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Paradigmen der russischen Außenpoliti

Reiner Wein schmeckt bitter besser

Kommentar

Moskau sorgt vor, schickt Emissäre in den neuen Nahen Osten und empfiehlt sich als Wirtschaftspartner und Beschützer der Christen. Dahinter steckt kein Kurswechsel, sondern ein Paradigma der russischen Außenpolitik.

Syrien versinkt im Blut der Schlachten und der Sturz des Assad-Regimes scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Für Russland wäre der Verlust des treuen Verbündeten ein schwerer Verlust. Im bisher im Vergleich zu anderen Großstädten vom Bürgerkrieg weitgehend verschont gebliebenen Tartus, der zweitgrößten Hafenstadt des Landes, hat der Nachfolger der einstigen Weltmacht Sowjetunion den letzten im Ausland verbliebenen Marinestützpunkt neben der ukrainischen Krim-Stadt Sewastopol.

 

Zwar wird die seit 1971 bestehende russische Präsenz in Tartus vielfach überhöht dargestellt – in Wahrheit befänden sich dort »lediglich ein Kai zum Anlegen und eine schwimmende Werkstatt, die nur kleine Reparaturen ausführen kann und die die einlaufenden Schiffe mit Munition versorgt«, wie Andrej Frolow, Chefredakteur der russischen Fachzeitschrift Waffenexport, dem Deutschlandfunk erklärte. Gleichwohl: Ein Verlust dieses symbolischen Ortes, an dem derzeit russische Kriegsschiffe vor Anker liegen, würde die Regierung in Moskau empfindlich schmerzen. Deshalb scheint man nun vorzusorgen. In einer Großoffensive werden Emissäre in den neuen Nahen Osten geschickt. Russland spricht mit potentiellen Partnern über Wirtschafts- und Militärprojekte.

 

Herr »Njet« vom Moskauer Gartenring

 

Allen voran mit Ägypten, wo man von Anwar Al-Sadat einst vor die Tür gesetzt wurde. Erst vor kurzem besuchte Präsident Muhammed Mursi seinen Amtskollegen Putin in der Schwarzmeerstadt Sotschi, zu besprechen gab es viel. Ägypten will bis zum Jahr 2025 Atomreaktoren mit einer Gesamtleistung von vier Gigawatt bauen und bot der russischen Atomenergiebehörde Rosatom eine Beteiligung an, ebenso an der Ausbeutung von Uran-Lagerstätten. Treibende Kraft hinter dieser außenpolitischen Offensive ist Sergej Lawrow, der russische Außenminister.

 

Ein Alphatier. Der 63-jährige Kettenraucher mit der Vorliebe für italienische Designeranzüge ist seit der Breschnew-Ära im diplomatischen Dienst. Der Sohn eines armenischen Vaters und einer Russin aus Georgien gilt als trinkfest – er präferiert Scotch und Wein – und hat sich international den Titel des Herrn »Njet« vom Moskauer Gartenring erworben – ganz in Tradition des langjährigen sowjetischen Außenministers Andrej Gromyko.

 

Dort steht das russische Außenministerium, das sich im Zuge des Auf- und Umbrüche im Nahen- und Mittleren Osten eine auf das eigene Nutzen beschränkte Außenpolitik zu eigen gemacht hat, bei der selbst Henry Kissinger vor Neid erblasst. Unter der Führung von Lawrow betreibt Moskau eine an Brecht angelehnte Strategie der BRICS-Staaten, die »Moral« – oder was im Westen dafür gehalten wird – erst nach dem ökonomischen »Fressen« ansiedelt.

 

Nach einem jüngst veröffentlichten Bericht der »Gesellschaft für bedrohte Völker« haben sich nach Wladimir Putins Machtantritt im Jahr 2000, der vier Jahre später Lawrow ins Amt des Außenministers berufen sollte, die russischen Rüstungsexporte mehr als verdreifacht; 80 Prozent der Produkte werden von dem staatlichen Unternehmen Rosoboronexport abgewickelt. So unterhält man etwa zu zwei Konfliktparteien gleichzeitig Kontakt, um den eigenen Profit zu steigern, wie im Falle von Algerien und Marokko.

 

Russland rüstet nach den Erkenntnissen der »Gesellschaft für bedrohte Völker« die beiden größten Importeure konventioneller Waffen in Afrika auf. An Algerien seien Panzer, Kampfflugzeuge, U-Boote und Raketenabwehrsysteme geliefert worden. Marokko wolle ein U-Boot und Pantsir-S1-Raketenabwehrsysteme in Russland erwerben. In diesem Fall wird Lawrow sich sein »Njet« verkneifen.

 

Russland stilisiert sich als Schutzmacht der autochthonen Christen

 

Einzig: Es geht nicht allein um eine Duracell-Wirtschaftspolitik, auch symbolisches Handeln ist von Bedeutung. So unterstützt Russland nicht nur den Diktator von Damaskus militärisch, sondern auch die christlichen Minderheiten der Levante. Bezeichnend hierfür war die jüngste Nahost-Reise des russischen Vize-Außenministers. Nach einer Stippvisite in Teheran war er drei Tage lang in Beirut. Dort traf sich Mikhail Bogdanow nicht nur mit Vertretern aller politischer Parteien und Strömungen, bevor er weiter ins jordanische Amman flog.

 

Nein, im pittoresken »Phoenicia«-Hotel empfing Bogdanow christlich-orthodoxe Würdenträger, wie Johannes X., den Patriarchen der griechisch-orthodoxen Kirche in Antiochien. Die Unterstützung der autochthonen Christen dürfte nicht nur auf Putin oder Lawrow zurückgehen, sondern auch die wieder erstarkte russisch-orthodoxe Kirche, mit der der russische Präsident aus populistischen Beweggründen in den vergangenen Jahren eine unheilige Allianz zum Wohle des »christlichen Russlands« eingegangen ist.

 

Und so erklärte Bogdanow in Beirut, man werde sich um die Freilassung der beiden entführten syrischen Bischöfe mit Nachdruck bemühen, stehe in engem Kontakt mit den syrischen Behörden und werde notfalls auch Schritte »abseits der Medienscheinwerfer« einleiten. Der syrisch-orthodoxe Metropolit Mar Gregorios Yohanna Ibrahim und der griechisch-orthodoxe Erzbischof Boulos Yazigi waren vor wenigen Wochen von Bewaffneten verschleppt worden, die die syrisch-orthodoxe Diözese als tschetschenische Mitglieder der Nusra-Front bezeichnet hatte.

 

Bis heute sind die beiden Geistlichen verschleppt und ihr Aufenthaltsort unbekannt. Angesichts dieser Doppelstrategie lässt sich nur konstatieren, dass sich Russland mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zurück auf das diplomatische Parkett gekämpft hat – und wahrscheinlich über die gegenwärtig wenig kohärente Außenpolitik der Europäischen Union nur müde lächelt. Vielleicht steckt Lawrow bei den baldigen Verhandlungen in Genf den europäischen Außenpolitik-Novizen gönnerhaft eine Notiz zu, mit einem Zitat von Brecht? »Wer a sagt, der muss nicht b sagen. Er kann auch erkennen, dass a falsch war«, hatte der einst geschrieben.

 

Wahrscheinlich ist dieses Szenario dann aber doch nicht, es würde ja Europa stärken, das gegenwärtig in nationalstaatlicher Starre verharrt – und damit die vollmundig verkündete »Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik« (a) ad absurdum führt und trotzdem versucht, der Welt vorzugaukeln, man habe (b) ein vitales Interesse an ebenjener Gemeinschaft, die Moral vor dem Fressen ansiedelt.

Von: 
Dominik Peters

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