieg gegen Israel 2006 großen Rückhalt auch unter den Christen des Landes – hat das Ihrer Partei geschadet?
Zumindest hat es der Partei Michel Aouns zahlreiche Wähler beschert. Nur glaube ich, dass der Pakt zwischen seiner »Freien Patriotischen Bewegung« (FPM) und der Hizbullah nicht von Dauer sein wird. Die Waffen der Hizbullah werden uns nicht davon abhalten, zu den Urnen zu gehen. Das haben wir in den letzten Jahren mehrfach bewiesen. Nur kommen wir so unserem Ziel, den Staat Libanon mit all seinen Institutionen wieder aufzubauen, keinen Schritt näher. Aktuell haben wir keinen Staat und nur deshalb können Konflikte, wie sie gerade in Syrien vorherrschen, uns beeinflussen. Stünden wir alle vereint hinter einem starken Libanon, könnten uns weder Assad, noch Obama, noch Israel zum Problem werden.
Sind wir aktuell an einem historischen Tiefpunkt auch für Ihre Partei? Kann es noch schlimmer werden, kann Ihr Einfluss noch weiter schrumpfen?
Nach dem Ende des Bürgerkriegs hatten alle Parteien das gleichen Problem. Jugendliche wollten sich nicht mehr engagieren. Seit 2007 haben wir in jedem Jahr zwischen drei- und viertausend neue jugendliche Parteimitglieder mit Zeremonien offiziell begrüßt. Keine andere Partei kann solche Erfolge vorweisen. 75 Jahre Geschichte haben ihnen gezeigt, dass Kata'eb die Anliegen aller Christen nicht für die Interessen der Partei opfert und dass Amin Gemayel gleichzeitig bereit ist, den Dialog mit den Muslimen voranzutreiben.
»Es geht immer um das Schicksal einzelner Familien«
Da Sie den Dialog ansprechen; noch immer bestimmen Ereignisse des Bürgerkriegs die politische Realität des Landes. Oder glauben Sie, dass zu den zahlreichen Massakern an Christen wie Muslimen bereits alles Nötige gesagt wurde?
Das ist Vergangenheit. Auch die Deutschen oder Franzosen haben eine blutige Geschichte, aber wir sollten über die Gegenwart und die Zukunft sprechen.
Auch wenn heute noch immer die gleichen Politiker aktiv sind, die damals im Bürgerkrieg kämpften?
Im Nahen Osten geht es nicht um Staaten, es geht immer um das Schicksal einzelner Familien. Die ganze libanesische Geschichte lässt sich auf die Schicksale dieser Clans reduzieren. Zwar starten viele junge Politiker ihre Karriere mit dem bewussten Verneinen dieser Familienbande, aber sobald sie in die Zentralen der Macht aufrücken, nehmen sie wieder die Charakterzüge ihrer Väter an. Ein Politiker wie Nabih Berri profilierte sich im Südlibanon einst als Gegenstück zum schiitischen Großgrundbesitzer und langjährigen Parlamentspräsidenten Kamil As'ad. Heute ist er von ihm kaum noch zu unterscheiden, so sehr ist Berri in den feudalen Strukturen der Region verwurzelt.
Wenn wir versuchen, die Geschichte von Kata'eb auch als Familiengeschichte der Gemayels zu begreifen, was bedeutete dann die Rückkehr Amin Gemayels aus dem erzwungenen Pariser Exil im Jahr 2000?
Es war der Start unserer Wiedergeburt. Inzwischen unterhalten wir wieder Parteibüros im gesamten Land, nicht nur den christlichen Gebieten. Und ja, wir müssen auch die besondere Rolle würdigen, die Amin Gemayel in unserer Partei spielt – obgleich wir basisdemokratisch funktionieren. Aber den Preis, den seine Familie über Jahrzehnte für den Libanon gezahlt hat, müssen wir anerkennen. Jeder der Gemayels hat Kata'eb im Blut und viele von ihnen haben das mit dem Leben bezahlt. Sie haben ihr Leben für den Libanon gegeben und darum folgen wir dieser Familie.
»Wir Maroniten werden neutraler wahrgenommen«
Wird der Einfluss der Christen nicht dadurch untergraben, dass sowohl Kata'eb, als auch Lebanese Forces, FPM und SSNP um ihre Stimmen werben? Wäre eine vereinigte christliche Partei nicht ein erstrebenswertes Ziel?
Ich halte es für einen zentralen Bestandteil unserer Demokratie, dass wir auch hier Pluralismus haben. Da wir Christen aber eine Minderheit sind, sollten sich die christlichen Parteien zumindest in einigen Kernfragen untereinander besser koordinieren. Das betrifft auch das Verhältnis zwischen christlich-maronitischen und christlich-orthodoxen Gemeinschaften. Wir wollen sichergehen, dass sich auch Orthodoxe von einer maronitisch geprägten Partei vertreten fühlen. Dass wir ihre Vertretung übernehmen, ist von Vorteil, da insbesondere für die Golfstaaten die orthodoxen Gemeinden des Libanon noch immer ein Relikt der byzantinischen Herrschaft darstellen. Wir Maroniten werden neutraler wahrgenommen.
Sehen Sie Rivalitäten zwischen Kata'eb und den Lebanese Forces? Insbesondere Amin Gemayel war ja lange nicht gut auf Samir Geagea zu sprechen.
Wir haben beide die gleichen Ziele und es ist ganz natürlich, dass es zu Spannungen kommt, wenn zwei Parteien versuchen, die identische Zielgruppe anzusprechen. Die Interessen der Christen insgesamt verlangen von uns jedoch, dass wir zusammenarbeiten und so würde ich die Beziehungen aktuell als gut beschreiben. Als wir Baschir Gemayel verloren, büßten wir viele Dinge ein. Seine Präsidentschaft war der größte Triumph für die Christen des Nahen Ostens und nach seiner Ermordung war nichts mehr wie es war, wenn auch Amin Gemayel versuchte, die Moral der Bevölkerung wieder aufzubauen. Israel zog sich aus der libanesischen Politik zurück, der Schuf-Krieg begann. Wir standen allein gegen die Drusen, gegen Syrien und gegen die Palästinenser da. Die Jahre danach haben wir einen Schlag nach dem anderen verkraften müssen, die Syrer setzten ihnen gefällige Politiker an die Spitze unserer Partei, ich musste mit Amin Gemayel gemeinsam nach Paris fliehen. Und erst nachdem sich Syrien 2005 aus dem Libanon zurückgezogen hatte, konnten wir bei Null neu anfangen.
Sejaan Azzi, diente unter Amin Gemayel in den 1980er Jahren als Vize-Präsident des Libanon und ging nach dem Ende des Bürgerkrieges ins französische Exil. Seit seiner Rückkehr 2005 ist Azzi Vize-Parteichef der christlichen Kata'eb-Partei.