Die unterschiedliche historische Erfahrung von Imperialismus und Kapitalismus erschwert die Annäherung zwischen Asien und dem Westen. Doch die Globalisierung bringt auch eine neue Mittelklasse mit neuen Werten hervor.
In der Friedenskonferenz von Versailles 1919, die aus europäischer Betrachtung durch die ungerechte Behandlung des deutschen Reiches den Keim für den zweiten Weltkrieg legte, kam es zu einem völligen »moralischen Bruch« zwischen dem Westen und den Völkern Asiens, der bis heute im Großen und Ganzen anhält. Dabei schien damals ein einzigartiger Zeitpunkt in der Geschichte gekommen, den Verlauf der Ereignisse in eine völlig andere Richtung zu lenken und das durch den Imperialismus gequälte Asien mit dem Westen zu versöhnen.
Die Basis hierfür lieferte das 14-Punkte-Programm des amerikanischen Präsidenten Wilson, in dessen Kern das Selbstbestimmungsrecht der Völker lag. Diese Punkte schürten bei den Politikern und Intellektuellen Japans, Indiens, Chinas, Koreas, Ägyptens und des Osmanischen Reiches die Hoffnung, endlich Freiheit, Gleichberechtigung und auch Anerkennung zu finden. So unterschiedliche Persönlichkeiten wie Hồ Chí Minh aus Vietnam, der sich für die Konferenz extra einen Cut kaufte, der ägyptische Nationalist Saad Zaghlul und den chinesische Denker Liang Qichao zog es als Vertreter ihrer Länder an den Verhandlungstisch mit dem Westen.
Allerdings – so der indische Historiker Mishra in seinem jüngsten Buch »From the Ruins of Empire« – kam es schnell zu einer völligen Entzauberung des propagierten Selbstbestimmungsrechts: der »Wilsonsche Moment« wurde vergeudet. Nicht nur Wilsons eigener Außenminister Lansing mokierte sich über den »unglückseligen Begriff« der Selbstbestimmung und bedauerte, dass dieser jemals geäußert wurde, der Franzose Clemenceau befand lapidar, dass Gott nur 10 Punkte benötigte, wofür Wilson 14 brauchte. Den asiatischen Vertreten wurde schnell klar, dass die Selbstbestimmung vor allem auf die europäischen Völker des Osmanischen und Habsburger Reiches gemünzt war und nicht auf sie. Offenkundiger als heutzutage trat zudem die latent rassistische Geisteshaltung der westlichen Vertreter zutage.
Wilson, ein Südstaatler, teilte den reflexiven Rassismus seiner Generation und Schicht (inklusive Witze über »Darkies«). Eine Diskussion über den pazifischen Raum verlor sich schnell in rassistischen Witzen über Kannibalen, die der australische Ministerpräsidenten Hughes beisteuerte und Referenzen von Lloyd George zu »Niggern«. Als die Japaner die Gleichheit der »Rassen« auf die Tagesordnung brachten und die Abstimmung hierzu eine Mehrheit erhielt, wurde dieses Ergebnis von Wilson kurzerhand annulliert.
Der Engländer Lord Balfour, später bekannt durch seine »Palästinalösung«, befand hierzu trocken, dass man einen Europäer wohl nicht mit einem Zentralafrikaner auf eine Ebene stellen konnte. Das Ergebnis dieser Konferenz war ein absolutes Desaster und die Möglichkeit, eine gemeinsame Basis mit den aufstrebenden Nationen wie Indien, China und der Türkei zu erzielen, wurde bis auf weiteres vertan. Der islamische Reformpolitiker und spirituelle Wegbereiter der Muslimbrüder in Ägypten, Raschid Rida, schrieb später verbittert: »Euer Liberalismus ist nur für euch selbst. Euer Mitgefühl für uns ist das eines Wolfes für das Lamm.«
Als der später als Präsident von der CIA gestürzte iranische Exilpolitiker Mohammed Mossadegh über den in Paris abgeschmetterten iranischen Wunsch nach Unabhängigkeit in seinem Schweizer Exil hörte, brach er in Tränen aus. So groß war daraufhin die Abneigung der Iraner gegen die Engländer, dass noch Schah Reza Pahlevi versuchte, Ruhollah Khomeini als englischen Agenten zu denunzieren. Saad Zaghloul saß noch im Zug von Marseille nach Paris über sein Englischwörterbuch gebeugt, als Wilson bereits den Engländern ihre kolonialen Ansprüche über Ägypten bestätigte.
Im Hinterland von Hunan fand ein gewisser Mao Zedong in einer Lokalzeitung über das Verhalten der westlichen Alliierten gegenüber Asien klare Worte: »So viel zum Selbstbestimmungsrecht, es ist schandhaft!« Allein eine Besinnung auf sich selbst könne China nun retten. Hồ Chí Minh und auch Jawaharlal Nehru wandten sich nach Paris den Kommunisten zu. Immerhin hatte ja Lenin nach der bolschewistischen Revolution die asiatischen Völker über die geheimen Abmachungen der Alliierten über deren Aufteilung ihrer Interessensphären in Asien informiert. Zusätzlich zu seiner rassistischen Komponente konsolidierte sich der Bruch zwischen dem Westen und Asien nun auch entlang ideologischer Grenzen.
»Seife, Handtücher und moralische Klarheit«
Schon zur Zeiten der Pariser Konferenz waren die Intellektuellen Asiens einigermaßen verwundert, wie der Westen seine moralische Basis und seinen Anspruch trotz seiner offenkundigen Missetaten und Grausamkeiten gegenüber den Asiaten rechtfertigen konnte. Der indische Denker Ghose befand, dass dies ein typischer Akt einer sich im Zuge der industriellen Revolution etablierenden Mittelklasse und deren Werten sei, welche auch vom mächtigen englischen Adel übernommen wurden, der in dieser Entwicklung maßgeblich initiativ war.
Das von dieser Klasse ausgehende Pharisäertum – so Ghose – in Form einer »scheinheiligen Selbstgerechtigkeit«, sei ein notwendiger Bestandteil des englischen Imperialismus, welche die »selbstsüchtige Beraubung und Ungerechtigkeit nur unter dem Mantel der Tugend und Altruismus erlaubt«. Der Bengale Mukhopradhyay schrieb zur selben Zeit über diese Klasse, dass sie nicht erkennt, »dass ihre Glückseligkeit nicht die Basis für ein universelles Glück sein kann«.
Die materialistischen Werte dieser Klasse, ihr extremer Individualismus und die exzessive Bedeutung von exklusiven Eigentumsrechten waren ja schlussendlich auch der Grund für die endlosen europäischen Konflikte und dienen nur bedingt der asiatischen Entwicklung. Bemerkenswerteres ist in den letzten 90 Jahren wohl kaum geschrieben worden. Die europäische Mittelschicht, so befanden auch Analytiker des Kapitalismus, war von der wirtschaftlichen Entwicklung in die schwierige Situation gedrängt, ihr tagtägliches, mitunter ethisch zweifelhaftes Tun in irgendeiner Art und Weise »reinzuwaschen«, um eine innere Balance zu finden.
Das Leben auf dem Markt kann ja durchaus schmutzig sein, viele Hände müssen geschüttelt werden. Was bleibt, ist etwa der Rückzug in ein trautes Heim, das, wie ein Beobachter des niederländischen Bürgertums feststellte, »Seife, Handtücher und moralische Klarheit besitzt«. Dass dieses eigenartige moralische Konstrukt, das einige Fakten verwendet und andere ausblendet, auch Anwendung findet, wenn im Namen der Staatsräson ethisch bedenkliche Dinge getan werden, liegt auf der Hand. Wenn die Widersprüche besonders krass werden, muss mittels Selbstzensur das Bild wieder zurecht gerückt werden.
Wenn dies nicht mehr gelingt, werden manchmal die Leittragenden unterstützt, ohne aber das Grundproblem in den Griff zu bekommen. Zudem kann vermutet werden, dass die westliche Moralisierung mit zunehmenden Erfolg und Machtzuwachs der südlichen Länder zunehmen wird, um den schrumpfenden Abstand zwischen den Regionen zu kompensieren. Diese Moralisierung – so die Polittheoretikerin Chantal Mouffe – wird letztlich durch die europäische Krisenökonomie mit ihren entideologisierten »zwingend notwendigen Maßnahmen« gefördert, oft gepaart mit einer obsessiven Enthüllung von Skandalen. Diese sind so gesehen Ersatz für die »Leere, die im politischen Leben durch die Abwesenheit demokratischer, durch konkurrierende politische Werte informierter Identifikationsformen erzeugt wird«.
Die verschiedene Gewichtung von geschichtlichen Fakten behindert die Annäherung
Obwohl die skizzierten Ereignisse im westlichen Diskurs keinen wesentlichen Platz einnehmen, sind sie sehr wohl in der Erinnerungsprogrammatik der Völker Asiens abgespeichert. Ein Eingang in den Park des Pekinger Sommerpalastes trägt etwa noch heute die Aufschrift »Vergesst nicht die nationale Schande, erneuert die chinesische Nation«. Diese unterschiedliche Gewichtung von geschichtlichen Fakten ist ein bemerkenswertes Phänomen, das eine Annäherung des Westens an Asien zunehmend behindert. Schlimmer noch, diese unterschiedlichen Lesarten forcieren europäische Verhaltensweisen, die von den aufstrebenden Staaten Asiens immer weniger verstanden werden können.
Ein instruktives Beispiel war das Interview des ZDF-Journalisten Claus Kleber mit dem Holocaust-Leugner und vermeintlichen Atom-Aspiranten Mahmud Ahmadinejad. Trotz der moralisch starken Ausgangsposition war das Ergebnis für das ZDF durchwachsen. Kleber wurde in Deutschland erwartungsgemäß kritisiert, dem iranischen Präsidenten eine Bühne gegeben zu haben, um seine bekannten Positionen zu vertreten. Einzig der iranischstämmige Grünen-Abgeordnete Omid Nouripour aber bemängelte, dass das Thema der Unterdrückung der iranischen Opposition zu kurz kam.
Kein empörter westlicher Kommentator erwähnte gar die Rolle Deutschlands bei der Unterstützung des Iraks gegen den Iran in den 1980er Jahren und die Vergasung und Tötung tausender Iraner mit deutschen Waffen und »Dual Use«-Chemikalien, die der Bevölkerung dort wohl in bleibender Erinnerung sein dürften. Ein Durchbrechen dieses moralisierenden Diskurses scheint schwer möglich. »Lernen S' a bisserl Geschichte, Herr Reporter!«, konnte der österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky noch poltern, wenn ihm diese Kurzatmigkeit der Erinnerung zu viel wurde.
In Zeiten der uneingeschränkten Medienmacht sind solche »Ratschläge« nicht mehr denkbar. Auch ein reines »Mehr« an Informationen muss keine wirkliche Änderung zu bewirken, wie die hunderttausenden geleakten Dokumente bezeugen, die ob ihrer großen Zahl von niemanden mehr interpretiert werden können und nur zu bestätigen scheinen, was sowieso jeder weiß. Diese moralische Überhöhung scheint durch einen neuartigen Faktendiskurs allein nur schwer überwindbar. Allerdings: Die Werte und Verhaltensweise der Mittelklasse verändern sich gegenwärtig bedingt durch Technisierung und Globalisierung massiv.
Diese Transformation – oder eher Disruption – formiert eine neue kreative Klasse, die auf korporativer Ebene, aber auch durch einen Zusammenschluss freier Produzenten, sogenannter Peers, zunehmend global agiert. Die Peers verwenden einen »kognitiven Surplus« aus Interessen, Fähigkeiten, verfügbarer Zeit und ethischen Werten, die die herkömmlichen ökonomischen und politischen Hierarchien nicht nutzen können, um journalistisch tätig zu werden, Software zu entwickeln und politische Lösungen mit zu beeinflussen – das Spektrum reicht von Aids-Medikamentenpatenten in Brasilien über den Verfassungsprozess in Island bis zum Kampf gegen restriktive Eigentumsrechte.
Die neue Mittelklasse hat universelle Werte, wie Selbststeuerung, flache Hierarchien und Meritokratie
Diese Klasse agiert global und macht kein großes Aufheben darüber. Oder wie es der Inhaber einer indischen Softwarefirma ausdrückt, der die üblichen Mitarbeiter chinesischer und arabischer Herkunft beschäftigt: »Das ist keine Diversität, das sind Softwareingenieure.« Die neue Mittelklasse hat universelle Werte, wie Selbststeuerung, flache Hierarchien und Meritokratie, sie diskutiert nicht nur, sie packt vor allem an und schafft eigene Lösungen, wenn Wirtschaft und Politik dies nicht können. Ein eigener Politikstil entwickelt sich unter dem Motto: »To resist is to create.«
Diese Klasse ist nicht immun gegenüber Rassismus und Vorurteilen, aber tendenziell rational, weil strikt meritokratisch. Obwohl Asien hier bei dieser Gesellschaftsgruppe noch in den hinteren Rängen rangiert, sind deren Aktionen bei den Unruhen im Iran und Ägypten schon recht eindrucksvoll gewesen. Allerdings zeigt sich in beiden Fällen, dass die neue asiatische Mittelklasse oft nur begrenzte Interessen hat (nur Meinungsfreiheit, aber keine Partizipation der Massen, wie in China) beziehungsweise oft nur in der Lage ist, die Unzufriedenheit der Arbeiterklasse effektiv zu operationalisieren – Ausgangspunkt der Unruhen in Ägypten waren etwa Proteste der Textilarbeiter, die dann von Jugendlichen und Wissensarbeitern verbreitert wurden.
Es bleibt abzuwarten, ob diese Gruppe einen Ersatz für jene großen sozialen Bewegungen darstellt, die im europäischen Kapitalismus die soziale Demokratie erkämpften, oder ob sie sich in Richtung virtueller globaler Netzwerke ausrichtet und ihre unmittelbare Umgebung negiert, wie Bill Clintons früherer Arbeitsminister Reich kritisch bemerkte. Trotz dieser Schwächen und Unzulänglichkeiten besteht die Chance, dass sich eine global agierende Klasse herausarbeitet, die gemeinsame Werte teilt und die möglicherweise auch eine neue Art der Reformpolitik in den Ländern Asiens und Europas umsetzen kann, die den moralisierenden Diskurs durch konkrete politische und ökonomische Projekte durchbricht.
Ayad Al-Ani ist Professor für Change Management und Consulting. Momentan forscht er am Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft (HIIG) auf dem Gebiet der internetbasierten Innovationen und ist Geschäftsführer der Beratungsagentur «tebble». Zuvor war er Professor an der ESCP Europe Wirtschaftshochschule Berlin und der Hertie School of Governance in Berlin. Zusätzlich führte er die Berliner ESCP Europe Wirtschaftshochschule Berlin als Rektor.