Neun Thesen dazu, was der türkischen Republik bevorsteht und auf welche Entwicklungen man jetzt das Auge richten sollte.
These 1: Die Türkei ist auf dem Weg zum Failed State
Noch kann die Gefahr aufgehalten werden, aber besser nicht mit einem Militärputsch. Wie scheitert ein Staat? Nach unserem Verständnis, wenn Institutionen versagen oder so zweckentfremdet werden, dass sie Sicherheit und Grundversorgung der Bürger sowie den territorialen Zusammenhalt nicht mehr erfüllen. Die Rolle des charismatischen Führers Erdoğan untergräbt zusehends diese staatlichen Institutionen. Militär, Geheimdienste, Polizei, Justiz, Fiskus, selbst das Parlament, werden auf ihn zugeschnitten – und zwar bereits seit Jahren. Er selbst entscheidet nach Belieben, wo er sich einmischt oder nicht.
Die Folge: Konfusion der Staatsgewalten, dann Aufbau von Parallelstrukturen, die, formell oder informell, direkt an den Palast berichten. Sie belauern und behindern einander, kümmern sich nur um eigene Pfründe und befördern so eine Art der Staatskriminalität. Selbst wenn der charismatische Führer die Fäden in der Hand behält: Was folgt, wenn er ausfällt, ermordet wird oder, wie beim Choleriker Erdoğan ja vorstellbar, einem Herzinfarkt erliegt? Verwirrung und Machtkämpfe verunmöglichen einen geordneten Rückbau dieser Strukturen. Das verkraften auch stabile Staaten nicht.
These 2: Die Türkei wird in der NATO bleiben – aber schwächer werden
Die Türkei war nicht nur ein schwieriges, sondern auch eines der wichtigsten Nato-Mitglieder: Sie besaß eine Grenze zur Sowjetunion, galt als stärkster Militärpartner der USA im Nahen Osten, geriet aber sogar mit einem anderen NATO-Mitglied, nämlich Griechenland, in bewaffneten Konflikt. Politisch gesehen zuletzt eher ein Totalausfall: In der Krimkrise 2014 war die traditionelle Schutzmacht der Tataren und Schwarzmeeranrainer zu sehr mit sich selbst befasst. Den Kampf anderer NATO-Staaten gegen den sogenannten »Islamischen Staat« behinderte sie zeitweilig sogar. Sollte man ihre Mitgliedschaft suspendieren, oder erledigt Ankara das demnächst selbst?
Nein. Weder die NATO noch die Türkei haben daran ein Interesse – zumindest solange es auf der Arbeitsebene läuft. Zunächst aber muss die NATO formulieren, was sie, außer Bomben auf den IS zu werfen, im Nahen Osten eigentlich will. Die Mitglieder sollten ihre Beziehungen, etwa die Nutzung von Militärbasen, mehr über bilaterale Abkommen regeln. Die NATO selbst sollte sich nicht mehr so stark wie früher auf die Türkei stützen. Zumal die zweitgrößte NATO-Armee überhaupt geschwächt aus den derzeitigen »Säuberungen« der Offizierskader hervorgehen wird. Politische Treue geht dort vor militärischer Professionalität. US-Atomwaffen hatten auf der Basis İncirlik ohnehin nichts zu suchen, deshalb ist es überfällig, sie von dort abzuziehen.
These 3: Der völkische Islam der Straße wächst der AKP über den Kopf
Erdoğan und AKP unterscheiden kaum zwischen dem Mandat des Wählers und »Ermächtigung«. Jubelnde Anhänger = Ermächtigung per Akklamation. Zum konservativen AKP-Gefolge gesellen sich vermehrt auch Salafisten und Ultranationalisten, die durch Erdoğan ihre Sehnsucht nach Grandeur befriedigt sehen: Ihr Volk ist türkischen Bluts (nicht etwa kurdisch) und sunnitischen Glaubens (keine Aleviten, Schiiten oder Juden). Diese Sammelideologie nennen wir »Nationalislamismus« oder völkischer Islam.
Aus ihren Milieus rekrutieren sich, wie man am Beispiel Iran ablesen kann, nützliche Freiwillige – bereit, dem »Volkswillen« gewaltsam Geltung zu verschaffen oder auch Proteste gegen das Regime niederzuknüppeln. Die Bassidsch-e Mostazafin (»Mobilisierte der Unterdrückten«) muss das iranische Regime aber permanent mit Kampfrhetorik und Wohltaten bei der Stange halten. Eine vergleichbare Dynamik kann der AKP-Elite schnell über den Kopf wachsen. Denn die Militanten werden letztere an ihre eigenen Versprechen erinnern, wenn sie müde, korrupt oder zu pragmatisch werden. Den Geist der Bassidschisierung drückt man nicht einfach wieder in die Flasche.
These 4: Die Türkeipolitik von der Islamdebatte trennen
Deutschland und die Türkei – eine passioniertes Verhältnis, wobei die Deutschen ihre Leidenschaft eher spät entdeckten. Dabei sind sich Deutsche und Türken ja nicht unähnlich: Baumarktfetischisten, praktisch kommt vor chic. Bei der Nationenwerdung beide Spätzünder mit einem Hang zur Bipolarität. Entweder litten sie unter Minderwertigkeitskomplexen, oder sie hielten sich für das beste Volk der Welt. Die Einwanderung von Gastarbeitern aus Anatolien und die Erfindung der »Deutschtürken« prägen bis heute auch die diplomatischen Beziehungen. Aber viele sind nun befremdet oder gar erschrocken, dass die AKP hier Anhänger mit wehenden Fahnen auf die Straße bringt und sich der sprichwörtliche Gemüsehändler an der Ecke plötzlich so politisch äußert.
Die deutsche Politik muss jedenfalls den außenpolitischen vom Integrationsdiskurs abkoppeln. Und erst recht von Kopftuch- und Islamdebatten. Konflikte zwischen Berlin und Ankara gehören nicht in deutsche Kommunen. Wenn militante Erdoğan-Anhänger diesen Unterschied nicht verstehen, sind sie in die Schranken zu verweisen. Deutsche Politiker müssen sie aber nicht noch in ihrem Irrtum bestärken, dass sie den Doppelpass infrage stellen oder nun von Deutschtürken Fahneneide und Loyalitätsbekundungen verlangen.
These 5: Die Verschwörer werden noch gebraucht
Ein Bonmot der Psychiater: Dass ich paranoid bin, bedeutet nicht, dass ich nicht tatsächlich verfolgt werde. Die Türkei hat Erfahrung mit Putschen und verdeckter Einmischung ausländischer Mächte. Der Kampf gegen Geheimbünde und »fünfte Kolonnen« wurde ein Leitmotiv ihrer Geschichte. Islamisten wiederum halten Republikgründer Atatürk für einen Verschwörer gegen den Islam: als Freimaurer und Kabbalist. Feindbilder verselbständigen sich; Verschwörungstheorien werden selbsterfüllenden Prophezeiungen.
Wer in diesen Kategorien denkt, agiert selbst konspirativ, wie heute die Clique um den Präsidenten. Mit Männerbünden wie dem Nakschbandi-Orden, der schon im Osmanischen Reich umging, ist er aus eigenem Milieu vertraut. Und die einst mächtige Gülen- Bewegung agierte wie eine muslimische Scientology – erst im Bund mit Erdoğan, dann als sein Allzwecksündenbock. Sektentypisch: Gegen Saboteure einer Heilsbewegung, in diesem Fall der AKP, sind alle Mittel recht. Verschwörungen und Verschwörungstheorien werden weiter Konjunktur haben. An einer Auslieferung Fethullah Gülens aus den USA hat Erdoğan – anders als behauptet – kein Interesse. Als Klischeebild eines bösen Zauberers in der Ferne leistet Gülen ihm nützlichere Dienste.
These 6: Für das Osmanische Reich haben wir auch eine Schwäche
Erdoğan als Sultan vom Bosporus – eine beliebte Plattitüde. Die AKP-Führung nimmt oft Bezug auf die glorreiche Ära des Osmanischen Reichs. Sie wollte die Türkei zur regionalen Großmacht erheben: mit den ehemals osmanischen Provinzen in Nahost, Nordafrika und auf dem Balkan als natürliche Einflusszonen. Die Türken leisteten Entwicklungshilfe, setzten sich für das drangsalierte Volk der Rohingya in Myanmar ein, zeigten Präsenz in Hochrisiko-Ländern wie Somalia. In arabischen Staaten wurde die AKP zur Schirmherrin islamistischer Parteien.
Man kann das mit spätosmanischer Politik vergleichen, als Sultan-Kalif Abdülhamit II. die »panislamische Karte« spielte, um Nationalismus und Europas Kolonialmächte zurückzudrängen. Aber der Neo-Osmanismus der AKP beschränkt sich eher auf romantische Referenzen. Dass die Türkei in ihrer Nachbarschaft politisch und wirtschaftlich stark vertreten bleibt, daran ist zunächst nichts auszusetzen. Sie wird in Zukunft stärker mit ihren Ressourcen haushalten. Strahlendes Vorbild für die Vereinbarkeit von Islam, Demokratie und Fortschritt ist die Türkei nicht mehr. Als Entwicklungsmodell für andere muslimische Staaten bleibt sie aber relevant.
These 7: Visafreiheit gegen Reisefreiheit
Türkische Staatsbürger sollen ohne Visum in den Schengen-Raum einreisen dürfen. Das ist eine der Hauptforderungen Ankaras im »Flüchtlingsdeal«. So ist die Visafreiheit auch das größte Faustpfand der EU-Staaten, mit dem sie eine Änderung der fragwürdigen Antiterrorgesetze aushandeln wollen. Sie wäre ein politischer Prestige-Erfolg, den alle Türken anerkennen, ob sie Erdoğan wählen oder nicht. Bedauerlich nur, dass es überhaupt soweit kommen musste: Visafreiheit wird seit Jahren gefordert, auch von deutsch-türkischen Handelskammern. Sie ist gut fürs Business, entlastet die Bürokratie. Wer sie ablehnt, argumentiert oft mit Sicherheit und dem Problem illegaler Immigration in unsere sozialen Sicherungssysteme.
Eine Abwägungssache, bei der am Ende aber die Vorteile überwiegen. Die Erdoğanisten machen sich in der Türkei breit. Für die Liberalen aber, die an Europa dranbleiben wollen, wird die Luft dünner. Je offener und enger der Kontakt mit der türkischen Zivilgesellschaft, desto eher lässt sich der Kollaps der Republik abfedern oder verhindern. Wirft man die Visafreiheit in die Waagschale, sollte man dafür eher Reisefreiheit fordern. Für alle, die von der Justiz aus politischen Gründen drangsaliert und nicht mehr aus dem Land gelassen werden.
These 8: Rojava wird es so nicht geben
So erratisch sie auch wirkt, so berechenbar handelt die AKP-Führung in Bezug auf die syrischen Kurden. Kurz nachdem die von der PKK-nahen PYD angeführte Allianz im August den Euphrat überschritten hatte, um drei ihrer »Kantone« entlang der Grenze zu verbinden, folgte der Einmarsch ins Nachbarland. Mit Ansage. So hätte übrigens jede türkische Regierung agiert. Einen lebensfähigen syrisch-kurdischen Staat wird es auf absehbare Zeit nicht geben. Und genau genommen lehnt die PKK-Ideologie Abdullah Öcalans das Konzept des Nationalstaats auch ab.
Die PYD in Syrien sollte sich als nicht-deklarierter Staat behaupten und zeigen, dass sie weiß, was eine Regierung ihren Bürgern schuldet (von Demokratie ist sie noch ziemlich weit entfernt). Die Türkei kämpft derzeit zwei Kurdenkonflikte – einen im Inland und einen in Syrien. Dort ist sie immer noch eine auswärtige Macht ohne territoriale Ansprüche und deshalb offener für Verhandlungslösungen. Ankara hat in der Vergangenheit bereits diplomatische Kanäle zur PYD geöffnet und auch den inhaftierten Öcalan in Vermittlungen eingebunden.
These 9: Erdoğans Syrer und das demografische Kalkül
Erdoğan kann mit dem »Flüchtlingsdeal« leben – und mit dessen Scheitern. Die Europäer sehen ein Eigeninteresse der Türkei: Wenn Schleuser frei in der Ägäis operierten, würden mehr Menschen aus Syrien in die Türkei nachrücken. Aber muss die AKP das fürchten? Im Gegensatz zu europäischen Regierungen lässt sie sich nicht von Rechtspopulisten treiben – populistisch ist sie ohnehin selbst. Flüchtlinge wandern dort ja auch nicht in hochpreisige soziale Sicherungssysteme ein. Syrer sind billige Arbeitskräfte; bei einer wirtschaftlichen Krise könnten sie schnell zu Sündenböcken werden.
Aber Erdoğan hat derzeit wenig Leidensdruck. Verglichen mit anderen Staaten in der Region behandelt die Türkei die meisten Flüchtlinge gut. Dass Erdoğan sie in Verhandlungen mit Europa in die Waagschale wirft, verwundert nicht. Aber es gibt noch ein anderes, demografisches Kalkül: Die AKP als selbsternannte sunnitische Führungsmacht könnte in Anatolien vermehrt Sunniten aus Syrien ansiedeln, als Gegengewicht zu Kurden, Aleviten, Alawiten und anderen, lästigen Minderheiten. Der Preis für das Recht auf Grundbesitz oder Staatsbürgerschaft: politische Loyalität. Früher verbot das türkische Recht die Ansiedelung nicht-türkischer Volksgruppen – nur Syrer aus turkstämmigen Minderheiten hätte man naturalisieren können, was sich aber zusehends ändert. Das Problem einer solchen Politik: Die ethnische Frage in der Türkei wird neu gestellt und birgt zahlreiche Konflikte.