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Dokumentation Der Islam der Frauen

Khadidschas Erbinnen

Analyse
Dokumentation »Der Islam der Frauen«
Aufnahme aus der Dokumentation »Der Islam der Frauen« von Regisseurin Nadja Frenz. Vincent Productions

Regisseurin Nadja Frenz lässt in ihrer neuen Dokumentation muslimische Frauen die Frage beantworten: Kann Feminismus islamisch sein? Dabei macht der Film vieles richtig, verkennt aber auch ein zentrales Problem. Vier Suren und eine Filmkritik.

Gleich zu Beginn des Filmes erfährt der Zuschauer von Khadidscha, also sollen Sie es hier auch tun. Sie war die einzige Frau des Propheten Mohammeds, mit der er eine Einehe gepflegt haben soll. Und sowieso die Verkörperung weiblicher Unabhängigkeit und Selbstbestimmung im patriarchalen Islam der Altvorderen. Da sich an diesen Strukturen bis heute wenig geändert hat, dient sie einigen der Protagonistinnen in der Dokumentation »Der Islam der Frauen« als Vorbild.

 

Der Clou der Doku ist, dass sie weitestgehend auf die sonst übliche Erklärstimme aus dem Off verzichtet. Stattdessen lässt Regisseurin Nadja Frenz zehn Frauen (und einen Mann) zu Wort kommen und ihr Verständnis eines weiblichen Islam formulieren. Das funktioniert, weil hier eine Frage ausgelotet wird, nämlich die nach der Verträglichkeit von Islam und Feminismus. Die Frauen sollen dazu jeweils eine ihnen passende Sure aus dem Koran vorlesen.

 

Es geht um die ganz heißen Eisen: Sex vor der Ehe, Schwangerschaftsabbruch, Kopftuch, Freiräume – ohne Ehemann oder Vater. Und immer um die Frage: Was steht wirklich im Koran? Denn die eingangs erwähnte Khadidscha ist gleichzeitig Symbol einer der Botschaften des Filmes: Der Islam in seinem Wesenskern ist eine Religion der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Eine gewagte These, doch die Frauen finden die Beweise dafür direkt in den Suren des Koran. Und schaffen so eine gute Gelegenheit, sich einige der Stellen und Protagonistinnen genauer anzusehen:

 

Sure an-Nisā' (4:11): Der Islam ist eine paritätische Religion

Die französische Theologin Ndella Paye beginnt mit einem historischen Exkurs: In vorislamischer Zeit wären Frauen in der Gesellschaft nicht mehr wert gewesen als Tiere oder Gegenstände. Der Mann verfügte über sie, konnte sie tauschen oder vererben. Ihrer Meinung nach habe erst der Islam den Frauen ihre Würde zurückgegeben. Die Religion, der Koran, beinhalte bereits alles, was eine weibliche Interpretation ermögliche, vor allem die Gleichstellung von Mann und Frau im Erbrecht. In Sure 4:11 heißt es, die Frau solle in gleichen Teilen erben wie der Mann und damit selbst nicht mehr als Objekt, als Ware wahrgenommen wurde.

 

Auch Fawzi Charfi, Professorin für Physik an der Universität in Tunis, sieht das so. Viele Menschen verbinden den Islam mit drakonischen Strafen. Diese seien in den Korantexten selbst aber gar nicht enthalten. »Die Scharia ist eine Ansammlung von Vorschriften, die 200 Jahre nach dem Koran von Männern niedergeschrieben wurden, die den Koran entsprechend interpretierten.« Die islamische Verbots- und Strafenkultur bedürfe einer Generalüberholung. »Nur Gott ist der Prophet, nicht Muhammad.«

 

Sure al-ʿAlaq (96): Lies!

Sure 96 ist auch bekannt unter dem Namen Iqr, die arabische Befehlsform fordert zum Lesen auf. Es ist die erste Sure, die Gott Muhammad offenbart haben soll. Amal al-Raisi ist Modedesignerin aus dem Oman, spricht fließend Englisch und ist im Film Repräsentantin der erfolgreichen, muslimischen Businessfrau, zugleich Chefin von mehreren männlichen Angestellten. Sie wählte diese Sure, um darauf aufmerksam zu machen, wie wichtig das Lesen der Suren ist, also auch deren Auslegung. Gottes Wort ist rein und richtig. »Erst durch seine Weitergabe wurde aus ihm ein Instrument männlicher Machtlegitimation.« Die deutsche Autorin Sineb El Masrar (u.a. »Emanzipation im Islam«) pflichtet ihr bei: Nicht der Islam sei das Problem, sondern das Patriachat. Es gehe um eine moderne Auslegung der islamischen Quellen. »Emanzipation hängt demnach davon ab, von wem und mit welcher Geisteshaltung den Koran ausgelegt wird.«

 

Sure an-Nisā' (4:1-3): Wenn nur Männer lesen

Ins Detail geht der Film dann zusammen mit der Politologin Sarah Marsso. Sie lebt in Frankreich und leitet dort das Frauennetzwerk Mussawah. Als Tochter eines Imams weiß sie seit ihrer Kindheit, sich durch den Koran zu manövrieren und in ihm Belege für eine männliche Fehlinterpretation zu finden. Als Beispiel führt sie die ersten Āyāt der Sure 4 zur Frau an.

 

Darin wird den Männern das Recht gewährt, mehrere Frauen zu haben. Ausgehend von Zeile 1 und 2 werde durch eine männliche Interpretation dieser Zeilen der Zusatz in Zeile 3 schlicht ausgelassen: Gott rät von der Vielehe ab! Männer lesen nun mal was sie lesen wollen, so die Botschaft. Marsso meint, der Koran enthalte viele mehr Suren, die eine paritätische Interpretation des Koran zulassen. Sie bringt die Ziele eines islamischen Feminismus auf den Punkt: Einerseits wissenschaftlich zu untersuchen, wie die Auslegung bestimmter Suren Frauen unterdrückt. Andererseits Formen der Gleichberechtigung innerhalb der islamischen Praxis zu finden. Was das für sie genau bedeutet, bleibt dem Zuschauer allerdings verborgen.

 

Sure an-Nisā' (4:34): Der Koran ist eindeutig!

Sineb al-Rhazoui, ehemalige Mitarbeiterin des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo, gehört im Film zu den lautesten Kritikern einer Erneuerung des Islam. Es gebe keine »falsche« Auslegung des Koran, seine Worte seien eindeutig und frauenverachtend: In der umstrittenen Sure 4, Zeile 34, heißt es auf Arabisch: Uḍrubuhunna, zu Deutsch: Schlagt sie. Auch ist sie eine der wenigen Frauen im Film, die das Patriachat losgelöst von der Religion wahrnehmen. Ein wichtiger Punkt, denn: »Das Schicksal der Frauen darf nicht an eine mögliche Reform des Islam geknüpft sein«. Es gehe darum, das Patriachat selbst zu bekämpfen.

 

Die libanesische Journalistin Joumana Haddad gehört ebenfalls ins Lager der Kritikerinnen eines Feminismus innerhalb der Religion. Sie ist Katholikin. Das ist wichtig, denn mit ihr verlässt der Film seinen Fokus und spannt den größeren Bogen – indem das Schlaglicht auf die allumfänglich männerdominieren Gesellschaften des Nahen Ostens geworfen wird. Feminismus müsse daher säkular sein und darf nicht bei der Religion aufhören. Das Patriachat tue es auch nicht. Haddad lässt es nicht aus, hier auch auf Europa und seine unzureichende Gleichberechtigung zu verweisen. Wo sind all die Frauen, wenn etwa die europäischen Regierungschefs zusammenkommen?

 

Die omanische Architektin Aysha Farooq stört sich ebenfalls an der europäischen Scheinheiligkeit. Sie kritisiert die Bevormundung durch einen westlichen Feminismus-Diskurs, der einen eigenen, islamischen Weg nicht akzeptieren will. Der Westen schreibe den muslimischen Frauen vor, wie sie Emanzipation zu leben haben. Nach dem Motto: Selbst wenn du dich nicht unterdrückt fühlst, bist du es aber! Damit einher geht die Frage: Sind die westlichen Vorstellungen von Geschlechtergerechtigkeit 1:1 auf den Islam übertragbar?

 

In dieser Frage bleibt der Film uneindeutig – weil er zu zaghaft mit einer der zentralen Debatten unserer Zeit umgeht: Die des Kulturrelativismus. Sind unsere westlichen Traditionen und Vorstellungen übertragbar auf andere Kulturen, Gesellschaften? Gibt es die universell richtige Moral, Kultur, Geschichte oder mehrere? Der Film verfehlt es, den Frauen die entscheidende Frage zu stellen oder lässt sie unbeantwortet: Was würde Feminismus und Gleichberechtigung ganz konkret bedeuten?

 

Stattdessen bewegt sich der Film hauptsächlich auf akademischem Terrain. Das wird auch in der Auswahl seiner Protagonistinnen deutlich: Ausnahmslos alle Protagonistinnen sind gebildet, sprechen fließend Englisch oder Französisch, kommen aus Beirut, Tunis, dem Oman – längst Synonyme für einen Lebensstil nahe an westlichen Vorstellungen. Wo sind die Frauen aus den unteren Milieus, wo sind Frauen aus den restriktiven Gesellschaften der islamischen Welt – aus Saudi-Arabien, aus Iran? Und überhaupt: islamische Frauen, die nicht aus der arabischen Welt stammen, aus Indonesien, Pakistan, oder Europa? Nur ein Fünftel aller Muslime weltweit sind Araber.

 

Die Frauen betonen, es gehe ihnen um einen islamischen Feminismus, einen dritten Weg sozusagen, frei von den Vorstellungen einer durchsäkularisierten modernen Elite westlicher Großstädte. Es gehe im islamischen Feminismus um Selbstbestimmung, weniger um Freiheit. Es drängt sich allerdings der Eindruck auf, der Film mache diese Frauen selbst zu Teil eben jener Elite. Der »Islam der Frauen« sieht sicher auch noch anders aus.


»Der Islam der Frauen« ist am 1. April 2020 um 21:45 Uhr auf arte zu sehen.

Von: 
Linus Hüller

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