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Erdoğan und das Präsidialsystem in der Türkei

Warum der AKP die Krise droht

Analyse
Erdoğan und das Präsidialsystem in der Türkei
Proteste gegen die politische Einmischung an der an der Istanbuler Boğaziçi-Universität Hilmi Hacaloğlu - VOA

Die Proteste gegen politische Einmischung an der Istanbuler Boğaziçi-Universität sind nur der jüngste Beleg für die sinkende Popularität von Recep Erdoğan und seiner AKP. Für Präsident und Partei bedeutet das auch ein verfassungsrechtliches Dilemma.

Vor nicht einmal drei Jahren proklamierten die AKP und der heutige türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, dass die politische Transformation in ein Präsidialsystem viele demokratiepolitische Probleme der Türkei mit einem Schlag aus dem Weg räumen würde. Die politische Realität sieht anders aus. Der populistische und expansive Kurs der AKP in der Innen- und Außenpolitik führt dazu, dass die türkische Demokratie schwächer wird.

 

So werden Oppositionsmitglieder und Menschenrechtsaktivisten auf Grundlage willkürlicher Beschuldigungen seit vielen Monaten inhaftiert. Darüber hinaus wird gezielt der interreligiöse Dialog, etwa bei den Themen Aleviten oder der Hagia Sophia, torpediert, um von innen- und außenpolitischen Missständen abzulenken und dadurch die Popularität des Präsidenten aufrechtzuhalten.

 

Die militärischen Interventionen in Syrien, Aserbaidschan und Nordafrika führten dazu, dass die Militärausgaben stetig stiegen. Die türkische Wirtschaft ist immer weniger in der Lage, die Schulden zu tilgen. Kompensiert wurde dies mit einem religiös gefärbten Nationalismus, der sich in gewissen Teilen der Bevölkerung einer breiten Unterstützung erfreut und von der autoritär-populistischen Politik der AKP ablenkt.

 

Auf der Strecke bleibt die historisch schwache türkische Demokratie, die sich zunehmend in eine »hegemoniale« Demokratie transformiert, deren Autoritarismus die letzten funktionierenden demokratischen Institutionen zu gefährden scheint.

 

Hegemoniale und liberale Demokratien wirken auf den ersten Blick wie Zwillinge. Während in liberalen Demokratien beispielsweise Rechtsstaatlichkeit dominiert, geben »hegemoniale« Demokratien nur vor, dass sie die liberalen Werte der Demokratie und ihrer Institutionen respektieren und durchzusetzen versuchen.

 

Das türkische politische System bewegt sich mehr und mehr in Richtung einer »hegemonialen« Demokratie

 

Um die Illusion einer funktionierenden Demokratie aufrechtzuhalten, werden Wahlen abgehalten, die Rechte von Minderheiten und die Rechtsstaatlichkeit beschworen. Es bleibt jedoch meist bei Lippenbekenntnissen. Vielmehr ist das repressive Vorgehen gegen die Opposition und die Ablehnung von Minderheitenrechen ein Hinweis dafür, dass sich das türkische politische System mehr und mehr in Richtung einer »hegemonialen« Demokratie bewegt.

 

Krisen ermöglichen einen Einblick in die politische Natur der »hegemonialen« türkischen Demokratie. Dabei ist es strukturell unerheblich, ob die türkische Staatsführung durch die Ernennung eines ihr politisch nahestehenden Rektors an der Istanbuler Boğaziçi-Universität die Kontrolle über die zukünftige Politik der wichtigsten türkischen Elite-Hochschule sowie ihres kritisch-wissenschaftlichen Personals mitentscheiden will oder die Verhaftung der inhaftierten Oppositionsmitglieder sowie Menschenrechtsaktivisten durch »stichhaltige Gerüchte« legitimiert.

 

Das Präsidialsystem in der Türkei wurde von den Anhängern des türkischen Präsidenten befürwortet, damit die exekutive Macht der Staatsführung ohne viel Einschränkungen durch ein Parlament und Judikative handeln kann. Nach dem Motto: Ein starker Führer bedeutet ein starkes Volk.

 

Politisch von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass eine solche Macht auch in »hegemonialen« Demokratien an die Popularität der Führung gekoppelt ist. Die im Sinken begriffene Popularität des türkischen Präsidenten sowie das Vertrauen in seine politische Vision einer konservativen-islamischen Demokratie für die Türkei verleiten zu einer erneuten Anpassung der Verfassung zum Machterhalt.

 

Die AKP konnte es nicht bewerkstelligen, zukünftige Verfassungsänderungen zu vereinfachen

 

Offensichtlich erwartete die AKP im Jahr 2018, dass die Beliebtheitswerte des türkischen Präsidenten in den kommenden Jahren keinen Einbruch erleiden würden. Dies war wahrscheinlich ein wichtiger Grund, weshalb an der damaligen Verfassungsänderung festgehalten wurde, die vorsieht, dass zukünftige Präsidentschaftskandidaten einen Stimmenanteil von mehr als 50 Prozent erhalten müssen, damit sie das Amt bekleiden können. Präsident Erdoğan erhielt bei den Wahlen damals mehr als 53 Prozent der Stimmen.

 

Gleichzeitig konnte die AKP es nicht bewerkstelligen, zukünftige Verfassungsänderungen zu vereinfachen. Auch im gegenwärtigen Präsidialsystem braucht Präsident Erdoğan eine Mehrheit im Parlament oder ein erfolgreiches Referendum, damit der 2018 festgeschriebene Stimmenanteil von 50 Prozent für die Wahl des Präsidenten verändert werden könnte.

 

In weniger als zwei Jahren wird die nächste Präsidentschaftswahl abgehalten und es sieht nicht danach aus, dass die AKP sowie der türkische Präsident die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen in der bevorstehenden Zeit lösen werden können. Nicht zuletzt, weil der politische Wechsel in Washington den außenpolitischen Spielraum für die Türkei verringern wird.

 

Bisher konnte die türkische Opposition aufgrund ihrer Differenzen Hindernisse Erdoğans »hegemoniale« Demokratie wenig entgegensetzen. Der Sieg der CHP in Istanbul konnte keinen neuen Trend heraufbeschwören. Auch konnte die Opposition keine politischen Vorteile aus den verschiedenen Koalitionskrisen zwischen der AKP und der MHP ziehen. Vielmehr stand sie im politischen Abseits und sah zähneknirschend zu, wie die AKP und ihr Verbündeter die türkische Verfassung zu ihren Gunsten abänderten.


Mag. Dr. Hüseyin Çiçek ist Religions- und Politikwissenschaftler, zurzeit ist er Universitätsassistent an der Universität Wien und assoziierter Mitarbeiter am Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa.

Von: 
Hüseyin Çiçek

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