Betreibt der französische Präsident zwischen Beirut und Bagdad lediglich Symbolpolitik oder legt er die Grundlagen für eine neue französische Außenpolitik im Nahen Osten?
Während seiner Reise nach Beirut am 6. August fand der französische Präsident klare Worte im Gespräch mit libanesischen Offiziellen. Für seinen Folgebesuch knapp drei Wochen später wählte Emmanuel Macron einen symbolträchtigen Tag: den 1. September, an dem sich die Ausrufung des Großlibanon zum hundertsten Mal jährt.
Doch woher eigentlich nimmt sich Emmanuel Macron das Recht, so entschlossen für einen Wandel im Libanon einzusetzen? Kann Frankreich durch Druck auf die politische Klasse, die seit Jahren am Status Quo festhält, notwendige Reformen erreichen? Auf dem Rückweg aus dem Libanon stattete Macron auch Bagdad noch einen Besuch ab. Sind diese Besuche ein erster Vorgeschmack auf eine Wiederbelebung der französischen Politik in der Levante?
Abgesehen von einem scheinbar erstarkten Interesse Frankreichs, weisen die beiden Länder einige gemeinsame Elemente auf. Libanon und Irak sind zwei einst »reiche« Länder, die nun vor dem Ruin zu stehen scheinen. Im Falle des Iraks haben endlose interne Konflikte, eine chaotische Regierungsführung und in den letzten Monaten der Ölpreisverfall die Einnahmen sinken lassen.
Es soll nicht nur irgendein Staat geschaffen werden, sondern einer, der die Vielfalt der Bevölkerung berücksichtigen und den Bestrebungen der Zivilgesellschaft gerecht werden soll.
Im Falle des Libanons ist die Finanzkraft – das Rückgrat der libanesischen Wirtschaft – eingebrochen. Im Libanon wie auch im Irak hat sich ein Teil der Zivilgesellschaft regelrecht gespalten. Der Grund ist ein System der Machtverteilung zwischen korrupten konfessionellen Parteien, das jeglichen Fortschritt blockiert. Die Niederschlagung des Protests hat in den letzten Monaten mehr als 500 Demonstranten im Irak das Leben gekostet. Zumindest in diesem Punkt gibt es einen Unterschied zum Libanon, aus dem mir keine Todesfälle bei Demonstrationen bekannt sind.
Auf geopolitischer Ebene leiden die beiden Länder unter Symptomen, die die gesamte Region betreffen: die Schwächung der sunnitischen Gemeinschaften angesichts des Machtzuwachses der Schiiten, die Vorherrschaft von Milizen oder anderer nichtstaatlicher Akteure, die regionale terroristische Bedrohung und das Überleben des Assad-Regimes in Syrien. Sowohl der Irak als auch der Libanon besitzen eine eingeschränkte Souveränität – und das nicht nur wegen ihrer internen Streitigkeiten. Auch die Einmischung rivalisierender Schutzmächte – Iran, USA, Saudi-Arabien, Katar und zunehmend auch die Türkei – beeinflussen die beiden Staaten.
Die gemeinsame Grundlage für die Besuche Macrons im Irak und Libanon hatte Emmanuel Macron beim Nahost- und Mittelmeerforum in Lugano mit seinem Konzept einer »inklusiven Souveränität« vorgebracht. Dieser Begriff wurde explizit gewählt, um der Kritik der externen Einmischung zu begegnen, wenngleich er von der Realität vor Ort entkoppelt scheint. Er knüpft jedoch an eine Tradition der französischen Diplomatie in der Region an. Grundlegend dabei war immer, dass die Rückkehr zur Stabilität die Wiederherstellung der staatlichen Autorität erfordert.
Frankreichs Diplomaten haben jedoch ein langfristigeres Ziel vor Augen. Es soll nicht nur irgendein Staat geschaffen werden, sondern einer, der die Vielfalt der Bevölkerung berücksichtigen und den Bestrebungen der Zivilgesellschaft gerecht werden soll.
Es bleibt die Frage, wie der französische Präsident seine Idee der »inklusiven Souveränität« in der Region vermitteln will.
Die Botschaft ist mutig, denn sie kann nicht allen Regionalmächten gerecht werden. Vor allem Iran mit seinen diversen Einflussmöglichkeiten. Teheran unterhält im Libanon durch die Hizbullah und auch im Irak und Syrien vielfältige und mächtige Verbindungen. Dem gegenüber stehen die politischen Eliten, die sich in diesen Ländern die Macht teilen. Oder aber nichtstaatliche Akteure wie Milizen, die als Mittler für externe Einmischung agieren. Ohne Unterstützung aus der Zivilgesellschaft wird Frankreichs Plan aber nicht aufgehen.
Während der zweiten Reise nach Beirut stellte Macron seine Rolle im Libanon klar dar: Er wäre der Einzige, der das System im Libanon retten könne. Doch auch Macrons Position hat sich geändert, denn während seines ersten Besuchs hatte er noch harte Worte gefunden, um genau dieses System anzuprangern. Während er am Anfang noch einen »neuen politischen Pakt« vorschlug, spricht Macron nun eher von Verwaltungs- und Finanzreformen.
Es bleibt aber immer noch die Frage, wie der französische Präsident seine Idee der »inklusiven Souveränität« in der Region vermitteln will. Im Libanon stellt sich dies um einiges leichter dar als im Irak. Die historische Bedeutung Frankreichs im Libanon und die Landeskenntnis erleichtern den Zugang. Und auch die Rolle des französischen Präsidenten darf nicht unterschätzt werden – schließlich tritt er auch als Vertreter der internationalen Gebergemeinschaft auf.
Im Libanon ist man an einem Punkt angekommen, an dem die Parteien des Landes Reformen nicht mehr ablehnen können. Selbst Iran scheint ein Interesse an der »Rettung« des Libanons zu haben. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Teherans langer Arm – über die Hizbullah – insgesamt in der Defensive ist. Immerhin scheint die Verantwortung für die Lagerung von Tonnen von Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut bei ihr zu liegen.
Tatsache ist aber auch, dass dich die Akteure der politischen Klasse im Libanon unmittelbar nach Macrons Abreise wieder in den Haaren lagen.
Vor dem Besuch Macrons wurde ein neuer Premierminister im Libanon ernannt – und zwar nicht der Wunschkandidat der Franzosen. Bei dem Neuernannten handelt es sich um Mustafa Adib – einen Technokraten mit zurückhaltendem Auftreten, der eng mit dem bestehenden System verbunden ist.
Beiruts politische Elite blickte Macrons zweitem Besuch weniger erfreut entgegen. Man hatte wohl sogar durch eine Verzögerung der Ernennung Macron von seiner Reise abhalten wollen. Schließlich reiste Macron doch wieder nach Beirut und erhielt am Rande der Feierlichkeiten zur Ausrufung des Großlibanons sogar eine Zusage zur Regierungsbildung innerhalb der folgenden zwei Wochen.
Normalerweise dauert es Monate bis zur Bildung eines (gewöhnlich überfüllten) Kabinetts. Auf dieser Zusage ließ Macron es nicht beruhen – er rief auch die Prioritäten in Erinnerung, die im Fokus einer neuen Regierung stehen sollten: Hilfe für die Opfer der Explosion und der Wiederaufbau des Hafens, die Reform des Elektrizitätssektors, der Kapitalkontrolle, des öffentlichen Bausektors, der Rechts- und Finanzverwaltung sowie der Kampf gegen Korruption und Schmuggel.
Auf geopolitischer Ebene begegneten sowohl der Generalsekretär der Hizbullah, Hassan Nasrallah, als auch der US-amerikanische Außenminister Mike Pompeo den Plänen Frankreichs im Libanon grundsätzlich zustimmend. Tatsache ist aber auch, dass dich die Akteure der politischen Klasse im Libanon unmittelbar nach Macrons Abreise wieder in den Haaren lagen.
Es werden bereits individuelle Sanktionen ins Spiel gebracht, um politische Führer im Libanon abzustrafen, die sich gegen Reformen stellen.
Nichtsdestotrotz wird Macron nicht lockerlassen, das suggerieren Aussagen aus seinem Umfeld. Dort werden bereits individuelle Sanktionen ins Spiel gebracht, um politische Führer abzustrafen, die sich gegen Reformen stellen. Macron selbst hat zwei neue Konferenzen in Paris im Oktober angestoßen. Eine zur Weiterverfolgung der Nothilfe und eine zu Reformen, die die internationale Gemeinschaft vom Libanon erwartet. Weiterhin soll eine Reihe von Treffen mit libanesischen Beamten stattfinden.
Frankreichs Ausgangsposition im Irak ist um einiges wackeliger als im Libanon. Nach der Niederschlagung des »Islamischen Staates« und den Parlamentswahlen vom Mai 2018 hatte die französische Führung große Pläne für die Rückkehr in den Irak in der Tasche. Anfang 2019 schienen die Voraussetzungen dafür gegeben. Das Kalkül: Der Irak würde einen neuen Aufschwung erleben und könne sogar eine positive Rolle in der Region spielen. Frankreich sah seinen Moment gekommen und erklärte, die Zusammenarbeit mit Bagdad in allen Bereichen auszubauen.
Trotz aller Schwierigkeiten seitdem sind die bilateralen Gespräche zwischen Paris und Bagdad nie abgerissen. Doch von den glänzenden Aussichten ist nicht mehr viel übriggeblieben: Demonstrationen führten zum Rücktritt der Regierung und zu einem monatelangen Machtvakuum. Dann verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage des Landes aufgrund des Ölpreisverfalls und sowie der Auswirkungen von Covid-19 erheblich. Hinzu kam, dass der Irak Anfang Januar mitten in die Auseinandersetzungen zwischen Iran und den USA geriet. Auslöser dafür war die Tötung des iranischen Generals Qassem Soleimani und eines wichtigen Führers der irakischen Schiitenmilizen, Abu Mahdi Al-Muhandis.
Doch vor dem Besuch Macrons in Beirut schien es, als hätte sich in Bagdad eine fragile Chance für eine Verbesserung der Lage ergeben – und die nutzte der französische Präsident. Premier Mustafa Kadhimi ist seit April im Amt. Er soll den USA nahe stehen – aber auch mit Zustimmung der Iraner eingesetzt worden sein. Kadhimi hat sein Kabinett mit einer Reihe einflussreicher Persönlichkeiten besetzt, darunter etwa Finanzminister Ali Allawi.
Das Konzept der »inklusive Souveränität« dürfte den Bestrebungen vieler Iraker entsprechen – solange Frankreich diskret im Hintergrund bleibt.
Zudem scheint Kadhimi – zumindest für den Moment – der Unterstützung der »schweigenden Mehrheit« versichern zu können, obwohl er selbst kein Vertreter der Zivilgesellschaft ist. In den Beziehungen mit Iran hat er bereits für Irritation gesorgt, nachdem er die Kontrolle über den Sicherheitsapparat wiedererlangen wollte. Auf globaler Ebene versucht er die Beziehungen zu Washington und allen Ländern der Region wieder zu intensivieren. Kadhimi scheint also bestrebt, eine reformistische Politik zu verfolgen.
Angesichts dieser Ausgangslage muss Frankreich sich seiner Rolle klar werden und auch aus der Vergangenheit lernen. Denn obwohl Paris Kredite in Milliardenhöhe gewährte, ist kaum ein großes französisch-irakisches Wirtschaftsprojekt ist in den letzten Jahren wirklich in Gang gekommen. Und Minister Ali Allawi scheint eher nach London zu schielen, um die finanzielle Glaubwürdigkeit des Iraks wiederherzustellen.
Es ist eher zu erwarten, dass Frankreich in anderen Bereichen Kooperationen anstößt, etwa in Kultur und Bildung, in Verteidigungs- und Sicherheitsfragen und natürlich an der politischen Front. Dabei dürfte das Konzept der »inklusive Souveränität« den Bestrebungen vieler Iraker entsprechen – solange Frankreich diskret im Hintergrund bleibt. Der Irak will auch auf anderer Ebene von Frankreich profitieren – vor allem durch dessen Partner. Die Hoffnung ist, dass Paris die Verbindung zu einer Reihe von Partnern aus Europa, den Golfstaaten und den arabischen Staaten herstellen kann.
»Wer nicht wagt, der nicht gewinnt« scheint das Motto Frankreichs im Libanon und Irak zu sein. Die erneuten Investitionen, die Risikobereitschaft und der nicht kalkulierbare Erfolg der Strategie sprechen dafür. Doch nicht nur Frankreich ist gefragt – auch andere europäische Länder, einschließlich der Briten sollten sich weiterhin im Nahen Osten engagieren. Denn im Hinblick auf die US-Präsidentschaftswahlen ist es wahrscheinlich, dass die Stunde der großen Verhandlungsrunden wieder schlagen wird, um die die alten und neuen Spannungen in der Region beizulegen.
Der Text ist im Original auf Französisch beim Institut Montaigne erschienen. Michel Duclos ist Diplomat und war französischer Botschafter u.a. bei den Vereinten Nationen (2002-2006), Syrien (2006-2009) und zuletzt in der Schweiz (2012-2014).