Wer stoppt den Vormarsch von Boko Haram? Nigerias Regierung und die internationale Gemeinschaft suchen händeringend nach Lösungen im Kampf gegen die Islamisten. Doch Alleingänge oder ein rein militärischer Ansatz sind wohl keine Option.
Die genauen Zahlen variieren, doch nach Angaben von Amnesty International starben Anfang Januar 2015 bis zu 2.000 Menschen bei der Zerstörung der Stadt Baga im Nordosten Nigerias. Die Angriffe der islamistischen Gruppierung Boko Haram werden immer brutaler, die Opferzahlen steigen rasant. In seiner Grausamkeit ist der Angriff auf die am Tschadsee gelegene Stadt nur der traurige Höhepunkt eines mittlerweile fast sechs Jahre andauernden Konflikts.
Mehr als eine Million Menschen sind bereits auf der Flucht und haben bei Familienangehörigen und Flüchtlingslagern in Nigeria und dessen Nachbarländern Zuflucht gesucht. Allein während des Angriffs auf Baga flohen 20.000 weitere Menschen vor der Gewalt. Angesichts der Anschläge auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo weisen Kritiker zu Recht auf die bittere Situation im von Anschlägen gebeutelten Nordosten Nigerias hin. Mit seinen jüngsten Anschlägen hat Boko Haram erneut deutlich gemacht, dass die Gruppe zu einem ernstzunehmenden Gegner herangewachsen ist. Vor allem im Bereich des Tschadsees, im Grenzgebiet zwischen Nigeria, Kamerun, Tschad und Niger, steht mittlerweile ein beachtliches Areal unter der Quasi-Kontrolle der Islamisten.
Bei ihren Angriffen erbeutet die Terrorgruppe immer wieder auch militärische Ausrüstung der nigerianischen Armee. Die Gruppierung strotzt vor Selbstbewusstsein und prahlt in ihren Propagandavideos mit ihrer Feuerkraft. Abubakar Shekau, der schon mehrfach fälschlich für tot erklärte Anführer der Gruppe, protzt im zuletzt veröffentlichten Video, dass das Waffenarsenal der Gruppe mittlerweile ausreichend sei, um »gegen den gesamten Rest Nigeria einen siegreichen Krieg zu führen«.
Erst am 25. Januar konnten nur die vereinten Kräfte von Bürgerwehren und nigerianischem Militär einen Angriff hunderter Boko-Haram-Anhänger auf die Stadt Maiduguri abwehren. Sollte die Landeshauptstadt des Bundesstaats Borno auch noch in die Hände der Terroristen fallen, wär dies wohl der bisher symbolisch und strategisch bedeutendste Sieg der Gruppe. Bisher war der blutige Konflikt zu selten Material für Schlagzeilen. Die nun gesteigerte Aufmerksamkeit ist bitter nötig. Zusehends ringen Politiker weltweit um eine Lösung und erhöhen den Druck auf die nigerianische Regierung. Doch es ist fraglich, wer den Kampf gegen Boko Haram aufnehmen und dem Leiden der dortigen Bevölkerung endlich ein Ende setzen kann.
Nigeria kann im Kampf gegen Boko Haram bisher kaum Erfolge vorweisen
Das unmittelbarste Interesse an der Beilegung des Konflikts hat sicherlich Nigeria selbst. Mehr als 13.000 Opfer forderte der Terror der Islamisten, seit die Gruppe 2009 ihre Aktivitäten intensiviert hat. Doch bisher war Nigerias Kampf gegen Boko Haram ein Desaster. Spätestens seit im Jahr 2013 in den am schwersten betroffenen Bundesstaaten der Notstand ausgerufen wurde, sind tausende Soldaten nach Adamawa, Borno und Yobe entsandt worden. Sie sollen die Lage unter Kontrolle bringen, aber können bisher kaum Erfolge vorweisen.
Schlimmer noch: Boko Haram steigert seine Feuerkraft und macht Boden gut. Insbesondere Präsident Goodluck Jonathan wird zunehmend für die bisherigen Misserfolge als Verantwortlicher ausgemacht. Politische Gegner werfen ihm vor, er sei mehr an seiner Wiederwahl im Februar 2015, als an der Beilegung des Konflikts interessiert. Auch das nigerianische Militär steht im Kreuzfeuer der Kritik. Die Antwort der Armee ist entweder unverhältnismäßig und richtet sich gegen Zivilisten, oder sie erfolgt zu unsystematisch und wenig effektiv.
Den oftmals vorgebrachten Vorwurf, dass die Armee für den Kampf nur unzureichend ausgerüstet sei, weist Sambo Dasuki, der Nationale Sicherheitsberater des Präsidenten, zurück: »Jeder, der behauptet, er sei nicht ausreichend bewaffnet, lügt«, so Dasuki. »Man muss sich nur die Ausrüstung angucken, die Boko Haram der nigerianischen Armee abgenommen hat und die Shekau in ihren Videos zur Schau stellt. Es ist zum Schämen. Wie kann man da ernsthaft behaupten, unsere Soldaten seien schlecht bewaffnet und ausgerüstet?«
In Bezug auf die anstehenden Präsidentschaftswahlen am 14. Februar könnte die prekäre Situation im Nordosten Nigerias dem Amtsinhaber Goodluck Jonathan sogar in die Hände spielen. Denn die meisten Stimmen in den betroffenen Bundesstaaten wären ohnehin nicht an ihn gegangen. Aufgrund der gegenwärtigen Sicherheitslage ist die Durchführbarkeit der Wahl in diesen Regionen aber mehr als fraglich. Auch ist völlig unklar, ob die etwa eine Million Flüchtlinge von ihrem Stimmrecht Gebrauch machen werden können. Gegner der gegenwärtigen Regierung setzen ihre Hoffnungen in den Gegenkandidaten, Muhammadu Buhari.
Erstmals seit der Rückkehr zur Demokratie im Jahr 1999 hat sich die Opposition in einer Partei, dem »All Progressives Congress «(APC), zusammengerauft und hinter einem gemeinsamen Kandidaten vereint. Buhari, der schon bei den letzten drei Wahlen angetreten war, hat somit die realistische Chance, der seit fast sechszehn Jahre regierenden »Peoples Democratic Party« (PDP) das Steuer aus der Hand zu nehmen. Der 72-Jährige kann vor allem auf die Unterstützung durch die überwiegend muslimische Bevölkerung Nordnigerias zählen.
Seine Anhänger sind überzeugt, dass er dem Terror Boko Harams innerhalb weniger Monate oder sogar Wochen entschieden ein Ende bereiten könne. Der Militär hatte sich bereits im Jahr 1983 in das Amt des Staatspräsidenten geputscht und ist bis heute vor allem wegen seiner (weitestgehend erfolglosen) »Politik der harten Hand« im Kampf gegen Korruption in Erinnerung geblieben.
Wie wahrscheinlich ist eine internationale Intervention in Nigeria?
Angesichts des wachsenden medialen Interesses am Boko-Haram-Terror sind auch Akteure der westlichen Welt bemüht, verstärkt auf eine Beendigung des Konflikts hinzuarbeiten. Unisono verurteilten Staatschefs und Sprecher internationaler Organisationen die jüngsten Attacken auf Baga. Ähnlich schreckliche Ereignisse wie die Entführung hunderter Schulmädchen im Dorf Chibok hatten bereits im vergangenen Jahr für Empörung und einen massiven (Twitter-)Aufschrei – auch und gerade im Westen – gesorgt.
Doch ein direktes Eingreifen ist unwahrscheinlich. Gegen eine uni- oder multilaterale militärische Intervention spricht der internationale Einfluss, den sich Nigeria in den letzten Jahren erarbeitet hat. Schon längst ist das Land keine unbedeutende Lokalmacht mehr, deren Interessen und Vorstellungen westliche Akteure einfach übergehen könnten. Nigeria stieß erst 2014 Südafrika als größte Volkswirtschaft Afrikas vom Thron. Mit über 170 Millionen Einwohnern ist es mit Abstand das bevölkerungsreichste Land des Kontinents und dominiert regionale und kontinentale Institutionen.
Westliche Staaten, die eingreifen könnten, haben jeweils ihre eigenen Gründe, dies nicht zu tun. So ziehen es die Vereinigten Staaten im »Krieg gegen den Terror« in dieser Region der Welt beispielsweise eher vor, ihre Interessen durch Stellvertreter verteidigen zu lassen. Statt eigene Soldaten zu entsenden, konzentriert sich die Regierung Obama auf die Ausbildung und Bewaffnung von einheimischen Soldaten vor Ort. Auch die nigerianische Armee erhält logistische Unterstützung und ein umfangreiches Training ihrer Soldaten durch amerikanische Ausbilder.
Ein ganz anderer Akteur, den man im nigerianischen Kontext bisher eigentlich weniger auf dem Radar hatte, ist Frankreich. Nigeria ist im postkolonialen Afrika zwar eigentlich immer noch »Hoheitsgebiet« Großbritanniens, doch diese historisch gewachsenen Klientelverhältnisse sind in die Jahre gekommen. Schon länger streckt die Regierung unter Francois Hollande ihre Finger jenseits der Francafrique, des ehemaligen französischen Kolonialgebiets, aus. Frankreich fürchtet um die Stabilität seines »Hinterhofs« und ist in den letzten Jahren ohnehin mehr und mehr in die Rolle des Gendarmen Westafrikas zurückgefallen. Paris wird aber wohl eher ein Übergreifen des Konflikts auf frankophone Nachbarländer militärisch zu verhindern suchen, als direkt in Nigeria zu intervenieren.
Regionale Initiativen als wahrscheinlichere Lösungsstrategie
Zunehmend greift der Konflikt mit Boko Haram auch auf Nigerias Nachbarländer über und ist zu einem regionalen Problem herangewachsen. Dem Präsidenten Nigers, Mahamadou Issoufou, drohte Anführer Shekau gar, dass sein Land »bald, schon sehr bald, den Zorn Boko Harams« zu spüren bekommen werde. Insbesondere Kamerun wird zusehends in den Konflikt hineingezogen. Internationale Partner reagierten auf diese neuere Entwicklung, indem sie dem Land Unterstützung im Kampf gegen Boko Haram anboten.
Kamerun, so die Hoffnung, könnte eher gewillt sein, internationale Hilfe anzunehmen – Nigeria hatte in der Vergangenheit nur wenig enthusiastisch auf derartige Angebote reagiert und damit einige Akteuren wohl vor den Kopf gestoßen. Zusehends richten sich die Augen daher auf eine mögliche regionale Lösung des Konflikts. Bisherige Initiativen dieser Art waren wenig erfolgreich. Trotzdem setzen Afrikanische Union und Vereinte Nationen weiterhin etwa auf die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS), die – entgegen ihres Namens – in der Vergangenheit insbesondere in der regionalen Krisenintervention erfolgreich in Erscheinung getreten ist.
Allerdings bildet Nigeria das Rückgrat der Organisation. Der »Riese Afrikas« leistet mit Abstand den größten finanziellen und personellen Beitrag zur Regionalorganisation und hat dementsprechend maßgeblichen Einfluss auf gemeinsam getroffene Entscheidungen. Nigeria ist sich dieser Vormachtstellung durchaus bewusst. Bisher stand das Land aber einem Eingreifen durch ECOWAS oder einer anderen multinationalen Einsatztruppe höchst skeptisch gegenüber. »Wir in Nigeria sehen nicht, was der Nutzen sein sollte«, so Sicherheitsberater Dasuki, der dem bisherigen Vorgehen wenig Positives abgewinnen kann: »Wir hatten bereits eine regionale Einsatztruppe mit Hauptquartier in Baga. Die war aber nur dem Namen nach eine multinationale Einsatztruppe.«
Beim Angriff auf Baga sei »nur das nigerianische Kontingent vor Ort geblieben«. Und tatsächlich ergriffen beim Angriff auf Baga dort stationierte nigrische und tschadische Soldaten angesichts der Übermacht von Boko Haram einfach die Flucht. Die nigerianischen Vorbehalte gegen eine regionale Intervention scheinen jedoch zu bröckeln. Nach einem Treffen zwischen dem amerikanischen Außenminister John Kerry und Goodluck Jonathan am 26. Januar ließ der Präsident erstmals verlauten, dass Nigeria mit einer multinationale Einsatztruppe zukünftig stärker zusammenarbeiten werde. Doch der genaue Umfang, die Organisation und das Mandat einer solchen neuorganisierten Eingreiftruppe sind alles andere als eindeutig. Es kann Monate dauern, bis eine Einigung über diese Aspekte erzielt wird.
Ein nigerianisches Problem erfordert nigerianische Lösungen
Wer auch immer den Kampf gegen Boko Haram aufnehmen wird, niemand wird wohl die historisch gewachsene Wut und Unmut, die den Terroristen stetig neue Rekruten in die Hände treiben, mit Waffengewalt aus dem Weg räumen können. Vielmehr kommt es darauf an, die dem Konflikt zugrundeliegenden Problemfelder anzugehen. Religion ist sicherlich ein solcher Faktor. In der Grausamkeit ihres Vorgehens und dem erklärten Ziel, in Nigeria einen Gottesstaat zu errichten, ähnelt Boko Haram zunehmend dem Islamischen Staat (IS).
Auch ideologisch und symbolisch werden in den Auftritten Boko Harams immer wieder Brücken zum IS geschlagen. So hat das Problem Boko Haram zunehmend auch eine globale Dimension. Während der Griff zu den Waffen ursprünglich durch nationale Anliegen motiviert war, verstand es Boko Haram von Anfang an, eigene Ziele mit der Ideologie eines radikalen Islams zu untermauern und Verbindungen zu Terrororganisationen in anderen Regionen der Welt herzustellen. In jedem Fall dominiert islamistische Rhetorik die Selbstdarstellung der medienaffinen Boko-Haram-Anhänger.
Unter der Gewalt leiden dennoch vor allem Muslime. Das Heranziehen von pervertierter muslimischer Ideologie spielt für die Rekrutierung und Mobilisierung neuer Anhänger und die Rechtfertigung von Gewalt also durchaus eine Rolle, ist im Grunde genommen aber lediglich Fassade und Ausdruck tieferliegender Nöte und Wut der Bevölkerung in den betroffenen Gebieten. Dies sind zum einen substanzielle Probleme, wie die sozio-ökonomische Marginalisierung Nordnigerias. Korruption und Vernachlässigung durch den Staat treiben vor allem junge Männer in die Arme der Gruppe, die den Desillusionierten einen Ausweg aus der Perspektivlosigkeit vorgaukelt.
Zum anderen bietet aber auch das unrühmliche Vorgehen des Militärs und der Sicherheitskräfte, das sich allzu oft willkürlich gegen Zivilisten richtet, den Terroristen immer wieder Anknüpfungspunkte, um neue Rekruten zu gewinnen. Vor allem junge, muslimische Männer und Geistliche, die wohl den größten Teil der Terroristengruppe darstellen, stehen unter Generalverdacht und werden Opfer von staatlicher Gewalt. Viele Anhänger Boko Harams dürften denn wohl auch durch Rachegefühle in ihrem Kampf gegen die nigerianische Regierung motiviert sein.
Eine nachhaltige Strategie zur Bekämpfung Boko Harams muss diese Ursachen berücksichtigen. Benötigt werden also vor allem Initiativen, deren Erfolge wohl kaum mit der Waffe in der Hand erzwungen werden können. So bedürfen Armee und Sicherheitssektor einer grundlegenden Neuaufstellung und müssen bei Nichtbeachtung geltender Gesetze zur Verantwortung gezogen werden. Gleichzeitig müssten gezielte Maßnahmen zur wirtschaftlichen Entwicklungen des allzu lang vernachlässigten Nordens Nigerias eingeleitet werden.
Zuletzt – und auch wenn dies für einige Akteure schwer zu akzeptieren sein sollte – dürfen auch politische Verhandlungen mit führenden Mitgliedern der Terrorgruppe nicht als Lösungsstrategie ausgeschlossen werden. Bisher erwies sich das militärische Vorgehen als weitestgehend erfolglos. Keiner der Akteure wird allein die Mammutaufgabe bestreiten können, Boko Haram das Wasser abzugraben. Vielmehr müssen alle Beteiligten koordiniert zusammenarbeiten. Der größte Teil der Arbeit wird jedoch von Nigeria selbst zu bewältigen sein. Ein nigerianisches Problem erfordert nigerianische Lösungen.