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Libyens Pfadfinder-Bewegung

Gute Taten in schlechten Zeiten

Feature
Libyens Pfadfinder-Bewegung
Foto: Emad S. Fares

Die Pfadfinder sind eine der ältesten Organisationen der Zivilgesellschaft in Libyen. Gaddafi legte sich einst mit ihnen an. Ohne Erfolg. In Zeiten des Chaos und Bürgerkriegs sind viele Libyer auf ihre Hilfe angewiesen.

Kurz nach Mitternacht kommt eine Reihe von Autos vor der Schule im Bezirk Ben Ashour der libyschen Hauptstadt Tripolis an. Die Wagen sind beladen mit all den Vorräten, die die vom Roten Halbmond hier untergebrachten Familien benötigen. Sie sind vollgestopft mit Bettwäsche, Haushaltswaren und Nahrungsmitteln. Fast alles wurde von Privathaushalten und Firmen gespendet – die meisten Spender sind den Pfadfindern in Ben Ashour persönlich bekannt.

 

Vor der Schule empfangen die Pfadfinder die Lieferungen. Die jüngeren von ihnen sind um diese Uhrzeit schon im Bett, die Nachtschicht übernehmen die älteren Gruppenleiter.

 

Im April 2019 griff Feldmarschall Khalifa Haftar Tripoli an. Was zunächst als schneller und effektiver Militärschlag wahrgenommen wurde, hält in aller Gnadenlosigkeit an. Berichten zufolge wurden bislang Tausende Menschen getötet, Hunderttausende mussten ihre Häuser verlassen.

 

Libyens Pfadfinder-Bewegung
Foto: Emad S. Fares

 

Für die Wohlhabenderen in Tripolis kann das bedeuten, einen längeren Aufenthalt im Ausland einzulegen. Die meisten verschlägt es nach Tunesien, wo sie Bekannte oder Verwandte haben. Die ärmeren Einwohner, die in der Nähe der Front lebten, mussten hingegen von einem Moment auf den anderen in eine der als Flüchtlingsunterkünfte umgewidmeten Schulen der Hauptstadt umziehen.

 

Für die Familien, die von der Front in die relative Sicherheit in Ben Ashour kommen, kann dies eine verwirrende Erfahrung sein. »Sie wissen nicht, was sie erwartet, wie lange sie hier sein werden«, sagt Ahmed Ghedan, ein älterer Pfadfinder. »Da müssen wir sehr umsichtig sein. Wir tun unser Bestes, damit diese Familien sich hier zurechtfinden.«

 

Vor allem die Kinder seien meist ziemlich durch den Wind, sagt Ghedan, während er eine weitere Spende annimmt. »Auf sie müssen wir am meisten Acht geben. Wir bieten ihnen Aktivitäten an – Volleyball zum Beispiel. Das entlastet dann auch die Eltern.« Während die Pfadfinder, einige in Uniform, andere in Zivilkleidung, sich um die Kinder kümmern, können die Erwachsenen die Zeit nutzen, um sich in den Gängen und Klassenzimmern der Schule so etwas wie ein Zuhause einzurichten.

 

»Unser Prinzip ist es, jedem zu helfen«

 

Die Pfadfinder sind in Libyen eine Institution. Gegründet wurde die Bewegung 1954, inzwischen gehören ihr rund 18.000 junge Frauen und Männer an. Während der Monarchie, der Gaddafi-Diktatur und auch im postrevolutionären Chaos sind die Pfadfinder strikt apolitisch geblieben. Den Konflikten und Rivalitäten im Land zum Trotz haben sie einen Raum geschaffen, in dem junge Frauen und Männer zusammenkommen, um zu reden und die Grundlagen des Pfadfinderwesens zu erlernen.

 

»Im letzten Jahr haben wir ein Großlager in Benghazi organisiert«, sagt Amin Warfali, der sich seit Langem bei den Pfadfindern engagiert. »Hunderte junge Pfadfinder aus dem ganzen Land waren da, Jungen und Mädchen. Es war richtig gut, alle haben einfach zusammengearbeitet.«

 

Libyens Pfadfinder-Bewegung
Foto: Emad S. Fares

 

Seit Jahrzehnten sind die Pfadfinder im Land immer da gewesen, wenn Hilfe benötigt wurde. Ob beim verheerenden Erdbeben im Jahr 1963, durch das zwischen 290 und 375 Menschen ums Leben gekommen sind, während der Flut, die im Frühsommer 2019 die historische Altstadt von Ghat in Südlibyen überflutete, oder während der jüngsten Kämpfe um Tripolis.

 

Wohl nie waren die Pfadfinder so wichtig, wie während der Revolution 2011, als sie im ganzen Land im Einsatz waren: Einige hoben Gräber aus, andere beteiligten sich an Hilfslieferungen oder leisteten Erste Hilfe.

 

Libyens Pfadfinder-Bewegung
Foto: Emad S. Fares

 

»Unser Prinzip ist es, jedem zu helfen. Unabhängig davon, woher sie kommen oder wie die politische Lage ist«, sagt Warfali. »Deswegen wird unsere Hilfe auch angenommen. Jeder erkennt unsere Neutralität an.«

 

In seiner Jugend war Muammar Al-Gaddafi selbst Pfadfinder

 

In Zeiten des Drohnenkriegs mutet es schon etwas anachronistisch an, dass sich die Pfadfinder noch immer nach den Prinzipien richten, die Robert Baden-Powell 1908 in seinem »Pfadfinderbuch« niederschrieb. Für die Organisation war es nicht immer einfach, sich ihre Unabhängigkeit zu erhalten, aber sie überstand auch Gaddafis Versuch, alle unabhängigen Institutionen gleichzuschalten. Möglicherweise half es, dass Gaddafi in seiner Jugend selbst Mitglied war – bei den Pfadfindern im Sabha, im Südwesten des Landes.

 

Aber das habe den Revolutionsführer nicht davon abgehalten, sich gegen die Pfadfinder zu wenden, berichtet Ali El Goula bei einem Treffen in Tunis. El Goula stammt aus Tripolis – er vertritt die libyschen Pfadfinder in internationalen Angelegenheiten. 1984 wollte Gaddafi die Freiheiten der Pfadfinder beschränken und gründete schließlich eine eigene, rivalisierende Organisation. »Aber das kam bei den Libyern nicht an. Fast niemand ging dorthin, auch wenn die neue Organisation alles versuchte, um Leute anzuwerben. Sogar mit viel Geld. Die Pfadfinder waren dagegen auch ohne groé Geldströme immer aktiv. Danach hat Gaddafi sich nie mehr mit uns angelegt.«

 

Libyens Pfadfinder-Bewegung
Foto: Emad S. Fares

 

El Goula kommt ins Schwärmen, wenn er darüber berichtet, wie Pfadfinder Menschen zusammenbringen, wie sie die Selbstständigkeit der Kinder und Jugendlichen fördern, ihr Gemeinschaftsgefühl im Zeltlager. »In den Lagern bringen wir ihnen die Pfadfindertechniken bei, aber auch ein Verantwortungsgefühl und den Sinn dafür, sich für ihre Gemeinschaft, ihr Land einzusetzen.«

 

Besonders außergewöhnlich findet El Goula es übrigens nicht, was die Pfadfinder in Libyen leisten, sagt er. Pfadfinder auf der ganzen Welt würden sich genau so verhalten – das mache doch die Idee der Bewegung aus. Dazu gehöre auch, jungen Leuten das Vertrauen auszusprechen, selbst wenn im Land die Bomben fallen.

Von: 
Simon Speakman Cordall

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