Wer den christlichen Orient bewahren möchte, sollte sich nicht auf autoritäre Macht oder Kirchenfürsten stützen. Sondern die Christen ermutigen, sich zivil zu organisieren und Gehör zu verschaffen. Ein Essay.
Wenn es jemand geschafft hätte, die Türkei in die Europäische Union zu bringen, dann nur ein Staatsmann vom Schlage Mehmet Emin Ali Paschas (1815-1871). Geschliffene Manieren, verhandlungssicheres Französisch, nachdenkliche Augen, ein schlankes, ebenmäßiges Gesicht: Man muss sich schon fragen, weshalb die europäischen Mächte auf den Plätzen ihrer Hauptstädte allen möglichen Generälen Denkmäler errichteten, aber niemand an ihn gedacht zu haben scheint, den einstigen Botschafter, Außenminister und insgesamt fünffachen Großwesir des Osmanischen Reiches. Als eindeutig pro-westlicher und reformbegeisterter Osmane hätte er es verdient gehabt, dass man ihn in Bronze verewigt. Und sonderlich viel hätte es nicht gekostet, denn Mehmet Emin Ali Pascha war von kleiner Gestalt.
Sein Name bleibt mit zwei bedeutenden historischen Ereignissen verbunden: dem Krimkrieg, in dem das Osmanische Reich an der Seite Frankreichs, Großbritanniens und des Königreichs Sardinien gegen Russland siegte; und mit den Staatsreformen, den sogenannten Tanzimat, die das Osmanische Reich im Inneren veränderten.
Das bedeutende Reichsedikt (Hatt-i Hümayun) von 1856 trägt Mehmet Emin Ali Paschas Handschrift, weshalb es sich – Experten zufolge – schon sprachlich von anderen osmanischen Erklärungen unterscheidet: konkret, wenig floskelhaft und weitreichend in seinen Konsequenzen. Mit diesem Edikt wollte das Osmanische Reich seine nichtmuslimischen Untertanen als gleiche Bürger anerkennen. Der Sultan gelobte darin, ihre Sicherheit, ihren Besitz und ihre Würde ohne Ansicht ihrer Konfession zu schützen.
Für die nicht-muslimischen Minderheiten – erwähnt sind insbesondere Christen und Juden – sollten darüber hinaus alle zuvor erteilten Privilegien und Rechte weiter gelten. Niemand sollte gezwungen werden dürfen, seine Religion zu wechseln, die freie Ausübung des Ritus genoss den besonderen Schutz des Staates. Zur Verwaltung der nichtmuslimischen Glaubensgemeinschaften sollten fortan Kommissionen eingerichtet werden. Die Nicht-Muslime sollten in den Streitkräften dienen; einzelne gesetzliche Bestimmungen würden fürderhin von den Behörden in ihre jeweiligen Sprachen übersetzt.
Kirchenfürsten erhielten große Macht über ihre Schutzbefohlenen
Der Plan war nicht schlecht, aber in der Rückschau betrachtet ging er wohl nach hinten los. Jedenfalls sofern man ihn an seinen Integrationserfolgen misst. Die damalige osmanische Herrschafts- und Verwaltungspraxis, welche die Reichsuntertanen in Konfessionsgemeinschaften unterteilte, entsprach gewiss dem Zeitgeist. Sie war nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass viele Minderheiten in entlegeneren Landesteilen lebten und sich am besten selbst organisierten: im Osten Anatoliens, am Euphrat, in den Bergen Kurdistans oder des Libanon.
Insbesondere die verschiedenen christlichen Konfessionen folgten einer gewissen religiösen Stammeslogik, die mitunter an die Priesterherrschaft der Israeliten im Alten Testament erinnert: Wo keine mächtigen Feudalherren die Geschicke lenkten, rückten die Popen in politische Führungspositionen. Und das Osmanische Reich hatte diese Kultur in einer Weise gefördert, welche die Gesellschaften des Nahen Ostens ebenso stark, wenn nicht sogar stärker prägte als die kolonialen Eingriffe der Europäer im 19. und 20. Jahrhundert: Während der Sultan-Kalif als Beherrscher aller Gläubigen für die Muslime zuständig war, sollten religiöse Würdenträger der Nichtmuslime, ob Bischöfe oder Patriarchen, sich um ihre jeweilige Konfessionsgemeinschaft kümmern. Sie standen der Obrigkeit als Ansprechpartner zur Verfügung und vereinten rechtliche, politische und religiöse Macht auf sich. Sie hatten sozusagen ihr Haus sauber zu halten und darauf zu achten, dass die Christen parierten.
Unglücklicherweise bestärkten die europäischen Mächte damals diese Entwicklung, indem sie in den religiösen Minderheiten ein Potenzial zu ihrer eigenen Machtentfaltung sahen. Den Christen im Osmanischen Reich ging es insgesamt nicht besser oder schlechter als anderen, aber da innere politische Konflikte des Reiches zuweilen die Gestalt von Pogromen gegen Minderheiten annahmen, wurden auch Christen Opfer solcher Anfeindungen – meist nicht direkt durch den Staat, sondern durch andere Gruppen und Konfessionsgemeinschaften, wobei wiederum die Behörden oftmals eine unrühmliche Rolle spielten, weil sie nichts dagegen unternahmen.
Für die Christen besonders traumatische Auswirkungen hatten etwa die Unruhen von Aleppo 1850, in deren Folge der osmanische Gouverneur christliche Stadtviertel mit Artillerie beschießen ließ, oder der Bürgerkrieg im Libanongebirge 1860, der sich unter anderem auf Damaskus ausweitete und in dem mehrere tausend Christen hauptsächlich von Angehörigen der drusischen Minderheit getötet wurden.
Die europäischen Mächte leisteten keinen Beitrag zur Integration der Minderheiten. Im Gegenteil
In den europäischen Staaten des 19. Jahrhunderts, insbesondere in Frankreich, wo Medien und öffentliche Meinung die Außenpolitik nun mitbestimmten, galt der Schutz der katholischen Christen unter dem Halbmond als eine heilige Pflicht. Im Geiste dessen, was man heute wohl als eine auf Werte oder humanitäre Belange ausgerichtete Intervention betrachten würde, hatten sich die aggressiv expandierenden Mächte jeweils Schutzbefohlene gesucht, die zu ihren Interessen passten. Und die osmanische Herrschaft hatte diesen Bestrebungen zunächst wenig entgegengesetzt: Die russische Zarin Katharina die Große etwa deklarierte schon Ende des 18. Jahrhunderts kurzum die orthodoxen Christen, die zahlenmäßig einen Großteil der christlichen Gemeinschaften im Orient ausmachten, zu ihren eigenen Untertanen.
Frankreich erklärte sich zur Schutzmacht der katholischen Maroniten. Großbritannien nahm sich, um ein Gegengewicht dazu zu bilden, der – nichtchristlichen – Drusen in der Levante an. Und das Deutsche Reich, das spät auf der Weltbühne erschien, wollte seine schützende Hand über die Juden im Osmanischen Reich halten. Es war sonst wohl niemand anders übriggeblieben, und beim Wettstreit um die prestigeträchtigen religiösen Stätten im Heiligen Land konnte es jedenfalls nicht schaden.
Die europäischen Mächte, die Mehmet Emin Ali Paschas Reformedikt mit vorangetrieben hatten, händigten nun sogar eigene Pässe an osmanische Bürger aus, die den Minderheiten entstammten. Sie gewährten ihnen vor Gericht konsularischen Beistand, forderten Immunität ein und verlangten mitunter sogar, dass nicht osmanisches, sondern das jeweilige Recht des europäischen Staats zur Anwendung komme. Dies verstärkte die – gefühlte und reale – Rechtsungleichheit, zumal zahlreiche Fälle von Missbrauch dieses Privilegs durch Kriminelle aktenkundig wurden. Nicht nur, dass die bürokratischen Reformen unerwünschte Nebenwirkungen hatten. Sie kamen wohl auch etwas zu spät, wenn man betrachtet, dass in vielen christlichen Teilen des Reiches, insbesondere in den europäischen Provinzen, bereits ein Nationalismus Einzug gehalten hatte, den die Osmanen kaum noch stoppen konnten.
Die Lebensrealität der Christen in den orientalischen Provinzen, wo sie Minderheiten waren, sah deutlich anders aus. Und im osmanischen System war, wie auch in den Systemen anderer islamischer Imperien, die Ungleichheit der Untertanen im Grunde bereits angelegt. Reformen hin oder her. Sie setzt sich im Nahen Osten auch in der Gegenwart fort: Da die osmanische Justiz auf den Traditionen der islamischen Rechtsauslegung (scharia) basierte, viele Untertanen des Sultans aber keine Muslime waren, mussten andere Lösungen her.
Im Erb- oder Personenstandsrecht schlug und schlägt sich dies bis heute nieder: Laut Scharia darf ein Nichtmuslim keine Muslima heiraten, ein Christ oder ein Druse wiederum nur eine einzige Ehe führen – zumindest nur eine zur selben Zeit. So gibt es heute selbst in den arabischen Republiken unterschiedliche Rechtsprechung und sogar Gerichte für unterschiedliche Gemeinschaften, wenn es etwa um Fragen der Eheschließung, des Erbrechts oder des Personenstandes geht.
Mit solchen Details, die einen schier in Teufels Küche bringen, wollte sich die osmanische Herrschaft lieber nicht beschäftigen. Insofern war die Rechtsautonomie, die man den »Schutzbefohlenen«, also den nichtmuslimischen Minderheiten zuerkannte, ein pragmatisches Modell. Eines, das solange gutging, wie die Minderheiten weitgehend unter sich in entlegenen Gebieten lebten.
Zu Problemen führte dieses Vorgehen allerdings in städtischen Ballungszentren, wo sie als Minderheiten lebten. Dort, wo es damals wie heute vorkommen konnte, dass die einen fasten, während die anderen gern mal einen Schweinsbraten mit einem Glas Rotwein zu sich nehmen. Wo Christen, Juden und Muslime miteinander Handel trieben und Immobiliengeschäfte machten. Wo der Spross des einen zum Militärdienst ging und der des anderen zu Hause blieb. Und wo es auch damals schon vorkommen konnte, dass jemand sich versehentlich in einen Sohn oder eine Tochter aus der falschen Konfession verliebt.
Warum sollten Kirchenleute die Interessen der Christen vertreten?
Diese konfessionelle Unterteilung der Gesellschaft nahm ein beträchtliches Ausmaß absurde Formen an und prägt , die in vielen Nachfolgestaaten des osmanischen Reiches bis heute prägen. Selbst zwischen christlichen Gemeinschaften, etwa Griechisch-Orthodoxen, Aramäern, Katholiken oder den wenigen durch europäische Missionare zum Protestantismus konvertierten Christen waren Eheschließungen kaum denkbar, obwohl das osmanische Recht dem im Grunde nicht im Wege gestanden hättestand. Doch aus Sorge um das Fortbestehen der Gemeinschaft, vor allem aber wohl um den eigenen Machterhalt, verweigerten die religiösen Oberhäupter oftmals ihren Segen.
Man muss nicht in allem die Haltung des vehementen Kirchenkritikers Martin Luther teilen, der einmal schrieb: »Die Höll ist mit geschorenen Mönchsköpfen gepflastert.« Aber dassDass die Kirchenleute damit ihren Gemeinschaften in einen guten Dienst erwiesen haben, darf man im Hinblick auf die Christen des Orients in der Gesamtschau eher bezweifeln. Wer ein System, das bereits auf Macht, Hierarchien und Bevormundung aufbaut, noch mit politischen und rechtlichen Vollmachtengesetzgeberischen Kompetenzen juristischen Vollmachten ausstattet, muss sich nicht wundern, dass es diese im eigenen Interesse nutzt.
Das galt damals wohl ebenso wie heute.
Es mag sein, dass die Kirchen, allen voran die päpstliche Kurie, in den vergangenen Jahrzehnten Geheimdiplomatie betrieben haben, um den christlichen Orient, wie sie ihn verstehen, zu bewahren. Und Das Gedenken der vielen engagierten Gottesmänner niederen Ranges haben sich , die sich über die Jahrhunderte für das Wohlergehen ihrer Gemeinden aufopferten,aufgeopfert. Aber diese Leistungen verlassen verblasst leider angesichts einer anderen Realität: Bischöfe und Patriarchen, die sich über die Jahrhunderte zu zuverlässigen, willfährigen Genossen despotischer Regime machten. Und die ihnen Anbefohlenen allem Anschein nach als Tributzahler und dumme, unmündige Schafe haltehaltenn. Von Macht mögen diese Kirchenleute viel verstehen; gute Führung ist, wie man heute weiß ,von christlichen Grundlagen hat sich ihr Verhalten gleichwohl eine andere Sacheweit entfernt.
Ignatius Aphrem II., der aktuelle Patriarch der Syrisch-Orthodoxen Kirche, rief, so zumindest berichten unter Gläubige aus Gesprächen im kleineren Kreisn schon zur Vernichtung der Rebellen in seiner Heimat auf. Ohne sich zu fragen, was Menschen in diesem blutigen Konflikt zum bewaffneten Widerstand bewegt. Man versteht ja, dass sich ein Kirchenmann in Syrien nicht allzu mutig gegen das Regime auflehnt; aber niemand zwingt ihn, derart leidenschaftlich das Gegenteil zu tun. Jean-Clément Jeanbart, Erzbischof der griechisch-melkitischen Kirche von Aleppo, pries in einem Gespräch mit der Genfer Zeitung Le Temps den Kampf des Regimes gegen den Islamismus und bezeichnete die massenhafte Flucht von Zivilisten als eine Erfindung der CIA.
Sein Damaszener Patriarch, Gregorius III. Laham, pries das Regime in vielen Medienauftritten und erklärte 2015, dass nur so viele Syrer nach Deutschland gekommen seien, weil sie auf eine Einladung der Bundeskanzlerin reagiert hätten, nicht etwa, weil sie unter Krieg und Vertreibung litten.
Die Liste ließe sich lange fortführen, doch Bischöfe und Patriarchen machten sich nicht nur zu willfährigen Propagandisten autoritärer Regime, sondern arbeiteten auch aktiv mit deren Geheimdiensten zusammen.. Ein kritischer Geist, der sich diesem System verweigerte, scheint unter den Männern Gottes der Region die Ausnahme, nicht die Regel zu sein.
Dass der geweihte Mann in der Soutane ein legitimer Vertreter einer christlichen Gemeinschaft sei, beruht also auf dem fatalen Missverständnis, dass die kirchenhierarchische Stellung selbstverständlich mit einer inhaltlichen RepräsentanzVertretung der christlichen Gemeinschaftender Gläubigen einhergehe. Bis heute haben diese Diskrepanz auch viele in Europa nicht begriffen, sodass nochfast immer, wenn auf internationalen Konferenzen über den sozialen Frieden, die Konflikte und die Lage der bedrückten Minderheiten im Nahen Osten diskutiert wird, lädt man deren religiöse Würdenträger eingeladen sind. Sie mögen im Einzelfall politisches Verständnis haben, oft ist jedoch das Gegenteil der Fall.
Christ sein ist im Nahen Osten heute keine primär religiöse, sondern vor allem eine kulturelle und gesellschaftliche Angelegenheit
Denn sie denken nun einmal selbst in hierarchischen, autoritären Machtstrukturen. Sie haben – historisch und auch aktuell – den despotischen Regimen zu viel zu verdanken, um als alternative Stimmen sprechen zu können. Und vor allem hat sie niemand aus den christlichen Gemeinschaften gewählt, um diese zu vertreten. Deshalb können sie gewiss die Kirchen, nicht aber für die christlichen Gemeinschaften zu sprechen. Zumindest, wenn man diese als etwas Anderes betrachten möchte als Stämme, die sich von Priestern durch die Wüste führen lassen und beten, dass hin und wieder ein Wunder geschieht.
Christ sein ist im Nahen Osten heute – und war es auch schon in früheren Zeiten – nicht eine primär religiöse, sondern vor allem eine kulturelle und gesellschaftliche Angelegenheit. Christen definieren sich verschieden. Aber die christliche Identität vereint Fromme mit Säkularen, die heute auch im Orient einen erheblichen Teil der Christen ausmachen, innerhalb ihrer Gemeinschaft. Mit dieser Feststellung einher muss die Erkenntnis gehen, dass die Christen einer zivilen Repräsentation bedürfen. Vor allem, wenn verhandelt wird, ob das Christentum im Nahen Osten eine Zukunft haben soll oder ob die Christen sich samt und sonders in die Emigration begeben.
In den von Terror und Gewalt zerstörten Teilen Syriens und des Irak, wo Christen und christliche Kultur betroffen sind, zeigt sich die besondere Dringlichkeit. Aber auch in der Türkei oder in Ägypten: Die internationale Gemeinschaft muss direkt mit den zivilen Vertretern der christlichen Minderheiten sprechen, anstatt sich nur auf die Regierungen und Regime zu verlassen, die vorgeben, sie zu schützen.
Ob ein Mensch mehrere Religionen haben kann, darf als umstritten gelten. Dass man verschiedene kulturelle Prägungen in sich vereinen kann, hingegen nicht. So lässt sich auch in diesem Fall die konfessionelle Logik ‒ der Sektarismus ‒ nur dann überwinden, wenn man einerseits das Christliche als eine kulturelle Prägung ansieht und andererseits klar und deutlich zwischen den Vertretungsansprüchen von Kirche und Gemeinschaft unterscheidet. Dafür wäre es wohl notwendig, dass man die Kleriker an die Wahrnehmung ihrer eigentlichen Pflichten erinnert: Seelsorge, geistlichen Beistand, moralische Erziehung. Und die Bewahrung der jahrtausendealten christlichen Kultur in einer äußerst unchristlichen Zeit.
Dieser Beitrag ist ein aktualisierter Auszug aus Daniel Gerlachs Buch »Der Nahe Osten geht nicht unter. Die arabische Welt vor ihrer historischen Chance«, das 2019 in der Edition Körber-Stiftung erschien.