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Theaterschaffende im Libanon

Früchte tragen und ernten

Kommentar

Dramaturgin Lydia Ziemke erlebte im Libanon, wie Theaterschaffende mit und ohne ihr Handwerk Veränderungen in ihrem Land bewirken wollen – und warum ihnen das jedes Jahr zu Ostern klar wird.

Françoise sitzt wie eine resignierte Königin im Garten. Durch scheinbar endlose Probleme hat sie einen humoristischen Blick auf das Leben bekommen. Sie liebt ihre Apfelplantage, kann sie aber auch getrost in Ruhe lassen. Achselzuckend stellt sie fest: »Die Äpfel fallen halt herunter.« Am nächsten Morgen sagt ihre Tochter Lamia genau das Gleiche. Sie hätte die Äpfel immer ernten und verkaufen wollen, so wie die Pfirsiche und Pflaumen. Dann denkt sie kurz nach: »2006 und 2007 waren wir im Krieg. 2008 und 2009 war ›Die Hamletmaschine‹.«

 

Ich lasse das erst mal im Raum stehen und frage später: »Ihr wart im Krieg?« An diesem Morgen verstehe ich viel über den Alltag meiner Kollegen hier in Beirut. Sie hasten nicht wie wir in Berlin von Inszenierung zu Inszenierung. Sie müssen auch nicht immer alles auf einer Meta-Ebene diskutieren. Die Libanesen erleben Theater lebensnaher: Sie unterrichten in Schulen, spielen in Flüchtlingslagern und kleinen Dörfern. Ihr Theater nehmen sie nicht unbedingt als Kunst sondern schlicht als Ausdrucksform wahr.

 

Es ist ein Wach-Küss-Apparat für die Fantasie und die Seelen der Kinder, die wissen, dass jederzeit die Raketen wieder fliegen können. Wenn ein neuer bewaffneter Konflikt ansteht oder der Bürgerkrieg aus Syrien endgültig überschwappt, dann werden meine Kollegen in die Flüchtlingslager gehen, um dort das Leben durch Theater zu bereichern, aufzulockern und zu beruhigen. So war es während des Juli-Krieges 2006 zwischen Israel und der Hizbullah, und auch 2007, als die libanesische Armee nach Angriffen salafistischer Milizen das Palästinenser-Lager Nahr al-Bared in Grund und Boden bombardierten.. Deswegen waren sie zu beschäftigt, um die Äpfel zu ernten.

 

Theater gegen Raketen

 

Zwei Jahre später arbeiteten meine Kollegen an einer Version von »Die Hamletmaschine« von Heiner Müller. Während ich die Aufführung auf Video sehe, denke ich, dass das ambitionierte Berliner Theater stolz wäre, solche Leute in der Stadt zu haben – und beschließe, die »Zoukak Theatre Company« bald nach Berlin einzuladen. Im Norden ist es schön und friedlich. Aber auch hier merkt man, wie viel Schaden Libanons Infrastruktur davongetragen hat. Die Älteren sind müde von der Unsicherheit und der Angst, die sie ihr Leben lang begleitet hat.

 

Ich selbst werde nur vom Nachdenken darüber müde, wie viel Energie der Bürgerkrieg gefressen hat. Man muss sich für all das verlorene Potential Leerräume vorstellen, ähnlich denen, die der Architekt Daniel Libeskind im Jüdischen Museum in Berlin für die nichtgeborenen Nachkommen der Juden Europas geschaffen hat. Gleichzeitig häuft sich im  Libanon offensichtlich großer Reichtum – in einigen Stadtteilen der Hauptstadt Beirut fühlt man sich wie auf den Einkaufsboulevards europäischer Metropolen.

 

Aber die kulturelle und geistige Entwicklung bleibt zurück, abgelenkt von religiös motivierten Fehden, Segregation und völliger Unsicherheit. Langsam trübt sich das Licht in der Apfelplantage. Meine Freunde spielen wie besessen Scrabble, während ich mit Françoises Enkelin Ostereier bemale. Mittags hören wir den Kirchenchor zur Ostermesse – die Melodien klingen sehr vertraut, wenn sie auch auf Arabisch zum Besten gegeben werden. Der Tisch ist randvoll gedeckt mit köstlichen Gerichten, unter anderem einer Art Zwiebelkuchen.

 

Auf meine Überraschung darüber, dass meine Großtante immer genau solch einen zubereitet hat, meint Françoise nur: »Wir sind eine Generation. Wir machen das Gleiche, auch wenn wir sehr weit entfernt leben.« Dann machen wir uns ans Eiersuchen. Die kleine Reem bemüht sich sehr, den deutschen Schoko-Osterhasen zu gewinnen. Völlig albern mündet die Suche in einen Gesangswettbewerb, schließlich fließt der Arak.

 

Regelmäßig unvorhersehbar geht überall das Licht aus

 

Inzwischen färbt sich der Horizont rötlich, die Lichter gehen an. Drinnen sitzen wir im Kerzenschein und beim letzten Thymian-Tee wird es dann doch politisch. »Wie soll Frieden mit Israel jemals möglich sein, nach allem was es angerichtet hat?« Jemand stellt die Frage nach der Alternative. Die Antwort ist nicht eindeutig – Hizbullah, Bestrafung und ähnliche Begriffe fallen – mit jedem Tag staut sich im Libanon mehr Frust an. Dabei sitzen hier die Kinder der intellektuellen Köpfe, die Hellsten ihrer Generation.

 

Ihre Arbeit im Theater besteht darin, die Gemüter zu bewegen, um gemeinsam nach Alternativen zur Gewalt zu suchen. Aber selbst sie glauben nicht mehr an eine baldige friedliche Lösung. Weil wir uns im Gespräch verknotet haben, gehen wir spazieren. Wir atmen tief durch und versuchen, die Hoffnungslosigkeit mit Kindheitsgeschichten zu vertreiben. Plötzlich geht überall das Licht aus. Wunderbar und beängstigend finde ich das, aber die Anderen unterbrechen nicht einmal ihr Gespräch. Das passiere fast jeden Tag, sagen sie.

 

»Man weiß nie genau, wann und man stellt sich eben darauf ein – Die Kerzen, der Holzofen und das Batterieradio stehen bereit.« Fast überall im Libanon fällt drei Stunden am Tag die Elektrizität aus, ausgenommen in  Krankenhäusern und Regierungsgebäuden. Angeblich weil nicht genug produziert werden kann. »Und keiner streikt? Keiner stellt das Problem im Wahlkampf an die erste Stelle?« »Nein, es ist nicht mehr so wichtig.«

 

Der ständige Zwist um Macht und Einfluss zwischen den verschieden ethnischen und religiösen Gruppen verhindert seit Jahrzehnten die Reform des völlig maroden staatlichen Stromversorgers »Electricité du Liban«. Am nächsten Morgen hat die Apfelplantage ihren Glanz zurück. Meine Freundin Maya ist traurig wegen der Äpfel. Dennoch denkt sie nur selten darüber nach. Sie isst einfach so viele wie möglich. Maya trägt ihren ganz eigenen Hass auf die Verhältnisse in sich. Sie konnte sich als Frau nie wirklich in der Öffentlichkeit entfalten – sie war immer zu laut, zu bunt, zu extrovertiert für dieses Land.

 

»Gelegentlich hilft es aber auch«, lacht sie. Sie ist Muslima. Ihr Mann Omar ist vor der Hochzeit vom Christentum zum Islam konvertiert. Seine Eltern störe das nicht und es ändere sowieso nichts an ihrem Leben, erzählt Maya. Aber als sie nach einer Wohnung in einem besseren christlichen Viertel in Beirut Ausschau hielten, half es Maya, ihren tiefen Ausschnitt und die hohen Absätze zu tragen. Geschlechterfragen und ihre Historie erforschen sie nun in ihrer nächsten Produktion. Dialektik ist ihr dabei wichtig, und mit Sicherheit werden Äpfel vorkommen.

 

Legenden werden gesponnen und Wahrheiten in der Vergessensarchitektur Beiruts vergraben

 

Eben diese Produktion, »Silk Thread«, kann ich 2012 tatsächlich zum Festival »VOICING RESISTANCE« nach Deutschland einladen. In Berlin verwandelt das libanesische Ensemble alle Ebenen des Ballhaus Naunynstraße in Erzählstationen. Die Darsteller ziehen uns an dem seidenen Faden, der im Grunde alles im Leben verbindet, von einer Station zur nächsten. Darin verweben sie alte Märchen mit neuen Geschichten aus der Zeitung und entblößen damit unsere Fähigkeit, uns schnell an schreckliche Narrative zu gewöhnen.

 

Sie meinen damit das grauenhaft-normale Hinnehmen einer Realität, die man verändern und beeinflussen könnte. So betritt Rotkäppchen eine erbarmungslose Männerwelt, in dem Moment als sie in einen knackig roten Apfel beißt. Immer mit dem Finger auf andere zu zeigen und aus dem Erlebtem keine Konsequenzen zu ziehen, ist ein großes Problem im Nachbürgerkriegs-Beirut. Da werden auch Geschichten übereinander gehäuft, eigene Legenden gesponnen und Wahrheiten in der Vergessensarchitektur vergraben. Im Herbst 2012 hat sich an der Situation in Beirut nichts geändert.

 

Im Gegenteil, neben dem verlässlichen Stromausfall kursieren zahlreiche Geschichten von fadenscheinigen und überteuerten Elektrizitätsabrechnungen. Man bereitet sich auf die nächsten Wahlen 2013 vor, obwohl niemand eine Veränderung erwartet.

 

2012 ist kein gutes Jahr für die Äpfel. Wahrscheinlich sind es Entwürfe zu sozialen Reformen, welche die Mitglieder der »Zoukak Theatre Company« im nächsten Jahr beschäftigen werden. Die Auswirkungen des Konfliktes in Syrien werden sie wieder von der Ernte abhalten. Aber vielmehr hält die grandiose Theater- und Kulturarbeit, die sie leisten, sie von den Feldern fern. Die Knospen der Apfelbäume werden sie zu Ostern wieder daran erinnern.


Die Regisseurin und Dramaturgin Lydia Ziemke lebt und arbeitet in Berlin. Sie reiste ein Jahr lang durch den Nahen Osten und unterhält seitdem enge Beziehungen zur libanesischen Theaterlandschaft.

Von: 
Lydia Ziemke

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