Arabische Despoten lachen über die EU. Wir sind es den Reformern schuldig, dass auf Worte auch Taten folgen.
Algier 1988: Gemeinsam mit einem jungen Journalistenkollegen bin ich auf dem Rückweg vom Fußballstadion. In Kürze sollen die ersten freien Parlamentswahlen des Landes stattfinden. »Wir haben die Wahl zwischen Pest und Cholera«, kommentiert mein Begleiter. Mit den Krankheiten meint er – in beliebiger Zuordnung – die oppositionellen Islamisten und die mit dem Militär regierende nationalistische Einheitspartei FLN. Die demokratischen und säkularen Parteien in der Mitte seien desorganisiert und hätten bereits im ersten Wahlgang keine wirkliche Chance.
Wir waren gerade von der Wahlkampfveranstaltung einer islamistischen Partei zurückgekehrt, die den Muslimbrüdern nahestand – Zehntausende hatten sich in dem Stadion versammelt. Sie wollten die Wahlen nutzen, um an die Macht zu kommen. Demokratie verurteilten sie jedoch – auf Pamphleten stand, sie sei das »Gift der Orientalisten«. Der Wahl war eine Protestwelle der verzweifelten Jugend vorausgegangen, die staatliche Einrichtungen sowie Polizeiwachen zerstört und in Brand gesetzt hatte. Die Gründe: Arbeitslosigkeit, Mangel an Wohnraum, Perspektivlosigkeit, Korruption.
Die seit der Unabhängigkeit regierende FLN und die Militärs bekamen die Revolte nicht unter Kontrolle. Sie mussten Zugeständnisse machen: Daher die Wahlen und dieser kurze Moment der Meinungsfreiheit, in dem mein Kollege schreiben und kritisieren konnte, wen er wollte. Mit seiner Einschätzung der Lage hatte er jedoch unrecht – es kam schlimmer: Pest und Cholera fielen zusammen.
Als sich am Wahlabend ein haushoher Sieg der Islamisten abzeichnete, setzten die Militärs den Wahlprozess aus. Sie übernahmen mit Strohmännern die Macht, die Wahlergebnisse wurden nie bekannt gegeben. Es folgte eine Gewaltspirale, die in einem Bürgerkrieg kulminierte. Extremistische Islamisten ermordeten alle, die sie als Feinde betrachteten – Militärs und Polizisten, aber auch Vertreter der demokratischen Mitte: Uniprofessoren, Künstler und Journalisten.
In den Bürgerkriegen in Libyen und im Jemen bekämpfen sich vor allem bestehende Eliten gegenseitig.
Die Militärs ihrerseits antworteten mit schonungsloser Repression. Geschichte wiederholt sich nicht, kann aber eine Mahnung sein. Damals forderten die jungen Algerier bereits, was ab 2010 unter dem Slogan »Brot, Freiheit und Gerechtigkeit« und dem Ruf nach Würde in vielen arabischen Ländern widerhallte. Dabei fallen mindestens drei Parallelen auf, die uns nachdenklich stimmen sollten.
Erstens, in den meisten Ländern gelang den regierenden Eliten und Herrscherhäusern der Machterhalt. So etwa in Marokko, Ägypten, Jordanien, dem Libanon, Syrien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain, Oman, Saudi-Arabien – ohne wirkliche Reformen und viel zu oft ohne Rücksicht auf Menschenleben. Die Despoten Ägyptens, Bahrains und vor allem Syriens scheuten nicht vor der »algerischen Lösung« zurück: massive Repression und Bürgerkrieg.
Das Schreckgespenst des extremistischen Islamismus kam ihnen mehr als entgegen, wie damals in Algerien. In den Bürgerkriegen in Libyen und im Jemen bekämpfen sich vor allem bestehende Eliten gegenseitig. Im Sudan, wo der Arabische Frühling erst 2019 wirklich begann, ist ungewiss, ob die in der Übergangsregierung vertretenen Militärs tatsächlich eine Demokratisierung zulassen.
Im Irak brachen 2019 ebenfalls Massenproteste einer Jugend aus, die genug hatte von der Vetternwirtschaft der Politiker, die das Land seit Saddam Husseins Sturz 2003 kontrollierten. Aber gegen die Macht der Milizen kamen sie nicht an. Auch die libanesische Volksbewegung, die sich 2019 und 2020 formierte, fand bisher kein Mittel gegen die alten Kriegsherren, die das Land gemäß ihrer Konfessionen unter sich aufgeteilt haben. Nur beim Hoffnungsträger Tunesien, auf den ich noch zurückkommen werde, teilen sich alte und neue Eliten die Macht.
Dennoch ist Diktator Abdel-Fattah Al-Sisi in Deutschland salonfähig, während Zehntausende politische Häftlinge in seinen Kerkern schmachten.
Die zweite Parallele zu Algerien: Kein Staat unternahm wirklich etwas – außer zumeist kosmetischen Reformen –, um die legitimen Forderungen der Jugend nach mehr Mitbestimmung und sozialer Gerechtigkeit zu erfüllen. Vor allem wirtschaftlich geht es der vor zehn Jahren so hoffnungsvollen Jugend der arabischen Welt nicht besser. Von den unter 30-Jährigen, die fast zwei Drittel der Menschen in der Region ausmachen, hat jeder dritte keinen Job – fast doppelt so viele wie im Weltdurchschnitt.
Frauen trifft es besonders hart: Die Hälfte von ihnen ist arbeitslos. Die dritte Parallele lässt sich zur Haltung Europas ziehen. Die EU hat trotz wachsendem amerikanischen Desinteresse an der Region Reformbewegungen nie wirklich dauerhaft unterstützt.
Muammar Al-Gaddafi wurde 2011 federführend von den Franzosen weggebombt, Libyen danach jedoch dem Chaos überlassen. Die Europäer machten verbal Front gegen Assad, aber selbst, als das syrische Regime wiederholt Giftgas einsetzte, unternahmen sie trotz vorheriger Bekundungennichts. Lediglich als der aus Damaskus zunächst geförderte Dschihadismus Europa ernsthaft bedrohte, wurde militärisch eingegriffen – aber nicht zugunsten der Demokratie. 500.000 Menschen starben im Krieg, und wir schauen zu.
In Ägypten wurde die Demokratiebewegung zwar mit Worten und Workshops unterstützt. Dennoch ist Diktator Abdel-Fattah Al-Sisi in Deutschland salonfähig, während Zehntausende politische Häftlinge – Islamisten ebenso wie säkulare Oppositionelle – in seinen Kerkern schmachten.
Hard Power beinhaltet auch militärische Macht, eine europäische Armee, die jenseits unserer Grenzen intervenieren kann.
Deutschland macht zudem weiterhin gute Geschäfte mit dem Königreich Saudi-Arabien, dessen Kronprinz meinen Bekannten Jamal Khashoggi umbringen ließ und schlimmer noch, einen Krieg imJemen führt, in dem Zehntausende unschuldige Zivilisten sterben.
Ja, unsere zivilgesellschaftlichen Soft-Power-Instrumente, vom Goethe-Institut bis zu den parteinahen Stiftungen, versuchen progressive Aktivisten zu stützen. Tagungen über Rechtsstaatlichkeit, Partizipation und Emanzipation helfen, können aber harte Politik nicht ersetzen. Eine wirkliche gemeinsame europäische Außenpolitik ist notwendig, die alles, was wir an sinnvoller Entwicklungshilfe leisten, koordiniert und echte Fortschritte in Sachen Mitbestimmung und sozialer Gerechtigkeit fordert.
Hard Power beinhaltet auch – so widerstrebend ich dies auch schreibe – militärische Macht, eine europäische Armee, die jenseits unserer Grenzen intervenieren kann – vor allem auch humanitär. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron brachte diese Forderung immer wieder vor – es ist Zeit, dass Deutschland sich dem anschließt. Nur weil Europa bisher ein zahnloser Tiger ist, konnte Putin in Syrien Baschar Al-Assad zu Siegen verhelfen, konnten die Türkei und Ägypten den libyschen Bürgerkrieg weiter anheizen.
Wir dürfen Diktaturen und ihren zumeist diktatorischen Unterstützern keinesfalls das Feld überlassen. Schon aus eigenem Interesse – unsere Untätigkeit hat Bürgerkriege wie in Syrien erst möglich gemacht, mit ihnen einher gehen die Vertreibung von Millionen Menschen, von denen Hunderttausende nach Europa flüchten, sowie dschihadistischer Terror, der uns heimsucht.
Was, wenn sich die fast hundert Millionen Ägypter aus schierer Hoffnungslosigkeit erneut gegen einen Diktator erheben?
Selbst in Tunesien, dem Staat, in dem es am meisten Grund zur Hoffnung gibt, sind die Ursachen der Revolte nicht beseitigt. Es wird frei gewählt, geredet und geschrieben – die soziale Misere der Jugend hat sich jedoch nicht verbessert. Mehr als ein Drittel ist arbeitslos. Hier muss europäische Hilfe weiter fließen und gut gesteuert werden. Erst dann kann das Land zum Leuchtturm für eine andere arabische Welt werden.
2019, knapp 30 Jahre nach der Revolte der Jugend in Algerien, erhebt sich die algerische Jugend erneut. Dem Hirak, auf Deutsch »Bewegung«, gelang es, durch friedliche Proteste, den seit zwanzig Jahren regierenden Marionettenpräsidenten Abdulaziz Bouteflika zum Rücktritt zu zwingen, beziehungsweise die wirklichen Machthaber – die Militärs – zu überzeugen, ihn fallen zu lassen. Die Covid-19-Pandemie setzte dem Protest Grenzen, aber er geht weiter. Die Algerier wollen weitere Reformen und mehr Freiheit. Doch die Regierung nutzte die Krise, um Oppositionelle zu verhaften.
Die algerische Bewegung macht deutlich: Der Wille der Menschen nach mehr Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und sozialer Gerechtigkeit lässt sich auch durch jahrzehntelange blutige Unterdrückung nicht zerstören. Auch inmitten von »Pest und Cholera« – und nun noch Corona – besteht noch Hoffnung auf Heilung.
Die Aktivisten der arabischen Welt haben einen langen Atem. Den brauchen wir ebenfalls, wenn wir sie unterstützen – ansonsten wird unsere südliche Nachbarschaft zur Zeitbombe. Was, wenn sie nicht mehr demonstrieren? Was, wenn sich die fast hundert Millionen Ägypter aus schierer Hoffnungslosigkeit erneut gegen einen Diktator erheben, das Land im bewaffneten Konflikt versinkt und wir nichts unternommen haben? Können wir uns dann wieder freisprechen und behaupten, Flüchtlingsströme und Tote seien nicht unser Mitverschulden?
Asiem El Difraoui ist Politikwissenschaftler und Dschihadimus-Forscher. Als Mitgründer der Candid Foundation ist er seit 2015 einer der Herausgeber von zenith.