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Anti-LGBTQ-Gewalt in Tschetschenien

Diesen Mann darf es nicht geben

Feature
Zwei Überlebende der Anti-LGBT-Gewalt haben es geschafft. Sie sitzen im Flieger in eine neue Heimat
Zwei Überlebende der Anti-LGBT-Gewalt haben es geschafft. Sie sitzen im Flieger in eine neue Heimat. Eigentlich sehen sie anders aus. Dank künstlicher Intelligenz bleiben ihre wahren Identitäten erst einmal verborgen. David France, Public Square Films, Claudia Tomassini

Verhaftungen und Folter von Homosexuellen im russischen Nordkaukasus erschütterten 2017 die Öffentlichkeit. Eine neue Dokumentation folgt LGBT-Aktivisten hautnah bei abenteuerlichen Rettungsaktionen. Auf der Berlinale gewann sie den Publikumspreis.

Eigentlich wollte der Oscar-nominierte New Yorker Filmmacher David France nur ein Wochenende lang in Moskau recherchieren. Eingereist mit einem Touristenvisum, wenig Hintergrundwissen und kaum Gepäck blieb er am Ende über einen Monat. Viele weitere Trips folgten. Angefixt von einem Artikel im Magazin The New Yorker über die Arbeit des russischen LGBT-Network, das verfolgten Schwulen und Lesben aus Tschetschenien bei der Flucht und Visabeschaffung in den Westen hilft, begleitete er die Aktivistinnen und Aktivisten; und fing Momente von unglaublicher Intimität ein.

 

Die entstandene Dokumentation »Welcome to Chechnya« feierte vergangene Woche auf der Berlinale ihre Europapremiere und gewann direkt den Teddy-Award als bester queerer Film sowie den Panorama-Publikumspreis. Zuvor lief der Film nur beim diesjährigen Sundance Festival, bevor er ab Sommer 2020 regulär beim US-Kabelanbieter HBO anlaufen soll.

 

Seit 2016 verhafteten die Behörden in der russischen Teilrepublik Tschetschenien in Folge einer Drogenrazzia hunderte Schwulen und Lesben. Die meisten Opfer wurden brutal gefoltert, einige starben. Das Schicksal unzähliger Opfer ist bis heute ungeklärt. Unter ihnen war damals wohl auch der bekannte Sänger Zelimkhan Bakaev. Bis heute gilt er als verschollen. »Meine Motivation war es, diese Geschichten wieder in die Öffentlichkeit zu rücken«, sagt David France im Gespräch, das zenith im Rahmen der Berlinale mit dem Filmemacher führte.

 

Die besondere Situation und der emotionale Ausnahmezustand ließ France Bilder von intensivster Intimität einfangen.

 

Mit Hilfe von Masha Gessen, die für The New Yorker schreibt, und dem Dokumentarfilmer Askold Kurov gewann France das Vertrauen von dutzenden Überlebenden, die es mit Hilfe der LGBT-Aktivisten um die umtriebige Olga Baranova geschafft hatten, in Safe Houses rund um Moskau zu fliehen und dort auf ihre Visa ins Ausland zu warten. Teils monatelang. Oft schwer traumatisiert. 

 

Der Filmemacher verbrachte mehrere Wochen mit den Geflüchteten und Aktivisten in diesen Safe Houses. Die besondere Situation und der emotionale Ausnahmezustand ließ France Bilder von intensivster Intimität einfangen. Auch als einer der Geflüchteten nach einem Selbstmordversuch leblos gefunden wird, ist France dabei. Ein Notarzt darf nicht gerufen werden, zu groß ist das Risiko, das Safe House auffliegen zu lassen und damit die gesamte Operation in Gefahr zu bringen. Die »Kadyrowzy«, die Schergen des tschetschenischen Autokraten Ramzan Kadyrow, lauern überall. War die Versuchung, die Grenze zwischen Beobachtung und Eingreifen zu überschreiten, da nicht groß? France wägt seine Antwort ab, verneint. Doch der Dokumentarfilm ist natürlich nicht neutral.

 

Bei einer besonders risikoreichen Fluchtaktion einer jungen Tschetschenin mit dem Aliasnamen »Anja« war France auf Wunsch der Aktivisten dabei. Für lesbische Frauen ist die Situation besonders heikel. Zwar werden sie seltener verhaftet, aber anders als für Männer ist es für Frauen in den engen tschetschenischen Familienstrukturen von vorneherein ungleich schwieriger, für längere Zeit unbeaufsichtigt zu bleiben. Ihnen drohen im Falle des Outing Zwangsverheiratung oder gar der Tod. Fliehen sie mit Hilfe der Moskauer Aktivisten, erheben die Familien oft den Vorwurf, dass die Frauen gekidnappt worden seien. Kameraaufnahmen können die Aktivisten vor Strafverfolgung schützen, weil sie offenlegen, dass die Frauen aus eigenem Antrieb das Land verlassen wollen.

 

Doch ein Amerikaner in Tschetschenien erweckt Misstrauen. Zusammen mit Baranova überlegt sich der Dokumentarfilmer eine Legende. Da zeitgleich die Fußballweltmeisterschaft 2018 stattfindet und die ägyptische Nationalmannschaft um Mo Salah, den Starspieler des FC Liverpool, in der Hauptstadt Grosny Quartier bezogen hat, mimt France den amerikanischen Fußballfan, lernt die Namen der Spieler auswendig. Dennoch wird er kurzzeitig von der Polizei festgesetzt. Doch »Anjas« Flucht aus Tschetschenien gelingt. 

 

Die Episode zeigt, wie mühsam und riskant die Arbeit der Aktivisten ist. Auch, weil die bürokratischen Mühlen westlicher Partnerstaaten quälend langsam mahlen können. Vor allem wenn man in Isolation in einem Safe House ausharren muss. Monatelang wartet »Anja« auf ihr Visum. Als es nach sechs Monaten endlich kommt, ist »Anja«, nach einer Intrige ihrer Familie, bereits nach Tschetschenien zurückgekehrt. Und die Familie schwört den Aktivisten Rache. »Anjas« Vater verfügt über gute Kontakte zu den tschetschenischen Sicherheitsbehörden. Am Ende muss Olga Baranova aufgrund der Geschichte selbst aus Russland fliehen. Bis heute lebt sie im Exil.

 

Gesichtsveränderte künstliche Intelligenz, oder sogenannte Deep Fakes, funktionieren eigentlich nur bei ruhigem Bild.

 

Die Sicherheit seiner Protagonisten war France in diesem Kontext besonders wichtig. Monatelang grübelte sein Team in New York über eine Möglichkeit, die Geschichten der tschetschenischen Protagonisten zu erzählen und gleichzeitig ihre Anonymität zu wahren. Doch die Überlebenden nur mit dem Rücken zur Wand zur zeigen oder ihre Stimmen grotesk zu verzerren, hätte nach Knast und Folter eine zweite Form Entmenschlichung der Opfer bedeuten können.

 
Das Problem: Weite Teile der Doku wurden aus Sicherheitsgründen nur mit dem Handy oder per GoPro aufgenommen, die Bilder sind oft verwackelt. »Gesichtsveränderte künstliche Intelligenz, oder sogenannte Deep Fakes, funktionieren eigentlich nur bei ruhigem Bild und wenn man direkt in die Kamera guckt«, erzählt France. »Aber bei uns wackelt die Kamera hin und her und unsere Protagonisten rennen um ihr Leben. Es war nach technischem Stand eigentlich unmöglich.« Am Ende fand sich doch eine Lösung, die entfernt dem beliebten Faceswap-Tool von Apps wie Snapchat ähnelt. Für die 22 Protagonisten, die anonym bleiben wollten, fanden sich jeweils Gegenüber, meist aus der New Yorker LGBT-Szene, die ihr Gesicht für den Film »ausliehen«. Das klappt fantastisch gut und könnte Schule machen.

 

Die heutigen Gewaltorgien fragiler tschetschenischer Hypermaskulinität sind nicht ohne die voranstehenden Zivilisationsbrüche zu verstehen. 

 

Doch so eindrucksvoll die technische Umsetzung und die Nähe ist, die France seinem Protagonisten abringt, zeigt der Film an anderer Stelle Schwächen. Die Darstellung Tschetscheniens bleibt arg oberflächig und klischeebeladen. Die nordkaukasische Teilrepublik erscheint als sprichwörtliche Hölle auf Erden, als Trump՚sches shithole country. Und so sehr das aus dem Erfahrungshorizont der queeren Protagonisten und Protagonistinnen heraus verständlich erscheint, eine nötige Kontextualisierung findet kaum statt.

 
Dabei sind die heutigen Gewaltorgien fragiler tschetschenischer Hypermaskulinität nicht ohne die voranstehenden Zivilisationsbrüche von Krieg und Deportationen, sowie mehrere Generationen anhaltende Familientraumata zu verstehen. Er habe lange mit sich gerungen, sagt France dazu im Interview. »Am Ende bin ich zu dem Schluss gekommen: Die Geschichte, die ich erzähle, die braucht diesen Hintergrund nicht.« Ein Eingehen auf den geschichtlichen Hintergrund sei erst dann zwingend, wenn man die Geflüchteten bei ihrem Eingewöhnungsprozess in der neuen Heimat begleite. Dann, wenn alte Traumata langsam wiederaufbrächen. »Aber ich mache ja in diesem Film an der Grenze halt, fokussiere mich nur auf die Flucht«, so France.

 
Dem Ziel des Films, Aufmerksamkeit auf die Situation queerer Menschen in Tschetschenien zu lenken, wäre zu viel Differenzierung möglicherweise gar abträglich gewesen. Bisher haben die Vereinigten Staaten noch keinem einzigen Tschetschenen, der mit Hilfe des LGBT-Netzwerken geflohen ist, ein Visum ausgestellt. Nachbar Kanada nahm dagegen den größten Anteil der über 150 Geflüchteten auf. Die Rolle, die die USA in der globalen Erzählung der Migration spielen, sie hat sich unter Präsident Trump verschoben.

 

Auch bei Dokumentarfilmveteran France hat die Recherche für den Film unterdessen seelischen Tribut gezollt. Am liebsten wolle er in Zukunft nur noch Komödien drehen. Nichts mehr, wo Menschen sterben. Man kann nur hoffen, dass er das nicht ernst meint.

Von: 
Leo Wigger
Fotografien von: 
@David France

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