Zwei frühere AKP-Minister haben kurz nacheinander eigene Parteien gegründet – und fordern Präsident Erdoğan offen heraus. Als Königsmacherin könnte sich allerdings eine Politikerin im rechten Parteienspektrum erweisen.
Die türkische Regierungspartei AKP war für lange Zeit wie ein großes Haus. Ein Haus, in dem sich viele Türken wohl fühlten. Doch die Fassade hat Risse bekommen. Die AKP verwandelt sich immer mehr zur Partei des Präsidenten, zur Erdoğan-Partei. So eilten auch die beiden ehemaligen AKP-Granden Ahmet Davutoğlu und Ali Babacan zur Rettung, um sich gegen ihren ehemaligen Chef und Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan aufzubäumen – zumindest stellen sie es so dar.
Erst vor einem Jahr sind die beiden ehemaligen Minister unabhängig voneinander aus der AKP ausgetreten, nur um dann ihre eigenen Parteien zu gründen. Zuerst gründete Davutoğlu im Dezember 2019 die Partei Gelecek (»Zukunft«), um ein konservativeres Publikum zu bespielen. Dann folgte Babacan mit seiner »Demokrasi ve Atılım Partisi« (Partei für Demokratie und Fortschritt, DEVA) im März mit einem eher progressiven Profil. Beide grenzen sich scharf von Erdoğan ab, obwohl sie mit ihrem politischen Programm eigentlich Nachbarn der AKP sind.
Die beiden ehemaligen AKP-Spitzen schmücken ihre neuen Parteien nämlich mit den Erinnerungen an die alte AKP: Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie, Wiederherstellung der Pressefreiheit und Wiederaufnahme des EU-Mitgliedschafts-Prozesses. Dabei setzt Davutoğlu auf sein Kernmetier. Als ehemaliger Außenpolitiker der AKP (und Architekt der »Null-Probleme-Außenpolitik« der Türkei) grenzt er sich jetzt klar ab von der interventionistischen Politik seines ehemaligen Chefs, zum Beispiel beim Kurs in der Syrien-Politik.
Unterdessen zielt Babacan auf die jungen, gebildeten Türken, indem er sich auf Bürger- und Frauenrechte fokussiert. Dabei nutzt er sein Image als Kopf des noch immer wohlgelittenen türkischen Aufschwungs der frühen 2000er, als die AKP die Türkei aus einer der schwersten Wirtschaftskrisen des Landes geführt hatte. Die Strategie beider AKP-Aussteiger lautet: Es sollen Erinnerungen an bessere Zeit geweckt werden.
Dank dieser Wachstumsjahre war es Erdoğan in den 2000ern gelungen, seine politische Dominanz auf mehreren Ebenen auf- und auszubauen und schließlich abzusichern. Im Parlament kann die AKP bereits seit zwei Jahrzehnten komfortable Mehrheiten einfahren und so durchgehend die Regierungsbänke besetzen. Dank ausgeprägter Parteidisziplin und einem starken Zentralstaat konnte Erdoğan als Regierungschef praktisch durchregieren.
Mit islamischer Rhetorik und pragmatischer Regierungsführung zog Erdoğan Wähler aus allen Schichten an.
Die institutionelle Kontrolle hat er nämlich schon seit Jahren kontinuierlich geschwächt. Die säkulare Elite in Bürokratie, Justiz und Militär verlor ihren Einfluss. Schließlich spielte ihm der gescheiterte Putsch 2016 in die Hände, den er als Vorwand nahm, um seine Gegner von zentralen Posten zu entfernen.
Erdoğan konnte mit der AKP ein komplexes Machtsystem aufbauen, das ihn und die Partei an der Spitze hält. Dabei profitierte er von einem Machvakuum in den 1990er Jahren. Damals war die konservative Elite zerstritten, während eine ökonomische Krise mit hoher Inflation und Rezession das Land heimsuchte. Ein Militärputsch 1997 gegen die Regierung ließ das konservative Lager in Trümmern zurück. In dieser fragilen Situation konnte die AKP ein islamisch-konservatives Angebot gestalten, das ein breiter Teil der Bevölkerung gerne annahm. Die Sozialprogramme für die arme urbane Bevölkerung und die wirtschaftliche Förderung für die aufstrebende ländliche Bourgeoisie brachten die AKP schnell an die Spitze der türkischen Parteienlandschaft.
Dort hat die Wirtschaftspolitik die großen und mittleren Unternehmer gestärkt. Für ihre Loyalität zur AKP erhielten die aufstrebenden Unternehmen Aufträge für große Infrastrukturprojekte. Zudem unterstützte die AKP-Regierung mit günstigen Krediten die Konsolidierung der Presse, die sich von der Wirtschaftskrise noch nicht erholt hatte. Die wenigen verbliebenden Medienunternehmer vergaßen der Partei die Hilfe nicht.
Die politische Opposition wiederum, insbesondere die kemalistische CHP, stand ebenso im Fokus der AKP-Wahlkämpfe. Sie sei volksfern und elitär, unislamisch und respektlos, und am wichtigsten: Sie habe keine Ahnung von Wirtschaft. Mit islamischer Rhetorik und pragmatischer Regierungsführung zog Erdoğan Wähler aus allen Schichten an.
So weitgehend die Reform 2017 war, so knapp fiel mit 51 Prozent die Zustimmung beim Referendum über die Verfassungsänderung aus.
Doch Erdoğans AKP-System ist in seinen Grundfesten erschüttert. Ein Hauptfaktor ist das ehemalige Aushängeschild der Partei: die Wirtschaftspolitik. Denn 2018 verlor die türkische Lira gegenüber dem Dollar 31 Prozent an Wert, die Inflation stand teilweise bei 25 Prozent und in der zweiten Hälfte des Jahres erlebte die Türkei seit langem wieder eine Rezession. Der schlagartige Währungsverfall und die Preissprünge zwangen die Zentralbank, den Leitzins auf fantastische 24 Prozent heraufzuschrauben (in Europa lag er noch bei 0 Prozent). Noch immer steigen die Preise, Unternehmen gehen pleite und die Jugendarbeitslosigkeit bewegt sich auf hohem Niveau.
Erdoğans Kurs stößt bei immer mehr Menschen auf Unbehagen. Das ökonomische Missmanagement des Präsidenten in den vergangenen zwei Jahren hat die wirtschaftliche Schieflage nur noch verschlimmert. Auch das Verfassungsreferendum von 2017 weckte bei vielen Menschen Zweifel. Der Umbau der Türkei in ein Präsidialsystem räumt dem Staatsoberhaupt nämlich weitreichende Kompetenzen ein. So kann das Parlament dem Präsidenten Erdoğan quasi nichts mehr anhaben, er kann zwölf der fünfzehn Verfassungsrichter bestimmen und hat 65 Behörden zu neun zusammengestrichen, die ihm direkt zuarbeiten.
So weitgehend die Reform war, so knapp fiel mit 51 Prozent die Zustimmung beim Referendum über die Verfassungsänderung aus. Das Unbehagen über den institutionellen Umbau machte sich auch bei den Kommunalwahlen 2019 bemerkbar. Zwar konnte die AKP insgesamt 52 Prozent der Stimmen gewinnen, doch die wichtigen Städte gingen an die Opposition: Istanbul, Ankara, Izmir und Antalya. Ein Debakel handelte sich Erdoğan schließlich ein, nachdem er für Istanbul eine Wahlwiederholung erzwang – und die oppositionelle CHP ihren Vorsprung von 13.000 Stimmen auf 800.000 ausbauen konnte und der 25-jährigen Dominanz von Erdoğan und seinen Verbündeten in der Bosporus-Metropole vorerst ein Ende setzte.
Babacan und Davutoğlu schreiben sich die Rückkehr der islamisch-demokratischen Partei auf die Fahne.
Die Entwicklungen der vergangenen drei Jahre verunsichern viele Mitglieder der AKP und veranlassen sie, ihrer vertrauten politischen Heimat den Rücken zu kehren. Die Partei-Forscherin Ceren Lord von der Universität Oxford beobachtet eine wachsende Unsicherheit an der Basis: »Es wird zusehends schwieriger, etwas gegen Erdoğan zu sagen, ohne bestraft zu werden.« Aber auch viele Unternehmer distanzieren sich von der AKP. Einerseits macht ihnen die ökonomische Unfähigkeit des Präsidenten zu schaffen, andererseits verliert die Partei mit dem Verlust von Istanbul, dem wirtschaftlichen Herz der Türkei, an Relevanz. Doch wer auf Distanz zur AKP geht, geht auch ein Risiko ein. »Sie könnten der nächste Feind sein«, beschreibt Lord das Dilemma der AKP-nahen Unternehmer.
In dieser Unsicherheit sehen Babacan und Davutoğlu ihre Chance – und schreiben sich die Rückkehr der islamisch-demokratischen Partei auf die Fahne. Das heißt: Rückkehr zur alten AKP, mit der sich ein Großteil der Türken identifizieren kann und zurück zur alten Türkei, in der die Wirtschaft wächst. So wollen sie die verunsicherten moderaten Konservativen und liberaleren Muslime, die Stammklientel der AKP, in ihr eigenes Lager locken.
Denn die beiden Parteien streben das Format einer Volkspartei an. Sie möchten lagerübergreifend alle Bürger unter einem Dach vereinen. Es gehe darum, »Widerspruch zu erlauben«, sagt Neslihan Çevik im Gespräch mit zenith und betont, dass auch Aleviten und Christen an der Gründung der Partei beteiligt waren. Die 40-jährige Religionssoziologin ist Associate Fellow an der University of Virginia und Stellvertretende Parteivorsitzende und Leiterin der Kommunikationsabteilung der Gelecek – ein akademischer Hintergrund, der schon Parteichef Davutoğlu Respekt innerhalb und außerhalb der Türkei verschafft hatte.
Beide AKP-Abspaltungen liegen in Umfragen weit unter der 10-Prozent-Hürde.
Gleichwohl könnte sich gerade der prominente Parteichef auch als Bürde für den Neuanfang erweisen. Schließlich hat der heute 61-Jährige während seiner Zeit in Partei und Regierung Erdoğans Machtübernahme aktiv mitgestaltet. »Davutoğlu ist viel belasteter für die Opposition«, schätzt auch Ceren Lord von der Universität Oxford. Da stehen der langjährige Wirtschaftsminister Babacan und seine DEVA besser da. »Ihm kommt zugute, dass er als Wirtschaftsminister in den Augen viele Bürger einen respektablen Job gemacht hat. Da ist Davutoğlus Regierungszeit deutlich kontroverser«, sagt Lord.
»Unsere Prioritäten sind: Freiheit der Presse, Freiheit der Wissenschaft und eine EU-Mitgliedschaft, so schnell wie möglich«, sagt Ayşe Yıldırım im Gespräch mit zenith. Die Politologin mit Abschluss am Londoner Kings College ist Gründungsmitglied der Partei.
»Ich glaube nicht, dass sich ein spürbarer Unterschied zwischen beiden Parteien feststellen lässt«, gibt Parteienforscherin Lord zu Bedenken. Sowohl der eher konservative Außenpolitiker Davutoğlu, als auch der eher progressive Wirtschaftspolitiker Babacan seien dem Mitte-Rechts-Lager zuzuordnen, das zum Beispiel eine konservative Sozialpolitik verfolgt. Sie glaubt, dass die zwei vorgeblichen Dissidenten das Projekt der AKP vorantreiben würden, die türkische Gesellschaft Schritt für Schritt islamischer zu machen. Damit seien die beiden »noch immer autoritär. Auch wenn sie einen moderateren Ton anschlagen.«
Die Ausgangssituation für die beiden Parteichefs ist indes alles andere als einfach. Bei den letzten Umfragen würde Babacans DEVA auf 2,4 Prozent der Stimmen kommen und Davutoğlus Gelecek sogar nur auf 1,4 Prozent. Weit unter der Zehn-Prozent-Hürde, die für den Einzug ins Parlament nötig ist. Doch durch eine Allianz mit der größten Oppositionspartei, der CHP, könnten sie es ins Parlament schaffen und eine eigene Fraktion bilden. Diese paar Prozentpunkte würden bereits einen großen Unterschied machen, da die AKP in den jüngsten Umfragen nur noch auf 39 Prozent der Stimmen kam. Damit müsste Erdoğan um seine Koalitionsmehrheit zittern.
Als Abspaltung der neo-faschistischen MHP kommt die İYİ Parti mit ihrem rechts-konservativen Profil gut an – und könnte Erdoğans Koalitionspartner aus dem Parlament drängen.
Als Königsmacherin könnte Meral Akşener den ehemaligen AKP-Männern den Rang ablaufen. Ihre İYİ Parti (»Gute Partei«) würde laut aktuellen Umfragen mit zwölf Prozent ins Parlament ziehen. Als Abspaltung der neo-faschistischen MHP kommt sie mit ihrem rechts-konservativen Profil gut an. Sie würde sogar die MHP, die derzeitige Koalitionspartnerin der AKP, aus dem Parlament drängen. Bislang lehnt Akşener eine mögliche Koalitionsbildung mit Erdoğan kategorisch ab. Sollte es dabei bleiben, würde es dem Präsidenten schwerer denn je fallen, eine Mehrheit im Parlament zu finden.
Die wirtschaftlichen Turbulenzen, die nun auf die Corona-Pandemie folgen, könnten Erdoğan noch weiter schwächen. Insbesondere das Fehlen eines Pakets zum Wiederaufbau und die Ausgangssperren machen der Bevölkerung zu schaffen. Doch zugleich ist die Pandemie auch die Stunde der Exekutive. Und tatsächlich denken viele Bürger, dass ihr Land mit Blick auf die relativ niedrige Sterberate noch recht glimpflich davongekommen ist. Trotzdem erlebte die Türkei eine der weltweit stärksten Ausbrüche von Sars-CoV-19, mit beinahe 180.000 gemeldeten Infektionen und fast 5.000 Toten. Ob Erdoğan aber netto an Zustimmung verliert oder gewinnt, lässt sich schwer einschätzen.
Doch welchen Unterschied würden weiter fallende Umfragewerte wirklich machen, etwa bei den anstehenden Wahlen in zwei Jahren? Die AKP hat Wahlbezirke zu ihren Gunsten zugeschnitten, kritische Medien mundtot gemacht und die Opposition im Wahlkampf behindert. Vor allem im Zuge der Kommunalwahlen 2019 konnten die Wähler beobachten, dass offizielle Wahlergebnisse Erdoğan wenig interessieren. Er ließ einzelne Wahlgänge unter dubiosen Umständen wiederholen, oder setzte Bürgermeister einfach direkt ab, so wie in vielen Städten mit kurdischer Bevölkerung im Osten der Türkei. Die geschwächten und gleichgeschalteten Institutionen können und wollen da nur noch wenig ausrichten. Das System Erdoğan steht also trotz Erschütterungen noch auf einem festen Fundament.