Zwei Stunden Zeit hatte die tunesische Unternehmerin Amel Karboul für die Entscheidung, als Ministerin der Regierung beizutreten. Ihrem Land wünscht sie auch heute mehr Macher in der Politik.
zenith: Wann haben Sie in den Jahren 2010 und 2011 das erste Mal gedacht, dass in Tunesien etwas Großes passiert, dass wirklich Veränderung bevorsteht?
Amel Karboul: Ziemlich früh, ich weiß gar nicht warum. Der 17. Dezember 2010, als Muhammad Bouazizi sich selbst verbrannte, war ein seltsamer Tag. Ich sollte eigentlich von Deutschland aus nach Südafrika fliegen, aber wegen eines Schneesturms verpasste ich den Flieger. Als ich sah, was in den Sozialen Medien geteilt wurde, hatte ich sehr schnell das Gefühl, dass hier etwas Großes geschieht.
Hatten Sie erwartet, dass Präsident Ben Ali gestürzt werden könnte?
Zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Klarer wurde es mir, als in Sfax im Januar Polizisten auf Demonstranten schossen und die Menschen einfach weitermarschierten. Da habe ich mir gedacht, Wow, wenn man die Angst vor dem Tod verliert, dann ist man unbesiegbar. Als Ben Ali das Land verließ, haben viele Tunesier das auch als eine Art Verrat an Tunesien empfunden. Sie hatten Angst vor einem Vakuum. Anfangs hatten wir eher gehofft, dass er Verständnis für die Proteste zeigen und größere Reformen anstoßen würde oder zurücktritt und den Weg für eine Übergangsregierung freimacht. Aber einfach so abzuhauen, das war schon ziemlich feige. Doch natürlich war das auch ein tolles Gefühl, und zwar überall im Land. Und es hat positiv überrascht, wie gut alle Institutionen auch weiter funktionierten. Selbst die Wasser- und Stromversorgung.
Hatten Sie keine Angst, das Land würde im Chaos versinken? Das war ja immer Ben Alis Argument gegenüber westlichen Regierungen: Nur ich kann für Sicherheit sorgen.
Es gab schon Momente der Angst, Dörfer und Nachbarschaften verbarrikadierten sich. Aber die Angst war möglicherweise größer als die tatsächliche Gefahr. Wir erlebten eine unglaubliche Solidarisierung – viele kamen zusammen und lernten zum ersten Mal ihre Nachbarn wirklich kennen – ein bisschen wie zurzeit in England während der Covid-Pandemie, wenn donnerstags immer alle für die Krankenpflegerinnen und Ärzte klatschen.
»Zum ersten Mal in der arabischen Welt hat eine frei gewählte Regierung die Macht friedlich übernommen«
Aber dann kamen doch auch immer wieder Momente, in denen nicht ganz klar war, wie es mit dem Land weitergeht, etwa nach der Ermordung des linken Oppositionspolitikers Chokri Belaid im Februar 2013 ...
Ja, aber ich denke, da hat man sehr schnell gesehen, wie ungewöhnlich das für viele Tunesier war. Tunesien ist anders als manch anderes arabische Land, in denen politische Morde weit häufiger vorkommen. Vor allem die Frauen haben sich erhoben, um zu zeigen, dass sie nicht in eine andere Art von Gesellschaft rutschen wollten. 2011, nach der anfänglichen Euphorie, war die Enttäuschung bei vielen groß, dass die Islamisten von Ennahda die Wahl zur verfassunggebenden Versammlung gewannen, aber die Zivilgesellschaft hat immer für ausreichend demokratische Kontrolle gesorgt.
Wie kam es eigentlich, dass Sie in die Politik gegangen sind?
Ich wurde gefragt und ich habe »Ja« gesagt. Lustigerweise war ich zu dem Zeitpunkt gerade wieder in Südafrika. Nach dem turbulenten Sommer 2013 – in Ägypten waren die Islamisten gestürzt worden und auf den Sit-ins auf dem Bardo-Platz in Tunis wurde der Rücktritt der Regierung gefordert – hatte die Ennahda Angst, dass ihr Ähnliches passieren könnte. Im Winter wurde dann Mehdi Jomaa beauftragt, eine Technokraten-Regierung anzuführen. Erst fragte mich einer seiner Berater, ob ich bereit wäre, das Umwelt- oder das Tourismusministerium zu übernehmen. Beim Tourismus war meine Hoffnung, in kurzer Zeit mehr verändern zu können – wir wussten ja nicht, wie lange wir im Amt bleiben würden. Dann hörte ich eine Weile nichts, bis mich Mehdi Jomaa höchstpersönlich anrief und fragte, ob ich dabei sein möchte, die erste Demokratie der arabischen Welt aufzubauen. Er gab mir zwei Stunden für die Entscheidung.
Wie groß war Ihre Hoffnung, wirklich schnell und viel ändern zu können?
Die Stimmung in der Regierung war sehr positiv, wir waren ein geschlossenes Team. Unsere Hausaufgabe war klar: die Übergangsphase zu Ende zu bringen und freie Wahlen zu ermöglichen. Gleichzeitig sollten und wollten wir Reformen starten, und ich denke, dass wir das geleistet haben. Der Übergang von unserer zur nächsten Regierung war ein berührender Moment – zum ersten Mal in der arabischen Welt hat eine frei gewählte Regierung die Macht friedlich übernommen. Viele hatten gegen uns gewettet, aber wir haben es geschafft: Die Wahlen waren transparent und demokratisch.
Im Ausland wird Tunesien als Musterbeispiel dafür gesehen, parteipolitisch organisierte Islamisten in den politischen Prozess einzubeziehen und damit auch einzuhegen. Liegt das an der Ennahda oder an der Reife der tunesischen Gesellschaft?
Ich denke, das liegt daran, dass die Tunesier bei allen politischen Differenzen ein sehr klares Bild von der Gesellschaft haben, in der sie leben wollen. 2011 hatten sogar noch Uni-Professoren für die Ennahda gestimmt – mit dem Argument, dass sie unter Ben Ali und Bourguiba unterdrückt wurden, und dass die Islamisten gut organisiert seien. Inzwischen ist Ennahda geschwächt – Umfragen sehen sie bei etwa 22 Prozent. Sie hatte ja auch die Chance, zu regieren, und die Tunesier haben gemerkt, dass sie auch nicht besser regiert als andere. Stattdessen hat sie dazu beigetragen, dass die Korruption anstieg, während sich die Lage der Tunesier kaum verbesserte.
»Als Ministerin habe ich gemerkt, dass die Tunesier viel Wert auf Konsens legen und Konfrontationen lieber aus dem Weg gehen«
Besteht in Tunesien vielleicht, ähnlich wie in Deutschland, ein großer Wunsch nach Konsens, anders als etwa in Großbritannien oder den USA, wo Politik viel stärker polarisiert?
Als Ministerin habe ich gemerkt, dass die Tunesier viel Wert auf Konsens legen und Konfrontationen lieber aus dem Weg gehen. Ich war eine der wenigen, die mal auf den Tisch gehauen haben. Ich erinnere mich daran, dass es in meinem Team große Aufregung gab, als die Reisebüros streikten. Da dachte ich mir: Die können meinetwegen sechs Monate streiken, das ist ihr demokratisches Recht, aber ich lasse mich davon nicht unter Druck setzen. Natürlich bleibe ich im Gespräch mit ihnen, aber ich habe meinen Posten, um eine Strategie durchzusetzen. Vielleicht bin ich da doch angelsächsisch in meiner Haltung und finde es sinnvoll, offen mit Konfikten umzugehen, und dass es nicht immer Konsens braucht.
Sie waren nur ein gutes Jahr im Amt: Bei welchen Projekten sind Sie traurig, dass Sie sie nicht zu Ende gebracht haben?
Da gibt es viele. Schon als ich das Amt antrat, wurde mir oft gesagt: Warum fängst du denn mit dieser großen Reformstrategie an? Die braucht bestimmt zehn Jahre, aber du bist vielleicht nur anderthalb Jahre im Amt.
Was haben Sie den Skeptikern entgegnet?
Wenn ich jetzt anfange, dann sind danach nur noch neun Jahre übrig. Alle Minister, die vor mir im Amt waren, sagten mir, dass sie es bereut haben, die großen Reformen nicht angestoßen zu haben. Ich glaube an den Staat, an die Institutionen und habe mir gesagt, ich fange einfach an. Es freut mich, wenn ich jetzt lese, dass bestimmte Reformen aus meiner Amtszeit noch umgesetzt werden.
Hätten Sie damals gerne weitergemacht?
Aus persönlicher Sicht nicht. Für mich, meine Kinder, meine Familie war es schon ein großes Opfer. In letzter Zeit bin ich mehrfach gefragt worden, ob ich bei den nächsten Wahlen kandidieren möchte. Im Moment will ich mich aber auf die Arbeit an der internationalen Bildungsinitiative konzentrieren, der ich vorstehe. Und ich möchte für meine Kinder da sein, bis sie aus dem Haus sind. Aber in sieben Jahren werde ich auch noch jung genug sein, um Politik zu machen – wenn ich das dann will.
»In Tunesien mangelt es häufig am Reform-Management«
Kurz nach Ihrer Amtszeit folgten die Anschläge auf das Bardo-Museum und das Hotel in Port el-Kantaoui bei Sousse. Wie sehr leidet der tunesische Tourismus noch immer an den Folgen der Anschläge von 2015, bei denen Dutzende Menschen, darunter auch Urlauber, ums Leben kamen?
Es ist traurig, das zu sagen, aber ich glaube, dass sich die Menschen weltweit an Terroranschläge gewöhnt haben. Der Tourismus hat sich in den letzten Jahren recht schnell erholt, 2019 war für Tunesien ein ziemlich gutes Jahr. Nun müssen wir uns mit den Folgen der Covid-19-Pandemie auseinandersetzen, aber natürlich müssen wir auch schauen, was in Libyen geschieht, insbesondere seit der Intervention der Türkei. Die Frage ist, wie wir es schaffen, Sicherheit zu gewährleisten, wenn in der Nachbarschaft Kriege geführt werden.
Sind Sie grundsätzlich hoffnungsvoll, dass sich Tunesien von Entwicklungen in Libyen oder auch Ägypten abgrenzen kann?
Das ist die Frage, ob man auf das halbvolle oder das halbleere Glas schaut. Menschen sind politikmüde, die Populisten sind im Aufschwung, die Wirtschaft verändert sich, und Technologiefirmen schaffen nicht so viele Jobs wie früher die Industrie. Von diesen globalen Trends kann sich auch Tunesien nicht lösen. Dennoch überwiegt das Vertrauen in den demokratischen Prozess, und das bedeutet schon sehr viel. Die vielen Regierungswechsel hatten allerdings zur Folge, dass wirtschaftliche und soziale Reformen stecken geblieben sind.
Wo sehen Sie da die größten Baustellen?
Auf jeden Fall beim Thema Jobs. Auch der Braindrain bleibt ein Problem. Gerade im IT-Bereich zieht es junge Menschen mit guter Ausbildung unverändert ins Ausland, meist nach Frankreich. Zudem sind die Kosten des täglichen Lebens gestiegen.
Können Reformen dennoch etwas bewirken?
Es geht nicht nur um die Inhalte der Reformen, sondern auch um deren Umsetzung. In Tunesien mangelt es häufig am Reform-Management – die geplanten Schritte tatsächlich bis zum Ende durchzuziehen. Dafür braucht es vermutlich noch mehr Stabilität. Und viele Politiker gelangen nicht mit Erfahrung in der Umsetzung ins Amt, sondern eher mit einem politischen Hintergrund, in dem Ideen entstehen und diskutiert werden. Da müssen wir in Tunesien besser werden.
Amel Karboul, 47, arbeitete für mehrere globale Konzerne und gründete ihr eigenes Beratungsunternehmen, bevor sie 2014 zur Tourismusministerin in der Übergangsregierung von Mehdi Jomaa wurde. Zurzeit ist sie Vorstandsvorsitzende der Bildungsinitiative »Education Outcomes Fund«. Karboul lebt in London.