Seit wann pilgern Juden anderswo hin als nach Jerusalem? Auf Djerba schon ziemlich lange. Für die einen ehrt die »Ghriba« die tunesische Demokratie. Für die anderen ist es ein Fest zum Flirten – mit Gefahren von ganz unerwarteter Seite.
Am Freitag vor dem großen Finale der Pilgerfahrt verdunkelt sich der Himmel. Der Wind peitscht Sand aus der Sahara in Böen über Djerba und schüttelt die Flugzeuge beim Anflug auf die größte Insel Nordafrikas. Die Sitzreihen der Maschinen sind gut gefüllt, haben sich doch unerwartet viele jüdische Pilger und Zaungäste angekündigt. Hunderte Gläubige aus Frankreich, Israel, Belgien, Australien und Großbritannien sind gekommen, um das jüdische Fest »Lag baOmer« in der El-Ghriba zu begehen, einer der ältesten Synagogen der Welt.
Die Pilger beleben mit ihrem Kommen eine Tradition, die so gar nicht mit dem Zeitgeist vereinbar scheint. Seit Jahren ruft die israelische Regierung arabische Juden nach Jerusalem und warnt seine Bürger vor Reisen nach Tunesien und dem Besuch der El-Ghriba-Synagoge. Eine Warnung, der sich die britische und belgische Regierung nach den Anschlägen von Sousse und Bardo 2015 angeschlossen haben. Tunesien ist noch immer im Ausnahmezustand. Das Land kämpft mit seiner schwachen Wirtschaft und einer porösen Ostflanke zum benachbarten Libyen, über die nicht nur Benzinschmuggler ins Land kommen, sondern immer wieder auch Kämpfer des selbst ernannten »Islamischen Staats«. Erst Anfang vergangenen Jahres schlichen vermummte Kämpfer über die Grenze und stürmten in die nur wenige Dutzend Kilometer Luftlinie von Djerbas wichtigster Synagoge entfernt liegende Stadt Ben Guerdane. 45 Menschen verloren ihr Leben, der Schock sitzt tief.
Die Ankunft der Pilger in solch stürmischen Zeiten hat deshalb etwas Trotziges und ermutigt die Inselbewohner, die wie viele Tunesier vom Tourismus leben. »Wir haben das Fest viele Monate vorbereitet und hatten ein gutes Gefühl; aber am Ende ist es noch besser und größer geworden«, René Trabelsi faltet zufrieden die Hände vor den Bauch und wirkt sichtlich erleichtert. Der in Frankreich lebende Mittvierziger wäre beinahe tunesischer Tourismus-Minister geworden und hat stattdessen mit seiner Reiseagentur »Royal First Travel« maßgeblich dazu beigetragen, dass die tunesische Regierung am Ende von 3.000 Pilgern sprechen darf, ohne rot zu werden. Eine Leistung, die die Pilger mit Schulterklopfen aller Orten würdigen, während sie dafür sorgen, dass stets genug Boukha in Trabelsis Becher ist. Und es ist nicht nur der tunesische Feigenschnaps der ihn zu späterer Stunde die El-Ghriba zum Symbol für die Möglichkeit des Friedens zwischen den Religionen erklären lässt.
Die Ankunft der Pilger in solch stürmischen Zeiten ermutigt die Inselbewohner, die wie viele Tunesier vom Tourismus leben.
Mit Ausnahme von Marokko ist Tunesien das einzige nordafrikanische Land, in der noch eine nennenswerte Zahl von Juden lebt. Einst gab es im Land über 100.000 Tunesier jüdischen Glaubens, heute sind nur noch etwas mehr als 1.000 Juden auf Djerba geblieben und ein paar Hundert, die in der Hauptstadt Tunis und umliegenden Städten wie La Goulette leben. Der Exodus begann in den 1940er-Jahren und hielt mehrere Jahrzehnte an. Viele »Djerbi« flohen vor der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg nach Frankreich oder machten sich später auf, im jungen Staat Israel zu leben. Von der einstigen Größe und Bedeutung jüdischen Lebens zeugen heute aufgegebene Synagogen, verwilderte Friedhöfe und in arabische Ornamentik eingearbeitete Davidsterne auf Türen im ganzen Land.
»Wir sehen das jüdische Leben nicht, weil wir es doch selber leben«, beschreibt der Hotelier Farhat Ben Tabfous das Lebensgefühl. Denn für den 45-Jährigen ist die Insel weder primär von jüdischen noch von muslimischen Leben geprägt, sondern von djerbischer Inselkultur, die sich in einem entspannten Gang der Dinge, der Architektur und dem Essen spiegelt: »Natürlich, jeder hat seine Religion aber wir leben und feiern gemeinsam.« Viele jüdische Gäste kommen zwar in großen Hotels unter, die auch koschere Kost anbieten können, einige Pilger mieten sich aber auch in kleine, inhabergeführte Unterkünfte wie Farhats »Jardins De Toumana« ein. Wenn nötig, versorgt er die jüdischen Gäste mit dem speziellen Essen, wie ein anderer Hotelbetreiber erklärt.
Trotz seiner Öffnung für den europäischen Massentourismus hat sich Djerba aber seine durch die Geografie begünstigte Inselmentalität bewahrt. Fremde hatten es nie leicht, auf die nur durch einen schmalen Römerdamm mit dem Festland verbundene Insel zu gelangen. Schon früh wussten sich die Djerbi mit einer Reihe zu Burgen ausgebauter Küstenmoscheen gegen Feinde zu wehren und die traditionelle Inselarchitektur kennt kleine, nicht auf Augenhöhe liegende Fenster, durch die man kaum in die Häuser gucken kann. Eine Bebauung so charakteristisch, dass die Regierung in Tunis Djerba als UNESCO-Weltkulturerbe eintragen lassen will. Farhat, der Hotelier, fasst es so zusammen: »Wir kennen uns hier und wissen, wer wo wohnt.« Auch deshalb, so sagt er, habe der Anschlag auf die El-Ghriba im April 2002 keinen Keil in die Gemeinschaft treiben können. Damals explodierte ein mit 5.000 Litern Flüssiggas beladener Lastwagen vor der Synagoge, 21 Menschen starben, darunter 14 Deutsche. Der Fahrer des LKW war zwar ein Tunesier, aber eben kein Djerbi. Überrascht habe das damals niemanden.
Bei aller Gemeinsamkeit ist sich die jüdische Inselgemeinde ihrer Herkunft doch sehr bewusst. Die Legende will es, dass die Siedler nach der Zerstörung des ersten Jerusalemer Tempels durch den babylonischen König Nebukadnezzar II. bereits im 6. Jahrhundert vor Christus als Flüchtlinge nach Djerba kamen. Teile des Tempels, Steine und eine Tür, hatten sie retten können; im Exil errichteten sie die El-Ghriba – »die Fremde«. Eine Studie des »New Yorker Albert Einstein College of Medicine« stützt diese Behauptung und belegt eine direkte genetische Verwandtschaft von tunesischen Juden und ihren noch heute im Nahen Osten lebenden Glaubensbrüdern. Dies, bilanziert die Studie, lege die Vermutung nahe, dass Juden in Tunesien über Jahrhunderte vor allem innerhalb ihrer Gemeinde geheiratet hätten.
Die jüdische Gemeinde auf Djerba wächst wieder – auch dank der hohen Geburtenrate.
Noch heute leben die Juden auf Djerba vor allen in zwei Vierteln, der Hara Kebira und der Hara Sghira. Die Verhältnisse sind konservativ, am Sabbat wird weder gesprochen noch gearbeitet und die Rolle der Frau in den Familien ist klar geregelt; und so trägt auch die geschätzte Geburtenrate von vier bis fünf Kindern je Familie dazu bei, dass die jüdische Gemeinde auf Djerba wieder wächst. Für Rafram Chaddad sind das beengende Verhältnisse. Der auf Djerba geborene und in Jerusalem aufgewachsene Künstler ist Spross einer Familie prominenter jüdischer Funktionäre und als nicht-praktizierender Jude und Israelkritiker der faule Apfel am Stammbaum seiner Familie. Nach Stationen in den USA und Europa, darunter auch Deutschland, ist er seit zwei Jahren zurück in Tunis und geht mit seiner Heimat hart ins Gericht.
»Tunesien vermarktet das friedliche Miteinander, aber die Juden auf Djerba sind sehr nationalistisch. Pro-Israel, Anti-Palästina. Auch wenn sie das Außenstehenden nicht sagen, haben sie ein Problem mit arabischen Muslimen.« Chaddad sitzt in seiner Wohnung, einer fantastisch großen, verstaubten und kaum möblierten Etage eines alten jüdischen Stadtpalasts im Suk von Tunis. Hinter der großen Brille blitzen wache Augen, während er im Stakkato doziert und nur innehält, um an einem Becherchen türkischen Kaffees zu nippen. »Mir geht es in meiner Kunst um Kultur, nicht um Religion. In La Marsa, einer Stadt bei Tunis, gibt es zum Beispiel jüdische Restaurants, die kein koscheres Essen anbieten. Sowas würde es auf Djerba nie geben.«
Chaddad ist es ernst mit seiner Suche nach Identität. Als Kriegsdienstverweigerer musste er in Israel mehrfach ins Gefängnis und in Libyen wurde er inhaftiert und gefoltert, als er noch unter Gaddafi dem jüdischen Erbe des Landes nachspürte und dabei zu viele unangenehme Fragen aufwarf. Heute reist er durch Tunesien und dokumentiert aufgegebene Synagogen und verfallene Friedhöfe. Mit seinem so geschärften Blick für die tunesische Ausprägung des Judentums ist ihm die Israel-Fixierung der orthodoxen Djerbis ein Dorn im Auge: »Warum sollte ich denn nach Israel gehen? Weil Netanyahu mich ruft?« Viele djerbische Juden sehen das anders und so könnte es in einer seltsamen Wendung der Geschichte am Ende der Lockrufs Israel sein, der die jüdische Kultur auf der Insel für immer verändert: »Israel definiert sich als Land der Juden und meint, für uns alle zu sprechen. Aber Netanyahu und die anderen kennen uns doch überhaupt nicht.«
Die Stimmung an der Synagoge ist derweil auf dem Höhepunkt. Es ist Sonntag und die letzten Stunden haben viele Pilger damit verbracht, Heirats- und Kinderwünsche auf koschere Hühnereier zu schreiben und diese in einer kleinen Grotte unterhalb der El-Ghriba zu platzieren. Wer sein Ei nach ein paar Stunden hervorholt und isst, so die Überlieferung, dessen Wunsch wird erfüllt. Weil die Synagoge für die vielen Menschen zu klein ist, sitzt das Gros der Pilger in der angrenzenden, ehemaligen Karawanserei. Die Luft ist voll von hellem Klirren angestoßener Bierflaschen und schwer von dem Bratfett, in dem Brik geschwenkt wird, ein traditioneller tunesischer Snack.
Lag baOmer ist ein fröhliches Fest, das eine festgelegte Periode der Trauer, die »Omer-Zeit«, unterbricht. Es ist ein Gedenken an den Mystiker Schimon Bar Jochai, Autor des wichtigsten Werks der Kabbala, dessen Tod eine mysteriöse und tödliche Seuche für einen Tag innehalten ließ. Vielleicht erklärt sich auch so, warum die Pilgerfahrt auch als Heiratsmarkt für die Gemeinde gilt. Hier treffen sie sich alle, ob Juden, Muslime, oder Christen, ob Djerbi, Israelis oder Franzosen. Hohe Schuhe, kurze Röcke, drapierte Haare: Die jungen Mädchen sind fein herausgeputzt und werfen den Jungen eindeutige Blicke zu. Die Alten lassen Bier- und Boukhaflaschen kreisen und immer wieder reißt es einen der Pilger hin und er singt laut, aber niemals lange allein.
Kurz vor dem großen Finale, das in der Prozession einer in Brokat gehüllten Thora-Rolle ins nahe gelegene Dorf und zurück besteht, mischt sich immer mehr Prominenz unter die Menge. Perez Trabelsi, der greise Vorsteher der El-Ghriba und Vater von Reiseunternehmer René, steht aber selbst für hohe Gäste nur noch ungern auf und so müssen sich Botschafter, Minister, Rabbis und andere Würdenträger zur Begrüßung hinabbeugen. Und gekommen sind sie alle. Am Morgen war Tunesiens Regierungschef Youssef Chahed mit seinem Innenminister an der Synagoge, später folgen die Kulturministerin und weitere Vertreter tunesischer Parteien.
Es sind Besuche, die die enorme Bedeutung der Pilgerfahrt für Tunesien belegen. Vornan stehen natürlich wirtschaftliche Überlegungen, war und ist Djerba doch für viele Europäer in erster Linie eine Urlaubsinsel und Lag baOmer gilt in der Tourismus-Branche als Indikator für den Rest der wichtigen Sommersaison. 400.000 Tunesier sind in diesem Sektor beschäftigt und die ersten Zahlen für 2017 geben Anlass zur Hoffnung. Zugleich ist die Pilgerfahrt für Tunesiens Politiker aber auch eine rare Gelegenheit, der Welt zu zeigen, dass Tunesien noch immer das nordafrikanische Musterland und zu Recht Europas wichtigster Partner in der Region ist. Die Stimmung ist also entsprechend gut – wäre da nicht Israels Reisewarnung.
»Djerba ist so sicher wie Paris oder Berlin.«
Obwohl es viele gute Argumente gibt, die israelische Warnung für eine diplomatische Volte von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu zu halten, hängen die mahnenden Worte den Ehrengästen wie Wüstensand in der Kleidung. Selma Elloumi Rekik, die Kulturministerin, gelingt es auf einer Pressekonferenz nicht, der Warnung die Schärfe zu nehmen. René Trabelsi, der Reiseunternehmer wiegelt ab (»Ach, die Israelis machen doch nur ihre Arbeit.«) während sein Vater Perez Trabelsi den Ball zurückspielt und Tunesien gleich für »sicherer als Israel selbst« erklärt. Auch der französische Botschafter Olivier Poivre d’Arvor guckt gerade eben so gequält, wie es sich ein Diplomat erlauben darf und wiegelt ab. Nein, man habe nicht überlegt, selber eine Reisewarnung herauszugeben und überhaupt, er könne nicht für die Israelis sprechen: »Djerba ist so sicher wie Paris oder Berlin.«
Fest steht, dass die El-Ghriba während der Pilgerfahrt der wohl am besten bewachte Ort Tunesiens ist. Über den Köpfen der Besucher kreist ein Hubschrauber des tunesischen Militärs im Tiefflug, während auf umliegenden Dächern Scharfschützen wachen. An allen Zufahrtsstraßen stehen mit Sturmgewehren bewaffnete Polizisten neben martialischen, von den USA spendierten Panzerfahrzeugen. Auf den Schultern ihrer Uniformen prangen die Embleme diverser Spezialeinheiten: Dolche, Kobras, Skorpione. Weiß getünchte Betonblöcke versperren allen Autos den Weg zur Synagoge, so dass selbst der amerikanische Botschafter Daniel Rubenstein die letzten Meter zu den Pilgern im Kreise seiner Bodyguards zu Fuß bewältigen muss.
Die Stimmung der Gäste ist davon scheinbar ungetrübt. Weder in den Hotels, noch am Strand, noch an der Synagoge wirken die Menschen verängstigt angesichts der Präsenz der Sicherheitskräfte. Im Gegenteil, eine Gruppe weiße Kleider tragende Mädchen posiert neben den Männern in ihrer schwarzen Kampfmontur und ringt den grimmig schauenden Soldaten ein stolzes Lächeln ab. Allerorten schlendern die Menschen, lachen mit offenem Gesicht, plaudern, schlemmen, lassen sich treiben und genießen die Sonne, die am Ende ein Einsehen hat und doch noch zwischen den Wolken hervorkommt. Der Sturm ist weitergezogen.
Die Recherche wurde vom tunesischen Fremdenverkehrsamt unterstützt.