Der dystopische Anime-Thriller »Alephia 2053« entwirft ein Bild der Zukunft in einem fiktiven arabischen Staat. Die libanesischen Produzenten treffen mit Thema und Genre einen Nerv.
Verzweifelt rennt Mayyar Ali durch die vollen Straßen. Zwei wütende Männer folgen ihm. Ebenso Überwachungskameras, Drohnen und mittlerweile der gesamte Geheimdienst. Alarmsirenen dröhnen. Mayyars Plan, eine Avocado-Pflanze aus dem streng überwachten Zentrum für Lebensmittelrationierung zu schmuggeln, ist aufgeflogen. Die beiden Männer kommen immer näher, fast haben sie ihn eingeholt. Doch auf einmal halten alle Menschen inne. Das alltägliche Leben kommt zum Stehen. Stille.
Es ist Punkt 9 Uhr und damit Zeit, die Nationalhymne Alephias anzustimmen. Auch Mayyars Verfolger können sich dieser Bürgerpflicht nicht entziehen und so nutzt der 18-Jährige den Moment, um sich ein geeignetes Versteck zu suchen. Doch den Augen des absolutistischen Herrschers Aleph II. entgeht nichts: In dem Moment, als sich die Menschen vor seiner riesigen Statue versammeln, scannen die in ihr installierten Kameras jedes Detail des neuen Staatsfeindes. Mayyar sieht nur noch eine Chance: Zusammen mit seiner Freundin Layla muss er Alephia verlassen – eine Entscheidung mit weitreichenden Konsequenzen.
Produzent Rabi' Sweidan hat zusammen mit Regisseur Jorj Abou Mhaya, den beiden Ko-Produzenten Marwan Harb und Jules Kassas und der Produktionsfirma »Spring Entertainment« den ersten libanesischen Anime produziert. Der aufwendig animierte Film spielt im Jahre 2053. Aleph II. herrscht diktatorisch über das fiktive arabische Land Alephia. Kameras, Drohnen, Agenten und finster dreinschauende Soldaten sorgen dafür, dass niemand die Macht des autoritären Überwachungsstaats in Frage stellt.
Im Stile eines klassischen Agentenfilms versucht eine Gruppe subversiver Regimegegner, die Gewaltherrschaft ein für alle Mal zu beenden und infiltriert Teile der Machtzentrale. Majd Darwish kommt dabei eine wichtige Rolle zu: Der angesehene Mitarbeiter des inländischen Sicherheitsdienstes durchlebt eine komplexe Charakterentwicklung – vom patriotischen Staatsdiener zum empathischen Freiheitskämpfer. Die sich später offenbarende Liebesbeziehung zwischen ihm und Soumaya Hashem, der Tochter von Fares Hashem, dem zweitwichtigsten Mann im Staat, gibt der authentischen Darstellung beider Figuren die nötige Tiefe.
Ohne zu viel vorwegzunehmen: Die 60-minütige Geschichte gewinnt zunehmend an Spannung, ist von dramatischer Musik, actionreichen Szenen, beeindruckenden Animationen und tragischen Heldinnen und Helden geprägt.
Rabi' Sweidan wuchs in den 70ern und 80ern auf. Seine Heimat Libanon befand sich in einem Bürgerkrieg, der 15 Jahre andauern und etwa 90.000 Todesopfer fordern sollte. Der Regisseur und Produzent beschreibt seine Kindheit als eine traumatische Zeit, in der er sich ohnmächtig fühlte und keine Stimme besaß – sein erster Kontakt mit einer dystopischen Welt.
Schon früh verschlang Sweidan die Comics des britischen Autors Alan Moore, dem Schöpfer der »Watchmen«-Comics. Sie inspirierten ihn dazu, in fiktive Welten einzutauchen und einen ganzen Kosmos aus revolutionärer Fantasie und kreativer Illusionskraft zu erträumen. Vor allem aber gaben sie ihm etwas, was vielen Libanesinnen und Libanesen immer verwehrt geblieben war: die Vision einer Zukunft.
»Eine Gegenwart, die sich ständig wiederholt. Das ist die wahre Dystopie«
Der US-amerikanische Science-Fiction-Autor William Gibson prägte einmal die Aussage, die Zukunft sei schon da, nur nicht gleich verteilt. Insbesondere die Zedernrepublik scheint darunter zu leiden, findet der Filmemacher. »Wir haben keine Zukunft«, beklagt Sweidan im Gespräch mit zenith. »Stattdessen erleben wir eine Gegenwart, die sich ständig wiederholt. Das ist die wahre Dystopie.« Die Menschen im Nahen Osten, aber auch darüber hinaus, hätten ein großes Problem, das wie eine Droge wirke: Nostalgie. »Immer wieder blicken wir durch eine rosarote Brille zurück und geben uns diesem angenehm nostalgischen Gefühl hin. Doch die Gefahr ist groß, sich darin selbst zu verlieren und die Vergangenheit zu verklären.«
Sweidan war es wichtig, für seinen Film das Potential vor Ort auszuschöpfen: Allzu häufig würden vielversprechende Filmemacherinnen und Filmemacher ins Ausland gehen, weil das eigene Land keine künstlerische Perspektive biete. Er hofft, durch diesen Film einen Wandel angestoßen zu haben, mit dem sich Libanesinnen und Libanesen identifizieren können: »Wir wollten Charaktere erschaffen, die uns ähneln, die sich verhalten wie wir. Sie sollten so aussehen, als könnten sie unsere Nachbarn sein.« Diese Idee haben Sweidan und das Team nun erstmalig in Form eines libanesischen Anime umgesetzt.
Auffallend sind die zahlreichen Parallelen zwischen der futuristischen Welt und den realen Ereignissen des Arabischen Frühlings, der etwa zehn Jahre vor Filmbeginn losbrach: Wie schon 2011, während der tunesischen und ägyptischen Revolution, skandieren die Protestierenden in »Alephia 2053« den Sicherheitskräften den Slogan »Aš-šaʿb yurīd isqāṭ an-niẓām – Das Volk will den Sturz des Regimes« entgegen. »Man kann weder über die Gegenwart noch über die Zukunft der arabischen Welt reden, ohne die Protestbewegungen zu erwähnen, die vor zehn Jahren starteten«, findet Sweidan.
Parallelen zur derzeit angespannten Situation im Libanon sieht Sweidan hingegen nicht. Die Filmproduktion habe bereits 2017 und damit zwei Jahre vor den großen Demonstrationen begonnen, die seit 2019 einen enormen Druck auf die politische Landschaft Libanons ausüben.
Schon früh deutet sich dieser Verlauf an: »Hast du vergessen, dass Revolutionen mit einem Slogan beginnen?« Ein wütender Vorwurf, den Aleph II. seiner rechten Hand Fares Hashem macht, als dieser die subversive Wirkung eines politischen Graffitos herunterspielt. Generell spielt die Zerstörung politisch aufgeladener Symbole eine wichtige Rolle im Film. In einer anderen Szene lassen sich eindeutige Anspielungen auf den Sturz von Saddam Husseins Statue durch die US-Amerikaner bei der Eroberung Bagdads 2003 erkennen.
Die universelle Botschaft, in die Zukunft zu schauen
Darüber hinaus betont Sweidan, dass die Filmhandlung keineswegs rein fiktiv sei. In manchen Teilen der Welt sei die gezeigte Dystopie schon längst Realität. Sweidan sieht »Alephia 2053« als »ein Spiegelbild unserer größten Ängste«. Ihm gehe es um die universelle Botschaft, den Mut aufzubringen, in die Zukunft zu schauen. Durch die Untertitel in mehreren Fremdsprachen beschränkt sich Sweidans Appell nicht nur auf die arabische Welt, sondern richtet sich an ein globales Publikum.
In die Zukunft schauen, findet Sweidan, »gibt uns die Möglichkeit, zu träumen, darüber nachzudenken, was alles sein könnte.« Antworten auf die Herausforderungen der Zukunft könne und wolle er aber nicht geben. »Ich habe keine Kristallkugel. Wenn ich jetzt schon eine Antwort auf alle Fragen an die Zukunft hätte, könnten wir uns dieses Gespräch sparen. Auch der Film und vieles andere im Leben wäre dann überflüssig.« Ein bisschen konkreter wird er dann aber doch: »Ich hoffe einfach, die Zukunft wird nicht schlimmer als die Gegenwart.«
Und warum entschieden sich Libanesen dazu, einen aus Japan stammenden Zeichentrickstil zu verwenden, um eine arabischsprachige, dystopische Welt zu entwerfen? Filme, die die Zukunft behandelten, seinen oft animiert, erklärt Sweidan. Insbesondere der japanische Anime spiele hierbei eine wichtige Rolle. Die international bekanntesten Vertreter dieses Genres sind wohl die Filme »Akira« (1988) und »Ghost in the Shell« (1995). »Die Form folgt der Funktion. Diesen Designleitsatz hat das Team perfekt umgesetzt«, führt der Filmemacher aus. »Es war also aus technischer, aber auch finanzieller Sicht sinnvoll, einen Anime-Film zu produzieren – neben unserer persönlichen Begeisterung für dieses Genre.«
Die Resonanz spricht für das erfolgreiche Filmkonzept: Sweidan habe positives Feedback aus vielen Ländern des Nahen Ostens erhalten. »Mir haben Menschen aus dem Irak, aus Libyen, Algerien, Syrien, aber auch aus Brasilien und vielen anderen Teilen der Welt geschrieben.« »Alephia 2053« ist auch über die eigens eingerichtete Webseite www.alephia.xyz abrufbar. Dort lassen sich auch ein Stammbaum der Aleph-Dynastie inklusive Länder-Steckbrief und eine umfangreiche Datenbank an fiktiven Hintergrundinformationen zu den verschiedenen Charakteren finden. Die Seite bietet sogar Einblicke in die Folterzellen und Fotomaterial aus dem Propagandaunterricht an den Schulen.
Der Film scheint zu Ende. Abspann. Es folgt eine allerletzte, mit melancholischer Musik unterlegte Sequenz: Die Zuschauerinnen und Zuschauer erblicken für wenige Augenblicke ein noch weiter in der Zukunft liegendes Alephia. Was hat es mit dieser Szene auf sich? Sweidan unterbricht freundlich: »Wenn dich das Ende des Films nachdenklich gemacht hat, bin ich schon zufrieden.«