Die erneute Nutzung des weltbekannten Sakralbaus als Moschee sorgt Erdoğans Kritiker. Für einige ist der Vorgang gar der erste Schritt auf dem Weg zum Kalifat. Unser Autor kann der Umwidmung aber zumindest in einer Hinsicht etwas abgewinnen.
Es war nicht die Frage ob, sondern wann es geschähe: Seit dem Dritten des Wallfahrtsmonats Ḏū l-Ḣiǧǧah 1441 – also dem 24. Juli 2020 – ist die Hagia Sophia im türkischen Istanbul wieder offiziell eine Moschee. »Mehmed der Eroberer hat [...] sie den Gläubigen bis zum Jüngsten Tag anvertraut«, so Ali Erbaş, Direktor für Religiöse Angelegenheiten (Diyanet İşleri) in seiner Predigt. Islam bedeute: »Frieden, Errettung, Heil« – eine Garantie, welcher der Säbel in seiner Hand eine gewisse Zweideutigkeit verleiht.
Wer ist das Vorbild von Erbaş? Etwa Cüneyt Arkın, der in den Yeşil-Çam-Filmen der 1970er Jahre mit so manchen Byzantinern fertig wird? Ausgeklammert bleibt die Fahnenflucht des letzten Sultans Vahideddin, der die Überreste seines Reiches 1922 auf einem englischen Schlachtschiff verließ. Dann kommt die Abrechnung mit Atatürk: »Wer die Bedingungen der Weihe zerschlägt, wird verflucht!« – und die Stiftung für Atatürkisches Gedankengut (ADD) hat prompt Klage eingereicht.
Am Freitag kniet Präsident Recep Tayyip Erdoğan ganz vorne, wie alle Besucher auf dem Boden und Corona-bedingt maskiert. Der Triumph dieser Inszenierung wird ihn noch lange stützen. Die Einwände aus dem Ausland – insbesondere Athen und Moskau, bis hin zu oppositionellen türkischen Stimmen – sind bekannt. CHP-Führer Kemal Kılıçdaroğlu und Istanbuls Bürgermeister Ekrem İmamoğlu haben die Einladung abgelehnt.
Die Historikerin Çiğdem Kafescioğlu erinnert in einem Gespräch im 1+1-Forum daran, dass die Hagia Sophia schon im 19. Jahrhundert, lange vor 1934 mehr und mehr als Museum aufgefasst wurde. Von jener »Sehnsucht des Volkes«, auf die sich Ali Erbaş beruft, sei damals keine Rede gewesen. Wer sie aber heute übersieht, durchschaut weder die Verunsicherung innerhalb der islamischen Ummah, noch den Doppelstandard westlicher Politik.
Wem gehört die Hagia Sophia?
Schon ihr Name hat ein symbolisches Gewicht, das die AKP seit einigen Jahren dazu motiviert, auch andere »Ayasofya-Kirchen«, etwa in Trabzon und İznik, als Moscheen auszustatten. Bautechnisch hat sich seit der Errichtung der Fatih-Camii-Moschee (1470) die osmanische Sakralarchitektur nach ihrem Vorbild entwickelt. Der Vergleich mit dem Salomonischen Tempel (den die Überlieferung dem römischen Kaiser Justinian I. zuschreibt) kann diesen Blickwinkel nur bestärken; schließlich huldigt der Koran Muḥammad als »Siegel« jüdischer ebenso wie christlicher Propheten. Eine Legende besagt, seine Geburt habe jenes Erdbeben ausgelöst, das die erste Kuppel zum Einsturz brachte. In Wahrheit geschah dies jedoch mindestens zwölf Jahre zuvor.
Demgegenüber war Mehmed II. ein genialer Stratege, der die Christen Konstantinopels unter Schutz stellte und eng in seine Verwaltung einband. Indem er die Hagia Sophia nach 1453 nicht umbenannte und bis auf ein Minarett in ihrer Form beibehielt, sollte ihr Anblick die Erinnerung an den Sieg bewahren. Mit lediglich 21 Jahren trat er als Ḳayṣer-i Rūm auch die Nachfolge der Caesaren an, während die Nichte des letzten römischen Kaisers, Sofia Palaiologa durch ihre Heirat in Moskau die Theorie des »Dritten Roms« begründete. Der Westen hatte Byzanz da längst aufgegeben – ja, seinen Fall durch den Vierten Kreuzzug mitverschuldet.
Haben wir das Recht, uns zu beschweren? Die Unterwanderung des Staatsapparats, die 1996 in der Eröffnung der Bank Asya im Beisein Fethullah Gülens gipfelte, wurde seit den 1950er Jahren nicht nur geduldet, sondern mitfinanziert. Schließlich war im Kalten Krieg jede militante Regierung willkommener als eine linke. Während über 100.000 Istanbuler Griechen unter Repression aus dem Land flohen, entzündete sich die junge türkische Rechte mit Slogans wie: »Zincirler kırlısın, Ayasofya açılsın« (»Die Ketten sollen zerreißen, die Ayasofya geöffnet werden«). Der religiöse Führer Said Nursi soll sich mit ebendieser Forderung persönlich an Premierminister Adnan Menderes gewendet haben, sein Schüler Abdullah Yeğin hat dies noch kurz vor dem Tod 2016 mit der Vorhersage bestätigt, dass so »alle Not im Land« zu Ende gehe.
Handelt es sich also um ein monumentales Opfer, um die Mächte des Himmels gnädig zu stimmen?
Hagia Sophia ist Griechisch für »Heilige Weisheit« – und ihre Bedeutungsebenen bieten Anlass, die Unterschiede zwischen Islam und Christentum im Detail zu beleuchten. Den christlichen Glauben des römischen Kaisers Konstantin I. rechnete der britische Historiker Edward Gibbon noch dem »Genie der Sonne«, dem Apollon der Griechen zu – etwa im Sinne der drei persischen Magoi, die im Jesusknaben ihren Zarathustra erkennen. Nicht von ungefähr ließ sich der Gründer des Neuen Roms zur Einweihung 330 in Gestalt des Helios verewigen.
Den heidnischen Synkretismus mit seinen unzähligen, sinnstiftenden Mythen sollte erst fünfzig Jahre später Theodosius I. besiegeln. Nicht unähnlich dem muslimischen Einwanderer unserer Zeit, sah sich bis dahin der gläubige Christ überall der Gefahr ausgesetzt, zugunsten staatlicher »Dämonen« zu sündigen. Nach und nach wichen der antike Körperkult und seine Skulpturen zurück.
An seine Stelle traten vergoldete Mosaiken, die den Blick aus der Welt hinaus dem Geist zulenkten. In der Schwerelosigkeit dieser Abbildungen schrumpft der Augustus selbst, vergleichbar dem islamischen Kalifen, zum Statthalter vor dem Sitz der Weisheit (sedes sapientiae), in dessen Mitte die Gottesmutter mit dem Kind thront. In Gedanken an den bevorstehenden Bilderstreit des Frühmittelalters scheint jene Abstraktion, die sich im Islam vollzieht, von hier aus nicht weit weg.
Aus der Sophia geht nicht allein der Marienkult hervor: In der Gnosis versinnbildlicht sie den Logos, das göttliche Wort. Sophia enthüllt nicht die Empfängnis der Maria, sondern das geistige und damit »unbefleckte« Wesen des Christus, bzw. die beseelte Existenz des Menschen an sich. Gegenüber dieser dreifachen Zeugung mit dem »wahren Licht, das alle Menschen erleuchtet« (Joh. 1:9), führt der Koran die Schöpfung des Menschen auf einen Tropfen Samen (nuṭfah) und einen Klumpen Staub (turāb) bzw. Lehm (ṭīn) zurück.
Die Schwelle zwischen Dies- (dunyā) und Jenseits (āĥirah) wird im Islam als undurchdringlich aufgefasst. So beschreibt der Lichtvers (Sure 35:24), der heute von der Kuppel der Hagia Sophia schimmert, das allwissende Licht Gottes als eine »Nische, in der eine Lampe ist«, diese wiederum »in einem Glas«. Während der Apokalyptiker Johannes das »Buch« aus der Hand des Engels aufisst und verdaut (Off. 10:10), muss es der analphabetische Muḥammad gleichsam »ausschwitzen«, indem er es in eine unantastbare Botschaft zurückformt. In diesem Zusammenhang gleicht die Sophia am ehesten dem 51. der schönsten Namen Allahs: ḥaqq, Wahrheit.
Berühmt ist die Legende des Manṣūr al-Ḥallāǧ, der 922 in Bagdad als Ketzer gekreuzigt wurde. Äußerlich scheint dessen Ausspruch, selbst al-ḥaqq zu sein, gleichbedeutend mit širk, der »Beigesellung« anderer Götter neben Allah. Was er wirklich meint, ist, dass al-Ḥallāǧ hinfort nur durch Gott existierte, das heißt, im Sinne der Prophetentradition »gestorben« war, bevor er starb. Die Art, wie seine Ekstase, so die Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel, »mit dem Blut des Liebenden bezahlt« wird, rückt das Erlebnis des Tawḥīd (der Einheit Gottes) in die Nähe der Astralwelt, die mit ihren Leidenschaften den Körper zu zerstören trachtet.
In diesem Zusammenhang lässt sich der Begriff der »Jungfrau Sophia« erwähnen als »geläuterter astralischer Leib«. Gemäß einer Schulung, die Rudolf Steiner aus dem Johannes-Evangelium (1:32) ableitet, neigt sich der Geist dem gereinigten Jünger in Form einer Taube zu. Solche Katharsis kennt auch der Sufismus – mit dem Unterschied, dass die Seele (als Hindernis zwischen dem Liebenden und Allah) fanā’ (»Entwerdung«) erlangen, das heißt ausgelöscht werden muss. Beinahe christlich wiederum interpretiert der Sufi-Philosoph Metin Bobaroğlu die Einheit Gottes anhand der Sure 114 (al-Iĥlās) als Bekenntnis zur Individualität, die Allah durch jeweils andere Augen in die Welt ausgießt.
Wem hätte wohl Salomo der Weise die Hagia Sophia zugesprochen? Kritiker befürchten einen weiteren Schritt in Richtung Scharia, beziehungsweise den »Tayiban-Staat«, mit den Worten Ahmet Nesins, Sohn des berühmten Schriftstellers Aziz Nesin. Dem Theologen İhsan Eliaçık zufolge widerspricht die Umwandlung der Hagia Sophia von vornherein dem Islam und sei in Anbetracht der 115.000 Moscheen des Landes auch nicht notwendig. In der systemkritischen Zeitschrift Ahval verweist der kurdischstämmige Politiker Hatip Dicle wiederum auf die Symbolkraft der Eckdaten 2023 und 2053, die die AKP seit vielen Jahren in ihrer Agenda präsentiert. Der Vergleich mit 1453 lasse vermuten, dass Istanbul bis 2023 Landeshaupstadt werde, ja, dass Erdoğan die Wiedereinsetzung des Kalifats plane.
Sowenig die Debatte mit authentischer Religion gemein hat, zeigt sie, dass die Islamisierung der Türkei auf einem langwierigen Prozess beruht und Erdoğans Macht auf dem Ruf, sich dem »Willen des Volkes« zu beugen. Während in der Ägäis ein von der Türkei provozierter Krieg droht, ist die türkische Lira auf das Vertrauen ausländischer Märkte angewiesen, und wieviele Skandale wird sie noch überstehen? Zwischenzeitlich haben die Äußerungen eines Professor Ebubekir Sofuoğlu aus der Provinz Sakarya für Empörung gesorgt: Kaiserin Zoë Porphyrogenita sei eine »Hure« gewesen und ein Bild von ihr in einem Gebetshaus untragbar. Ali Erbaş, Direktor für Religiöse Angelegenheiten, dagegen versichert, dass die wertvollen Mosaiken geschützt werden, und sie während des Gebets zu verhängen, scheint auch nicht schwer. Ja, hat nicht Mehmed II. selbst die Muttergottes, ebenjenen Sitz der Weisheit, in der Apsis – also direkt über der schräg stehenden Gebetsnische nach Mekka – sichtbar gelassen?
Immerhin ist der Eintritt in die Hagia Sophia von nun an kostenlos.