Armeen setzen dem Wandel in der Arabischen Welt immer wieder Grenzen – und bleiben dennoch vielerorts populär. Warum sich Militärs in Nahost so beständig an der Macht halten – und warum sich unser Blick nicht auf die Region verengen sollte.
Das Militär im Nahen Osten erfährt oft nur dann Aufmerksamkeit, wenn Putschversuche unternommen werden, oder es sich etwas an den Kriegsverläufen in Syrien, Jemen und Libyen verändert. Zivil-militärische Beziehungen gehören jedoch zu den besonders tief verwurzelten institutionellen Herausforderungen, die jegliche Entwicklung zur Demokratie im Keim ersticken.
Sichtbar wurde das während des Staatsstreiches 2013 in Ägypten, durch den Muhammad Morsi entmachtet wurde. Das Militär zog sich in der Transition zwar zurück, ordnete sich jedoch keiner zivilen Elite unter und verschwand nie ganz aus der politischen Arena. Die vorige autokratische Infrastruktur, die durch Jahrzehnte an Notstandsverordnungen geprägt war, blieb erhalten und wurde von politischen Rivalen weiter genutzt.
Im Laufe des Jahres häuften sich Streiks und Proteste im ganzen Land, was der jungen Regierung zusätzlich erschwerte, Fuß zu fassen – bis das Militär schließlich selbst wieder die Macht übernahm. Das Beispiel Ägypten zeigt besonders deutlich, dass Putsche und Putschversuche nicht nur ein sicherer Indikator für akute massive Probleme zwischen Militär und zivilen Eliten sind, sondern auch ein Symptom für ein chronisches Ungleichgewicht.
Nach den Umstürzen 2011 wurde der Fokus fast ausschließlich auf die ersten demokratischen Wahlen als Maßstab des Erfolgs gelegt.
Idealerweise herrscht ein so genanntes Primat der Politik: Streitkräfte haben ein Monopol über Kriegswaffen und sollten in der Lage sein, gegen externe Bedrohungen, wie Staaten, zu kämpfen. Die Wissenschaft spricht hier seit den 1960ern von einem zivil-militärischem Dilemma: Jede Armee, die stark genug ist, gegen einen anderen Staat zu kämpfen, kann auch potenziell dem eigenen Staat gefährlich werden.
Natürlich haben sich Bedrohungen und Kriegsführung nach dem Kalten Krieg verändert, aber dieses zivil-militärische Dilemma bleibt im Kern erhalten. Ein absolutes Primat der Politik ist also eine strukturelle Grundvoraussetzung für jedes zivile Regime, egal ob Autokratie oder Demokratie. Daher kann per definitionem ein Regime ohne zivile Vorherrschaft keine Demokratie sein. Wo ein ausbalanciertes zivil-militärisches Fundament nicht vorhanden ist, schlägt institutioneller Wandel keine Wurzeln.
Junge Demokratien oder Regime, die sich in Transition befinden, rutschen so wieder in autokratische Regierungsformen ab. Nach den Umstürzen 2011 wurde der Fokus fast ausschließlich auf die ersten demokratischen Wahlen als Maßstab des Erfolgs gelegt, wodurch die Putsche in Ägypten, der Türkei und kürzlich Sudan zunächst überraschend erschienen.
Wer durch einen Putsch an die Macht kommt, muss sich gegen Folgecoups absichern und das Militär unter Kontrolle bringen.
Ein Blick in die Staatsstreich-Statistik für die MENA-Region zeigt jedoch schnell, dass Putschversuche bei Weitem keine Seltenheit sind. Syrien, Irak, Jemen und Sudan verzeichneten seit den 1950ern jeweils mindestens zehn gescheiterte und erfolgreiche Putschversuche. In der Türkei, Algerien, Ägypten, Libyen und Katar stehen jeweils drei bis sechs Versuche, und in Marokko, den VAE, Libanon, Jordanien, Oman und Tunesien jeweils ein bis zwei zu Buche. Kumulativ wird die Zahl der Putschversuche in der MENA-Region auf 72 geschätzt. Da Staatsmedien nicht immer über Putschversuche berichten, unterscheidet sich die Zählart in Datensätzen und kann gerade bei gescheiterten Versuchen sogar viel höher liegen.
Wer durch einen Putsch an die Macht kommt, muss sich gegen Folgecoups absichern und das Militär unter Kontrolle bringen. Das kann durch positive Anreize wie Karrierechancen, wirtschaftliche Teilhabe oder andere Privilegien geschehen. Das war eine beliebte Strategie unter Mubarak, wo ehemaliges Militärpersonal oft politische Ämter bekleidete.
Wenn allerdings eine Herausforderung seitens der Militär befürchtet werden muss, ist die Strategie häufig, das Militär so zu schwächen, dass es nicht zur Gefahr werden kann, aber funktional bleibt. Ben Ali in Tunesien setzte beispielsweise auf den drastischen Ausbau der Polizei und Unterfinanzierung des Militärs, um ein Gegengewicht zu schaffen.
Gaddafi besetzte hohe Positionen im Repressionsapparat mit Familienmitgliedern, während niedere Einheiten oft durchmischt und unterfinanziert wurden, sodass politische Organisation erschwert wurde. Zudem wurde durch das Grüne Buch propagiert, dass das gesamte Volk eine Armee sein soll, womit die Wichtigkeit einer monopolisierten Streitkraft untergraben werden sollte. Das verursachte eine Art Sollbruchstelle entlang Ranghöhen, die nach den ersten Protesten in Libyen sichtbar wurde.
Tunesien wurde nicht durch Krieg oder Putsche von Frankreich unabhängig, sondern durch Verhandlungen.
Jede Intervention macht ihrerseits ein erneutes Eingreifen wahrscheinlicher, besonders wenn das Militär zur Absicherung auf Armlänge gehalten wird. Mit jedem Eingreifen wird das Problem fester in das institutionelle Gefüge eingewoben. Und mit jedem Mal sinken die Erfolgschancen für demokratische Bestrebungen.
Die Langzeitwirkungen zeigen sich im Alltag nicht nur schwarz auf weiß in legislativen Reformen oder Kontrolle über Militärausgaben, sondern auch in den Einstellungen der Bevölkerung zum Militär vis-à-vis der zivilen Regierung. In sämtlichen Umfragen, etwa des »World Value Survey«, des »Arab Opinion Index« oder des »Arab Barometer« haben Bürger in ganz Nahost am wenigsten Vertrauen in politische Parteien und das Parlament, während das Vertrauen in das Militär über Jahre besonders hoch ist. Das ist wenig verwunderlich, wenn das Militär in vielen Ländern als zuverlässiger Arbeitgeber fungiert und auch bei Infrastrukturprojekten zum Einsatz kommt.
Doch was ist der Grund für den ersten Eingriff, der Weitere nach sich zieht? Tatsächlich gibt es in der Wissenschaft dazu lediglich Erklärungsversuche, basierend auf Studien einzelner Fälle. In Ägypten und Algerien lauten die Gründe daher häufig Staatenbildung und koloniale Vermächtnisse, weil die Unabhängigkeit in beiden Ländern entweder durch Coup oder Krieg erlangt wurde.
Mit diesem Erklärungsansatz käme man allerdings in Libyen nicht weiter, da Libyens Unabhängigkeit von Italien durch die Pariser Friedensverträge geregelt wurde. Auch Tunesien wurde nicht durch Krieg oder Putsche von Frankreich unabhängig, sondern durch Verhandlungen.
Militärjuntas in Lateinamerika haben tiefe Spuren hinterlassen, die entweder noch immer aufgearbeitet werden oder erneut zu Tage treten.
Andere Erklärungsversuche befassen sich mit Mustern in Militärausgaben, allerdings ist der einzige Konsens, dass Militärausgaben nicht einheitlich interpretiert werden können. In der Forschung wurde zudem lange verkannt, dass nicht jeder Regimetype eine geeignete Ausgangslage für Demokratisierungen darstellt. Monarchien halten sich statistisch besonders lang, während hybride Regime, die sowohl demokratische als auch autokratische Charakteristika aufweisen, als besonders fragil gelten.
Der Ausgangspunkt des Arabischen Frühlings lag somit in vielen Ländern nie einfach bei Null. Gleichzeitig ist jedoch zu betonen, dass die zivil-militärische Problematik nie auf die MENA-Region beschränkt war. Thailand nach dem Putsch von 2014 und die Philippinen sind aktuelle Fälle in Asien, die vor ähnlichen Herausforderungen stehen. Militärjuntas in Lateinamerika haben tiefe Spuren hinterlassen, die entweder noch immer aufgearbeitet werden oder erneut zu Tage treten, wie in Venezuela oder Brasilien.
Pakistan hingegen – und wenn auch nur temporär – zeigt einen Ausweg aus der zivil-militärischen Problematik in Kooperation mit dem Militär in den 1980ern. Chiles Rückkehr zur Demokratie wurde mit einer Volksabstimmung eingeleitet.
Das globale Auftreten dieser Problematik bedeutet also, dass das Scheitern des Arabischen Frühlings und die autokratische Persistenz nicht mit regionalen oder gar kulturellen Eigenheiten der Region begründet werden kann. Da dies andererseits nie ein regional beschränktes Phänomen war, ergeben sich Chancen für den Ausweg aus der Autokratie. Für die Lösungssuche wird es umso wichtiger, den Tunnelblick auf die MENA-Region abzulegen.
Hager Ali ist Research Fellow am GIGA Institute for Middle East Studies.