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Koblenzer Folterprozess wegen mutmasslicher Kriegsverbrechen in Syrien

Was der Syrien-Prozess für Assads Folteropfer ändert

Feature
Syrien-Prozess in Koblenz
Auch der syrische Internet-Pionier Bassel Khartabil (1981-2015) gehört zu den tausenden Syrern, die in den Knästen des Regimes verschwanden und starben. Foto: Christopher Adams

Die Anwendung des Weltrechtsprinzips im Koblenzer Syrien-Prozess erlaubt es, Ex-Offiziere des syrischen Regimes zur Rechenschaft zu ziehen. Doch viele Folteropfer scheuen den Rechtsweg.

Jihad al-Khaled* wurde jäh aus dem Schlaf gerissen und sprang von seinem Bett auf, als Agenten die Tür seines Hauses im Morgengrauen eintraten – gemeinsam mit den anderen Demonstranten hatte der Syrer stets befürchtet, dass so etwas passieren könnte. Die Eindringlinge beschimpften ihn, einer schlug ihn mit dem Kolben seines Gewehrs. Innerhalb weniger Minuten wurde Jihad aus den eigenen vier Wänden getrieben. Zurück blieb seine entsetzte Mutter.

 

»Willkommen in der Hölle.« Mit diesen Worten, so erinnert sich Jihad, wurde er von einem der Männer in einen Bus gestoßen, vollgepackt mit dutzenden Bewohnern seines Viertels in Zabadani, einem beliebten Urlaubsort an der Grenze zum Libanon. Das war im Mai 2011 – nur einen Monat nach Beginn der Proteste. Weil sie an den Demonstrationen teilgenommen hatten, wurden Jihad und seine Nachbarn nun zusammengetrieben.

 

»Sie peitschen mich, sie traten mich, und sie schlugen mich nach Belieben zusammen«

 

Neun Jahre später erinnert sich Jihad sehr bildlich an die Folter, die er im Al-Khatib-Gefängnis durchmachen musste. Die Haftanstalt wurde von der »Abteilung 251« betrieben– einer berüchtigten Geheimdiensteinheit, die für Sicherheitsfragen in und um Damaskus zuständig ist. »Sie peitschten mich aus, sie traten mich, und sie schlugen mich nach Belieben zusammen«, berichtet er. Jihad wurde regelmäßig grün und blau geschlagen. An manchen Tagen kam es noch schlimmer: »Sie drückten Zigaretten auf mir aus – auf meiner Brust, meinem Rücken und meinen Beinen.«

 

Die Haft war gespickt mit sadistischen Foltermethoden, aber die qualvollste war der »Deutsche Stuhl«, erinnert sich Jihad. Die Gefangenen mussten sich auf einen klappernden Metallstuhl setzen, dabei wurden ihre Hände unnatürlich nach hinten gebunden, dann folterten ihre Peiniger sie mit Stromstößen. Jihad beschreibt diese Methode als grausam, ist sich aber nicht sicher, ob es sich wirklich um eine deutsche Erfindung handelt. »Dieses Land war gut zu mir«, sagt er im Telefongespräch. Er sitzt in seiner Wohnung in Deutschland – dort lebt Jihad, seit er vor einiger Zeit als Flüchtling nach Europa kam.

 

Jihad traute seinen Ohren nicht, als er hörte, dass der Mann, der für seine Qualen im Al-Khatib-Gefängnis verantwortlich war, vor ein deutsches Gericht gestellt werden solle. Anwar R., ein hochrangiger syrischer Geheimdienstoffizier, dem die Untersuchungseinheit der »Abteilung 251« und das Gefängnispersonal unterstand, war von der Polizei im Februar letzten Jahres festgenommen worden – nun muss er sich als erster Vertreter des syrischen Regimes vor einem Gericht verantworten.

 

Das historische Gerichtsverfahren begann am 23. April im Oberlandesgericht Koblenz, der Prozess wird wohl fast ein Jahr lang dauern. Anwar R. wird Folter von 4.000 Menschen vorgeworfen, außerdem ist er für 59 Morde und mindestens einen Fall von Vergewaltigung und sexueller Nötigung angeklagt. Eyad G., ein Beamter und Mittäter von Anwar R., steht wegen der Mithilfe zur Folter in 30 Fällen vor Gericht.

 

Ermutigt der Prozess tausende weitere Opfer dazu, ihre Foltergeschichten zu teilen und Gerechtigkeit vor europäischen Gerichten einzufordern?

 

Dennoch entschied sich Jihad, den Prozess aus der Ferne zu verfolgen und keine offizielle Zeugenaussage abzugeben – zumindest nicht, solange seine Familie noch in Syrien lebt. »Meine Eltern wären in Gefahr, wenn ich aussagen würde.«

 

Die Angst vor dem langen Arm des Regimes begleitet auch Ahmad*, einen syrischer Flüchtling, der in Deutschland nahe der französischen Grenze lebt und mit zenith in fließendem Deutsch, aber auch unter der Bedingung der Anonymität spricht und eine ähnliche Geschichte zu erzählen hat. Auch er wurde im Al-Khatib-Gefängnis gefoltert und hat Angst, auszusagen, weil seine Eltern immer noch im Regimegebiet in Syrien leben.

 

Er räuspert sich, hält seine Tränen zurück und erinnert sich an seine Zeit in der Haft. »Sie forderten mich auf, Assad als meinen Präsidenten, als meinen Gott zu bejubeln, und schlugen mich dabei brutal zusammen«, erzählt er. »Am schlimmsten war es, wenn sie uns nicht schlugen, sondern uns die Schreie der anderen hören ließen.« Ahmad sagt, er würde nicht einmal in einer Verhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit aussagen, denn es könnte ja doch etwas nach außen dringen. Außerdem stünde sein Wort gegen Anwar R. »Ich habe diesen Mann nie selber zu Gesicht bekommen, warum sollte mir jemand glauben?«

 

Aktivisten gehen davon aus, dass tausende Folteropfer wie Jihad und Ahmad vermutlich nie den Rechtsweg gehen werden können – unter anderem aus Angst vor dem syrische Regime, das in ihren Augen alles daran setzt, um an der Macht zu bleiben. Allerdings besteht die Hoffnung, dass der nun angestoßene Gerichtsprozess tausende weitere Opfer dazu ermutigt, ihre Foltergeschichten zu teilen und Gerechtigkeit vor europäischen Gerichten einzufordern.

 

»Ich hatte noch nie solche Schmerzen gespürt«

 

Hassan Abu Ahmad*, ein weiterer Syrer, der im Al-Khatib-Gefängnis unter der Aufsicht von Anwar R. gefoltert wurde, floh nach seiner Haftentlassung nach Ägypten. Er erzählt, er sei im Juli 2011 vom Geheimdienst aufgegriffen worden und sei schon blutüberströmt gewesen, bevor er überhaupt den Befragungsraum betrat. »Sie haben jeden Zentimeter meines Körpers geschlagen«, so Hassan. Als er sich weigerte, die Namen anderer Demonstranten herauszurücken, wurden die elektrischen Kabel herausgeholt: »Ich hatte noch nie solche Schmerzen gespürt.«

 

Obwohl Hassan damals nicht wusste, dass die Folterkammern unter der Verantwortung von Anwar R. standen, da die Namen der Offiziere geheim gehalten wurden, würde er gerne als Zeuge aussagen, wenn er die Möglichkeit dazu bekommen sollte.

 

Steve Kostas, Anwalt bei der »Open Society Justice Initiative«, hat Akten zu dutzenden Beamte des syrischen Regimes zusammengetragen und sie den deutschen Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung gestellt. Er hofft, dass das Gerichtsverfahren zu internationaler Aufmerksamkeit für vergangene und fortwährende Grausamkeiten beitragen könnte, besonders die Notlage derjenigen, die immer noch in Gefängnissen der des syrischen Regimes festgehalten und gefoltert werden. »Wir müssen annehmen, dass immer noch mindestens 127.000 Menschen entweder tot oder immer noch in Haft sind«, schätzt Kostas.

 

Menschenrechtler hoffen nun, dass durch das Verfahren in Koblenz auch andere europäische Staaten dazu ermutigt werden, aktiv zu werden. »Der Prozess gegen Anwar R. sollte den Staatsanwaltschaften Sicherheit geben, dass sie unter dem Weltrechtsprinzip Anklagen wegen internationaler Verbrechen gegen hochrangige syrische Regimevertreter einbringen können.«

 

Das Weltrechtsprinzip erlaubt es, Verbrechen zu verfolgen, bei denen weder Täter noch Opfer Deutsche sind.

 

In der Bundesrepublik ist das Weltrechtsprinzip seit 2002 Teil des Völkerstrafgesetzbuches (VStGB). Es erlaubt Gerichten, Verbrechen zu untersuchen und zu verfolgen, die ausländische Staatsangehörige in anderen Ländern verübt haben. Auch dann, wenn weder Täter noch Opfer Deutsche sind.

 

Dennoch möchte die Bundesrepublik nicht den Weltpolizisten spielen. Die meisten Beobachter gehen davon aus, dass das Weltrechtsprinzip nur in solchen Fällen von Kriegsverbrechen, Völkermorden und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Anwendung kommt, in denen ein inländischer Bezug gegeben ist. Im vorliegenden Fall rechtfertigt etwa die große Anzahl syrischer Geflüchteter im Land das Eingreifen der deutschen Behörden.

 

Das »Europäische Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte (ECCHR)« unterstützt und berät 16 Folterüberlebende im Rahmen des Verfahrens – acht davon werden in dem Prozess als Nebenkläger auftreten.

 

Der Fall Anwar R. ist auch deshalb so kompliziert, weil der Angeklagte sich im September 2012 aus Syrien absetzte.

 

»Sobald eine Staatsanwaltschaft in einem solchen Fall ermittelt, können die Aussagen der Zeugen dazu führen, dass Details der erlittenen oder bezeugten Verbrechen bekannt werden«, hofft Wolfang Kaleck, Generalsekretär des ECCHR. Er geht davon aus, dass das Gerichtsverfahren ein Gesamtbild der Verbrechen der syrischen Regierung zeichnen. »So erhalten wir Einblicke in die Kommandostrukturen der Täter, die diese selbst identifiziert werden, sodass eine individuelle strafrechtliche Rechenschaft möglich wird.«

 

Der Fall Anwar R. ist nicht nur kompliziert, weil er gegen Vertreter eines ganzen Systems geführt wird, sondern auch deswegen, weil der Angeklagte sich im September 2012 absetzte und vom Regime lossagte. Rebellen schleusten ihn außer Landes, zunächst nach Jordanien. Später trat Anwar R. sogar als Repräsentant der Opposition bei den Friedensgesprächen in Genf auf. Er zog nach Deutschland – ein Neuanfang, aber seine Vergangenheit holte ihn ein.

 

Im Februar 2019 machten die bundesdeutschen Strafverfolgungsbehörden Anwar R. ausfindig und ließen ihn festnehmen. In den Reihen der syrischen Opposition herrscht keine Einigkeit darüber, wie nun der Prozess gegen Anwar R. zu bewerten sei. Einige Vertreter argumentieren, dass seine Bestrafung andere Täter davon abhalten würde, dem Regime ebenso den Rücken zu kehren. Die Anwälte, die das Beweismaterial für den Fall zusammengetragen haben, halten dagegen, dass seine Verbrechen nicht durch eine Änderung seiner politischen Überzeugung ungeschehen gemacht werden.

 

Dieses Gerichtsverfahren hat die Türen für Gerechtigkeit geöffnet, die für immer verschlossen schienen, nachdem Russland und China im Jahr 2014 Veto gegen die Überweisung des syrischen Konflikts an den Internationalen Strafgerichtshof einlegt hatten. »Wenn der Internationale Strafgerichtshof keine Option ist, eröffnet das Weltrechtsprinzip einen Weg zur Gerechtigkeit«, meint Kaleck.

 

Jihad hält das für seinen Fall aber für keine gute Option – seine Eltern leben immer noch in Syrien, wo das Regime weiterhin verhaften und foltern lässt. Baschar Al-Assad selbst wird solange nicht angerührt werden, wie er als Staatsoberhaupt juristische Immunität für sich beanspruchen kann. »Es hat keinen Sinn, als Zeuge auszusagen, denn die wirklichen Verbrecher können in Damaskus immer noch nach Belieben schalten und walten – vollkommen straffrei.«

*Namen auf Wunsch der Beteiligten verändert

Von: 
Anchal Vohra

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