Terror, organisierte Kriminialität, Bürgerkrieg hinter der Grenze: Über dem Tschad und seiner vielgelobten Armee zieht der perfekte Sturm auf. Präsident Idriss Déby muss nun an mehreren Fronten kämpfen – und scheint schlecht vorbereitet.
Im November 2017 verkündete der damalige Ministerpräsident Albert Pahimi Padacké auf dem »Dakar International Forum on Peace and Security in Africa: »Es gibt keinen einzigen Terroristen im Tschad.« Obwohl die Realität schon damals diese Aussage widerlegte, verkörpert sie die seit langem vorherrschende Haltung der tschadischen Regierung zu Terrorismus in den Tschadsee- und Sahel-Regionen: Terrorismus betrifft nur unsere Nachbarn, nicht uns.
Doch spätestens nach dem brutalen Anschlag von Boko Haram am 23. März auf ein Camp der tschadischen Armee in Bohoma in der Tschadsee-Provinz kann niemand mehr der Realität aus dem Weg gehen. Über hundert Soldaten wurden getötet, mehrere entführt, Lager geplündert und große Teile der Ausrüstung zerstört oder gestohlen. Es ist der schlimmste Terroranschlag in der Geschichte des Landes, ein klares Zeichen für die wachsende Stärke Boko Harams und eine Demütigung für die »beste Armee Afrikas«. Die Regierung des Tschad spricht von einer »unerwarteten Situation«. Dabei ist sie das Ergebnis einer jahrelangen Entwicklung in der Tschadsee-Region, die 2019 Fahrt aufgenommen hat und nicht nur die Konflikte im Tschad, sondern auch jene in Nigeria, Niger und Kamerun verschärft. Das militärische Problem für den Tschad lässt sich auf drei Aspekte reduzieren.
Die Lage in der Tschadsee-Region beeinflusst die Sicherheit im gesamten Land
Erstens, sein Engagement in den verschiedenen internationalen Einsätzen in Westafrika, unter anderem geleitet von den Vereinten Nationen, wie MINUSMA (Mali) und MINUSCA (Zentralafrikanische Republik) oder lokalen Organisationen, wie G5-Sahel, ECOWAS oder die Multinational Joint Task Force (MJTF) der Tschadseebecken-Kommission. Zusätzlich engagiert sich die Armee auch in Libyen und im Sudan, etwa im Grenzschutz. Auch wenn dieses Engagement für ein Land wie Tschad zum Teil lukrativ sein kann, werden die militärischen Kapazitäten über Gebühr strapaziert, vor allem angesichts der Bedrohung im eigenen Land, etwa durch die Rebellen in der nordwestlichen Region Tibesti.
Diese wachsenden internen Sicherheitsprobleme sind das zweite Problem. Auch wenn sie seit mehreren Jahren bestehen, bindet der Kampf gegen Rebellen im Norden und Osten des Landes viele Ressourcen, je nach Intensität der Krisenwelle, die eng mit der Situation im Süden Libyens verbunden ist. Ein aktuelles Beispiel ist die »Eroberung« der Tibesti-Region durch Kämpfer des CCMSR (»Conseil de commandement militaire pour le salut de la République«) im Februar 2020, die zu heftigen Kämpfen zwischen den militanten Gruppen und der Armee des Tschad führte. Zusammen mit einigen »Sicherheits-Einsätzen« im Süden Libyens, die zum Teil die Unterstützung der tschadischen Luftwaffe erfordern, beansprucht auch der Nordosten des Landes die Armee. Im Nordosten und Osten sind viele Rebellengruppen aktiv, teilweise unter dem Banner der UFR (»Union des forces de la résistance«). Dazu kommt die steigende Anzahl kommunaler Konflikte, die zusätzlichen Druck auf die Kapazitäten der Armee ausüben.
Der dritte Aspekt ist der Kampf gegen Terrorismus in der Tschadsee-Region, wo die Armee sich in multinationalen und bilateralen Einsätzen engagiert. Die tschadische Armee unterstützt seit 2014 die MJTF im Kampf gegen Boko Haram. Die Einsätze erstreckten sich bis Dezember 2019 auf Nigeria, Niger und Kamerun. Doch seit 2017 ruft die Regierung peu à peu sein Personal zurück in den Tschad, Soldaten zogen erst aus Niger und im Dezember 2019 auch aus Nigeria ab. Offiziell heißt es, die Armee müsse zuvorderst für Sicherheit im eigenen Land sorgen. Gespräche mit tschadischem Sicherheitspersonal bestätigen diese Begründung. Die Sorge um die interne Sicherheit sei gestiegen und die Zusammenarbeit mit den Nachbarländern derart ressourcenintensiv, dass ein Rückzug notwendig sei. Zudem sei man sich klarer als zuvor, wie sehr die Lage in der Tschadsee-Region die Sicherheit im gesamten Land beeinflusse, hieß es aus N‘Djamena.
Die Sorge um die Sicherheitsschwachstelle Tschadsee ist gerechtfertigt. Im Jahr 2017, als Ministerpräsident Padacké die eingangs zitierte Rede gehalten hatte, verzeichnete die Provinz sieben Anschläge. 2019 waren es schon 35 – fünf Mal mehr als zwei Jahre zuvor. 2020 wurden Dörfer und Armeeposten der Provinzen Fouli und Kaya im Südwesten des Landes bereits sieben Mal von Terroristen angegriffen, unter anderem am 23. März.
Nicht nur die Zahl der Anschläge steigt, sie werden auch ausgefeilter
Diese rasante Entwicklung ist keine Überraschung. Die Anzahl der Terroranschläge, die entweder vom »Islamischen Staat Westafrika Provinz« (ISWAP) oder Boko Haram unter der Leitung von Abubakar Schekau verübt werden, steigt seit 2017, von über 400 auf mehr als 500 im Jahr 2019. Wichtiger als die absoluten Zahlen sind jedoch die Entwicklungen vor Ort. Das Sorgenland Nigeria, die Basis von Boko Haram und ISWAP, hat seit 2017 weniger Anschläge erlitten, während die Tschadsee-Nachbarn Niger, Tschad und vor allem Kamerun 300 bis 500 Prozent mehr Anschläge verzeichneten.
Nicht nur die Zahl der Anschläge steigt, die Strategie wird immer ausgefeilter. Die Anschläge kombinieren mehrere Angriffswellen miteinander, integrieren eine vielfältige Nutzung von Raketenwerfer- und Luftwaffen-Abwehr und verhindern durch geplante, strategisch positionierte Überfälle, dass Nachschub die angegriffene Armee erreicht. Jedes dieser Elemente wandte Boko Haram nicht nur in Bohoma an und auch ISWAP folgte diesem Muster bei seinen Anschlägen.
Diese Entwicklungen wurden auch dadurch ermöglicht, dass diese Gruppen Teile der Tschadsee-Region de facto beherrschen. Seit 2017 ist ISWAP dort ein Proto-Staat, erhebt Steuern auf verschiedene Güter und Produkte, kontrolliert die Wirtschaft, baut eine Sicherheitsinfrastruktur auf und setzt Lehrpläne für Schulen durch. Bis zum strategischen Teilrückzug von ISWAP aus der Region ab Juni 2019 setzten die Behörden diesen Machtverhältnissen kaum etwas entgegen.
Zwei IS-Ableger breiten sich immer weiter im Nachbarland Niger aus
Doch in die Lücke stieß Boko Haram. Nicht zuletzt, weil sich ihnen der abtrünnige ISWAP-Kommandant Mallam Bakura angeschlossen hatte und der Gruppe Zugang zu Geld, Kriegsmaterial und Kämpfern verschaffte. Der Vorstoß Richtung Tschad verhalf Boko Haram zum Comeback, nachdem die Organisation in den Jahren zuvor stetig an Gebiet und Einfluss verloren hatte. Das spiegelt sich sowohl in Anzahl, Planung und Ausführung der Anschläge wider, als auch im Anstieg der eigenen Medienproduktion. Für den Tschad zeitigt der Wiederaufstieg von Boko Haram einen Zweifrontenkrieg im Südwesten des Landes.
Die Situation wird sich mittelfristig schon allein ob der geografischen Lage des Landes nicht verbessern. Im Norden sorgen die starken Fluktuationen des Libyen-Krieges für erhebliche Sicherheitsherausforderungen, nicht nur wegen möglicher Angriffe der tschadischen Rebellengruppe CCMSR, deren Ziel es ist, die Regierung von Präsident Déby zu stürzen, den sie für einen Diktator hält. Dazu kommen die Offensive von General Khalifa Haftar im Süden Libyens, organisierte Kriminalität sowie die geringe, aber nicht unerhebliche Präsenz des IS.
An der westlichen Grenze Tschads sieht die Lage nicht besser aus. Der ISWAP und dessen Partner »Islamischer Staat im Großraum Sahara« (ISGS) breiten sich immer weiter im Nachbarland Niger aus. Der Einfluss der Dschihadisten reicht hier von Tillaberi im Südwesten bis nach Diffa – die Provinz, die direkt an den Tschad grenzt. Vor allem aus diesem Gebiet heraus hat ISWAP seine Anschläge im Tschad vorbereitet und ausgeführt.
Sorgt ein erneuter internationaler Antiterror-Einsatz unter französischer Führung für Entlastung?
Weiter an der Südgrenze entlang wächst das Terrorismus-Problem auch im extremen Norden Kameruns. Dort verüben Boko Haram und die verbündete Bakura-Miliz durchschnittlich fünf Anschläge pro Woche, wenn auch mit geringerer Intensität als jene in Niger, Nigeria und im Tschad. Dennoch stellt die Lage an der Südgrenze Tschad vor erhebliche Probleme, denn die Antiterror-Politik hat sich als wenig effektiv erwiesen. Trotz Teilerfolgen wie dem Tod von Mallam Bakura im Rahmen einer MJTF-Operation am 13. März 2020 haben weder Niger, Kamerun noch Nigeria bisher unter Beweis stellen können, dass ihre Strategien und Taktiken Wirkung zeigen.
All diese Länder stehen vor ähnlichen Problemen wie der Tschad: Sie kämpfen mit geringen Mitteln einen Mehrfrontenkrieg, während die Bedrohungslage im Innern steigt. Zusammengefasst: der Druck wächst, die Kapazitäten schrumpfen. Ob ein erneuter internationaler Antiterror-Einsatz im Sahel – zum Beispiel die am 28. März von Frankreich initiierte Task Force Takuba – unter diesen Bedingungen für Entlastung sorgen kann, ist unklar.
Die Armee des Tschad hat mehrfach unter Beweis gestellt, dass sie zu den besten Afrikas gehört. Der Erfolg der französischen »Operation Serval« in Mali (2013/2014) ist zum großen Teil dem Beitrag des Tschad zu verdanken. Die gute Reputation seiner Kämpfer – getrübt durch gerechtfertigte Vorwürfe gegen Soldaten wegen Menschenrechtsverstößen – bringt der Armee noch immer viel Respekt in afrikanischen und europäischen Militärkreisen ein.
Das Staatsfernsehen zeigt, wie Déby höchstpersönlich die Leitung der Operation gegen Boko Haram übernimmt
Außerdem geht es für Präsident Idriss Déby auch um persönliches Prestige, schließlich entstammt er selbst den Reihen des Militärs und diente unter anderem als Offizier und Pilot in der Luftwaffe. Die demütigenden Niederlagen muss er als persönlichen Affront empfinden. Sowohl die TV-Bilder von Débys Besuch in Bohoma nach dem Anschlag als auch jene, die ihn dabei zeigen, wie er höchstpersönlich die Leitung der Operation gegen Boko Haram übernimmt, sollen die persönliche Dimension für das tschadische Staatsoberhaupt hervorheben.
Diese Einstellung allein wird aber wenig ausrichten können, solange die Nachbarländer selbst als Rückzugsorte für Terroristen dienen und die länderübergreifende Sicherheitszusammenarbeit in der Tschadsee-Region an fehlender Effektivität krankt. Letztendlich schlägt der Terrorismus in der Region seit 2009 sehr tiefe Wurzeln, verstärkt durch die Konfliktdynamiken im Sahel, Nordafrika, Sudan und der Zentralafrikanischen Republik; sowie durch wirtschaftliche und politische Probleme und die wachsende Macht der organisierten Kriminalität vor Ort.
In der Tschadsee-Region zieht ein perfekter Sturm auf. Bis die Länder ihre Sicherheitskapazitäten drastisch verbessern, effektive und gemeinsame Strategien entwickeln, die weit über militärische Maßnahmen hinaus reichen und dann lernen, effektiv zusammenzuarbeiten, werden sich Anschläge wie in Bohoma häufen. Unabhängig davon, was der Tschad und Débys Wille allein erreichen können und wollen.