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Golfstaaten, Israel, Naher Osten, Decrypt

Neue Kriege im Nahen Osten: Das Kalkül der Golfstaaten

Essay
Golfstaaten, Israel, Naher Osten, Decrypt
Die Staatschefs des Golfkooperationsrats beim Gipfel im saudischen Al-Ula Anfang 2021 SPA

Teil 2 der dreiteiligen zenith-Reihe »decrypt«: Die reichsten und zum Teil mächtigsten arabischen Staaten sind erschüttert über den Krieg Israels in Gaza und im Libanon. Und halten sich dennoch auffällig zurück. Welche Mentalität und welche Interessen stecken dahinter?

Eine Strategie ohne »Plan B.« ist keine gute Strategie. Man muss seine Investments »hedgen« können, also durch eine Diversifizierung absichern, wenn die Umstände sich ändern, stets aber dafür sorgen, dass sie auf das gleiche Ziel einzahlen. Dies gilt im Nahen Osten besonders. Denn hier finden sich viele Staaten, die sich einerseits einem instabilen, volatilen Umfeld anpassen müssen, dabei aber über einen entscheidenden machtpolitischen Vorteil verfügen: Sie müssen sich nicht, oder nur bedingt ihren eigenen Öffentlichkeiten erklären oder für ihr Handeln Rechenschaft ablegen. Sie können langfristig planen, da sie nicht von Wahlen und wechselnden Regierungen abhängig sind.

 

Auffällig scheint, dass die Golfstaaten – welche jeder für sich eine eigene Linie mit eigenen Interessen verfolgen, angesichts der verheerenden Opfer und Schäden der israelischen Feldzüge in Gaza und im Libanon – vergleichsweise zurückhaltend auftreten. Mit ihrer bedeutenden wirtschaftlichen Macht und ihren stabilen diplomatischen Beziehungen in der Region und weltweit könnten sie beträchtlichen Druck aufbauen. Sie könnten, um ihrer Kritik an der westlichen Unterstützung für das Agieren der Regierung Netanyahu Nachdruck zu verleihen, Milliardeninvestments in europäischen, auch deutschen Assets liquidieren. So könnten sie, um ein Zeichen zu setzen, ihre Investitionen in Immobilien in Ungarn stoppen, welches in Europa die stärkste Pro-Netanyahu-Position vertritt und unter anderem eine härtere Gangart der EU gegenüber dessen Regierung verhindert. Mit solchen Maßnahmen würden die Golfstaaten gewissermaßen die westliche Sanktionslogik widerspiegeln. Nach dieser Logik gelten Sanktionen nicht nur, um Staaten und Regierungen zu bestrafen, sondern auch, um den anderen die Druckmittel zu zeigen.

 

Die Golfstaaten tun dies bisher nicht, weil es Interessen gibt, die schwerer wiegen als die Palästinafrage, darunter das Image eines verlässlichen Geschäftspartners. Auch öffentliche Kritik wird eher zurückhaltend geübt, was vornehmlich formale Gründe hat sowie solche, die in der politischen Kultur der Region begründet liegen. Jahrzehntelang haben die autoritären Herrscher am Golf erzürnt reagiert, wenn westliche, insbesondere deutsche Politiker sie öffentlich an den Pranger stellten. Man verachtet diese Praxis und demonstriert nun seinen westlichen Counterparts geradezu ostentativ, dass man diesbezüglich andere Sitten praktiziert. Diese Zurückhaltung als Zustimmung zur westlichen oder gar israelischen Politik zu interpretieren, wäre jedoch ein – potenziell folgenschwerer – Fehler.

 

Saudi-Arabien fängt iranische Raketen auf Israel ab, führt aber mit Iran Militärmanöver durch

 

Die Beitrittsstaaten der Abraham-Abkommen am Golf, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und Bahrain, haben ihre diplomatischen Beziehungen mit Israel seither nicht abgebrochen. Einige Golfstaaten haben Presseberichten zufolge zwar Israel und den USA untersagt, ihren jeweiligen Luftraum für Angriffe auf Iran zu nutzen. Zugleich beteiligte sich Saudi-Arabien aber an dem Bemühen, Raketen, die aus Iran und dem Jemen auf Israel abgeschossen wurden, abzufangen. Dies wiederum steht aus saudischer Sicht nicht dem kürzlich angekündigten Vorhaben im Wege, gemeinsam mit Iran militärische Manöver im Roten Meer abzuhalten – eine symbolische Geste zwischen zwei Rivalen, die einander zwar nicht vertrauen, aber aus pragmatischen Erwägungen in den Dialog getreten sind.

 

Saudi-Arabien erklärte den vor dem 7. Oktober 2023 laufenden Normalisierungsprozess mit Israel zwar für ausgesetzt und bekundete sein Missfallen gegenüber der israelischen Politik kürzlich bei den Vereinten Nationen, als die saudische Delegation bei Benjamin Netanyahus Rede im Plenum der Generalversammlung demonstrativ den Saal verließ. Hingegen empfingen die VAE vor einigen Wochen den israelischen Verteidigungsminister Yoav Gallant zu einem langen, vertraulichen Gespräch, und haben, trotz aller Frustration über das israelische Vorgehen im Gazastreifen, ihre politischen Kontakte nach Jerusalem nicht deutlich eingeschränkt.

 

Das kleine Emirat Katar wiederum gewährt zwar dem Politbüro der palästinensischen Hamas Asyl, unterhält aber enge militärische und geheimdienstliche Kontakte zu den USA und empfängt als Vermittler im Gazakonflikt, insbesondere im Bemühen um einen Waffenstillstand und einen Geisel- beziehungsweise Gefangenenaustausch zwischen Hamas und Israel, regelmäßig den Direktor des israelischen Mossad.

 

Ausnahmslos alle Golfstaaten, einschließlich Kuwaits und des Sultanats Oman, haben sich in den zurückliegenden zwölf Monaten des Kriegs in Gaza auf die eine oder andere Weise als Vermittler bemüht. Sei es zwischen den USA und Iran, Israel und Hamas oder, um Szenarien für eine mittelfristige Lösung für den Gazastreifen oder eine längerfristige für die gesamte Palästinafrage zu entwerfen. Die Golfstaaten tun dies teils kooperativ, teils im Wettbewerb zueinander. Die Unterschiede in den politischen Zielen und Prioritäten werden gleichwohl dann zutage treten, wenn es um konkrete Beiträge zur Lösung der Palästinafrage geht und unter anderem um die Frage, welche Personen oder Gruppen man mit welchen Mitteln unterstützt.

 

Was ist die verbindende Logik der arabischen Staaten am Golf?

 

Obwohl sie sich in ihren politischen Zielen und Vorgehensweisen auch unterscheiden, folgen sie einer am Golf verbreiteten, auf historischer Erfahrung beruhenden Mentalität: Man kann seinen Gegner nicht ausrotten. Gewalt zieht Konsequenzen – nämlich Rache – nach sich. Deshalb empfiehlt es sich, mit seinen Gegnern den Interessenausgleich zu suchen. Der Stärkere kann morgen der Schwächere sein, weshalb es Regeln braucht. Welche Gemeinsamkeiten gibt es aber und kann man von einer »Strategie der Golfstaaten« in Form einer verbindenden Logik sprechen? Man kann.

 

Die Präsenz externer Mächte und Einflussfaktoren am Golf ist Jahrtausende alt. Assyrische, hellenistische, indische, byzantinische, osmanische und natürlich zahlreiche »westliche« Relikte legen davon ein beredtes Zeugnis ab. Bis 1971 standen einige der Scheichtümer der Region noch unter britischer Kontrolle. Die Golfstaaten sind es gewohnt, geopolitisch zu denken und das Verhalten globaler Akteure in ihr Kalkül einzupreisen. Das spiegelt sich nicht nur in militärischen Allianzen und Klientelbeziehungen wider – vor allem mit den USA, durchaus aber auch mit Frankreich und Großbritannien, die am Golf Marineverbände stationiert haben. Es zeigt sich in ihrer Investitionspolitik oder ihren Airlines, die aus dem internationalen Passagier- und Logistikgeschäft nicht mehr wegzudenken sind.

 

In den zurückliegenden zehn Jahren ist die Zahl der externen Akteure gewachsen, die am Golf um Beziehungen ringen, wenngleich deren Erfolgsbilanz sehr unterschiedlich ausfällt. Als Energieexporteur, dessen Wohlergehen am Öl- und Gaspreis hängt, bemüht sich Russland um Einfluss. Versuche Moskaus, militärische Partnerschaften mit den Golfstaaten einzugehen, waren bisher nicht von Erfolg gekrönt. Die Golfstaaten haben sich zwar großenteils nicht auf Seiten des Westens im Ukrainekrieg positioniert und ihre Geschäftsbeziehungen mit Moskau mitunter sogar ausgebaut. Das russische Selbstbild einer Macht, die den Wandel der globalen Ordnung anführt, wird dort aber in weiten Teilen als Folklore belächelt – angesichts der viel bedeutenderen Rolle Chinas oder auch Indiens in den tektonischen Verschiebungen der Weltwirtschaft.

 

Indische, insbesondere chinesische Bemühungen um Verkehrswege, Rohstoffe und Märkte hingegen zeitigen deutlich bessere Ergebnisse. Sie haben der Region mehr anzubieten als Russland und verfügen über Zugänge zum Seehandel im Indischen Ozean. Im Falle des Emirats Katar hat auch die Türkei einen Fuß auf den Boden am Golf bekommen: in der letzten »Golfkrise«, ausgelöst durch ein Embargo und militärische Drohungen gegen Katar seitens einiger arabischer Nachbarn, hatte Präsident Recep Tayyip Erdoğan den Kataris seine Hilfe angeboten, was man ihm nicht so schnell vergisst. Auch Israel kann aufgrund seiner Sicherheitspartnerschaft mit den VAE inzwischen als engagierte Regionalmacht gelten. In einer der zurückliegenden zenith-Ausgaben hieß die Golfregion der »neue Mittelpunkt der Erde«: Durch den Aufstieg asiatischer Mächte hat eine Gewichtsverlagerung stattgefunden, die den Golf buchstäblich ins Zentrum gerückt hat. Die Golfstaaten haben die Wahl, mit welchen internationalen Mächten sie Beziehungen eingehen und welche Prioritäten sie setzen.

 

Dabei können sie zwar jeweils unabhängig entscheiden, ihr Erfolg setzt dennoch ein gewisses synchrones Verhalten voraus. Suchte sich jeder Staat am Golf einen eigenen Verbündeten, würde die Region bald zu dem werden, was sie auf keinen Fall sein möchte: Terrain eines globalen Stellvertreterkonflikts der Welt- und Mittelmächte. Sicherheitspolitik heißt bei den Golfstaaten im Übrigen nicht nur, die eigenen Interessen gegen Risiken oder Iran abzusichern, sondern auch gegen die der Nachbarn. Denn auch wenn es nach außen selten den Anschein hat, sind die zum einen Teil interessenpolitisch, mitunter aber auch familiär begründeten Rivalitäten zwischen den monarchischen Systemen nach wie vor lebendig. Aufgrund seiner schieren Größe repräsentiert zudem Saudi-Arabien für die anderen, kleinen Golfanrainer auch immer ein Risikopotenzial. Dies gilt in freilich deutlich geringerem Maß auch für die VAE.

 

Die Golfstaaten charakterisieren zwar beträchtliche Differenzen, Prioritäten und verschiedene Mentalitäten. Im Unterscheid zu den VAE oder Saudi-Arabien etwa steht Katars Emir intern nicht unter Druck. Seine Konsolidierung der Macht ist abgeschlossen, die Geschäfte laufen gut, und er muss keine inneren Konflikte ausgleichen und kann sich daher in der Palästinafrage nach Gutdünken positionieren. Allerdings hängt Katars Erfolg sowohl vom Schutz der Vereinigten Staaten als auch von einem ausgeglichenen Verhältnis zu Iran ab. Mit der Islamischen Republik teilt man das ertragreichste Gasfeld; Handel, Logistik, Luftfahrt, Sportereignisse – all das braucht Ruhe in der Region.

 

Politik hat nichts mit Moral zu tun: Die Emirate eifern der Seerepublik Venedig nach

 

Die VAE verfolgen zwar ähnliche Interessen wie Katar, ihr Verhältnis zu Iran ist historisch allerdings stärker belastet. Noch vor wenigen Jahren galt das Herrscherhaus in Abu Dhabi, welches die VAE anführt, als Falke, der etwa die USA ermutigte, militärisch gegen Iran und sein Atomprogramm vorzugehen. Diese Haltung sorgte innerhalb der anderen Herrscherhäuser in den Emiraten aber für Kontroversen. In einer autoritären Föderation aus sieben Herrscherhäusern mit einem primus inter pares sind Konflikte über die außenpolitische Ausrichtung unvermeidlich.

 

Um dem entgegenzuwirken, haben sich die VAE intern ein neues Narrativ zugelegt, welches dem der merkantilen, italienischen Seerepubliken des Mittelalters und der frühen Neuzeit ähnelt: Anders als die großen Nationalstaaten betrieb man dort Interessenpolitik als raison d’être, verbunden mit einem gewissen Stolz darauf, dass man auch mit den vermeintlich größten Schurken beste Beziehungen unterhält, sich punktuell durch aggressives militärisches Auftreten Respekt verschafft und ansonsten darauf achtet, dass man die strategisch bedeutsamen Zielländer und Märkte mit politischen, geheimdienstlichen und finanziellen Mitteln durchdringt. Ohne dabei die eigenen Ressourcen zu überlasten.

 

Auf den Nahostkonflikt bezogen bedeutet dies: Die Golfstaaten haben erkannt, dass der israelisch-arabische Antagonismus und die jahrzehntelange Kompromisslosigkeit gegenüber Israel nicht nur den Arabern geschadet hat, sondern auch ihrem eigenen Macht- und Führungsanspruch in der Region. Eine Blockadepolitik passte nicht mehr in die Zeit. Man achtete nicht nur den technologischen und wirtschaftlichen Erfolg Israels, welcher etwa in den VAE auch den eigenen Idealen eines unbekümmerten Fortschritts entspricht. Man erkannte auch den israelischen Vorsprung, verbunden mit einer intelligenten Methode, strategische Beziehungen weltweit aufzubauen und die dortigen politischen Narrative im eigenen Interesse mitzubestimmen. Im Unterschied zu früheren Jahrzehnten, in denen einige Golfstaaten nur unter dem Radar Beziehungen zu Israel pflegten, aber öffentlich ein arabisch-nationalistisches, anti-israelisches Narrativ propagierten, hat man seit einigen Jahren auch weniger Probleme damit, dies öffentlich zuzugeben. Es passt gewissermaßen in das Selbstbild, Realpolitik ohne Ansehen der Person des Gegenübers zu betreiben und diese ausschließlich an Interessen auszurichten.

 

In Israel wurde die neue »Gastfreundschaft« der Golfstaaten, insbesondere Bahrains und der VAE, als wahre Liebe aufgenommen. Zu groß war die Sehnsucht von Teilen der israelischen Medien und Gesellschaft, von einem arabischen Land, mit dem man keine Grenze und keine widerstreitenden Interessen in der Palästinafrage hat, anerkannt zu werden. Die warmen Worte um die Abraham-Abkommen beeindruckenden in Amerika und in Europa alle, die sich nichts sehnlicher gewünscht hatten, als ihre Geschäftspartner in Dubai und Tel Aviv endlich an einem Tisch vereint zu sehen. Warum sollte dann Saudi-Arabien nicht diesem Beispiel folgen? Vor diesem Hintergrund wurde auch die Zurückhaltung der Golfstaaten in den aktuellen Kriegen als klammheimliche Zustimmung interpretiert. Die Komplexität der Lage haben insbesondere deutsch Außenpolitiker aber offenbar bis heute nicht verstanden.

 

Der schiitisch-sunnitische Konflikt ebbt ab, mit dem 7. Oktober rückt die Palästinafrage in den Fokus

 

Insbesondere für Saudi-Arabien, Katar, Kuwait und Oman gilt: Man trauert der Hizbullah im Libanon nicht nach, hofft gleichwohl nicht auf einen israelischen Triumph. Attraktiver wäre ein Szenario, aus welchem auch Israel politisch geschwächt hervorgeht. Dies gilt einerseits für die Aussicht auf eine Lösung der Palästinafrage, welche für die Golfstaaten zwar nicht höchste Priorität hat, aber dennoch wichtig ist. Erleidet Israel militärische Verluste, welche zu einem Sturz der Regierung Netanyahu führen, und verliert es aufgrund seiner erbarmungslosen Kriegsführung internationale Unterstützung, stärkt dies global die arabische Position.

 

Dies könnte mittel- bis längerfristig zu einer erhöhten Kompromissbereitschaft auf israelischer und amerikanischer Seite führen. Selbst ein US-Präsident Donald Trump würde sich – aufgrund seiner persönlichen finanziellen Interessen – eher der saudischen Position annähern als jener einer israelischen Hardliner-Regierung. Auch daher rührt das zuweilen befremdlich wirkende Engagement von Saudi-Arabien oder auch Katars mit der von islamophoben Hardlinern durchsetzten Republikanischen Partei. 

 

Strategien sind manchmal ihrer Zeit voraus, manchmal laufen sie ihr hinterher. Oft sind sie auch die nachträgliche Rechtfertigung einer Kette kurzfristiger taktischer Entscheidungen. So finden sich die Golfstaaten zwischen einigen geopolitischen Entwicklungen wieder, die gegenläufig sind. Bereits in den Jahren vor Beginn des Arabischen Frühlings, also ab 2011, stieg die Macht Irans in der Region beträchtlich. Das teils aggressive Auftreten Teherans und seiner Verbündeten verschärfte nicht nur die Bedrohungslage in den sunnitischen Golfstaaten, wo unterschiedlich große schiitische Bevölkerungsgruppen leben. Der sunnitisch-schiitische Antagonismus wuchs und fand seine Höhepunkt im Aufstieg des »Islamischen Staats« (IS) und der schiitischen, irantreuen Milizen sowie dem von Saudi-Arabien angeführten, letztendlich aber erfolglosen Krieg gegen die der Schia zugerechneten Huthi-Rebellen im Jemen.

 

Im Vergleich zum vergangenen Jahrzehnt ist der schiitisch-sunnitische Antagonismus deutlich zurückgegangen. Das Abschwellen der bewaffneten innerarabischen Kämpfe und die Annäherungspolitik der Golfstaaten an Iran hat diesen zwar nicht überwunden, aber doch verdrängt. Und nachdem mehrere Golfstaaten erfolglos versucht hatten, die USA zu einem begrenzten militärischen Vorgehen gegen Teheran zu bewegen, änderten sie ihre Politik. Iran hatte seinerseits die Golfregion in Haftung für das Verhältnis zu Israel und den USA genommen: Eine militärische Eskalation mit den USA, so drohte man unverhohlen, würde die Sicherheit der Golfanrainer und den Waren- und Ölhandel in der Straße von Hormus zum Erliegen bringen.

 

Die Sicherheitspartnerschaft zwischen den VAE und Israel kam auch vor diesem Hintergrund zustande. Iran und Saudi-Arabien legten aber einige ihrer Konflikte bei und reduzierten unter anderem deutlich ihre Versuche, den jeweils anderen von innen anzugreifen – etwa durch Mobilisierung schiitischer Kräfte in Saudi-Arabien oder nicht-persischer beziehungsweise sunnitischer Minderheiten im Vielvölkerstaat Iran. Ein Testfall, der für das iranische Regime erfolgreich verlief, war die Niederschlagung der Protestbewegung 2022, bei welcher die Golfstaaten sich, vom saudisch unterstützten Kanal Iran International abgesehen, sehr ruhig verhielten.

 

Man verlangte allerdings auch von Iran Zugeständnisse. Wollte Teheran auf die Golfstaaten zugehen, so stand diesem Schritt das über Teile des Nahen Ostens verteilte, bis dato effiziente System der schiitischen Milizen im Weg. Die Opportunitätskosten stiegen, abschaffen konnte man es aber nicht. Eine – nach Logik des Regimes – Kompromisslösung bestand darin, dass man die verbündeten Milizen nicht fallen ließ, dafür aber die für alle Golfanrainer vitale Straße von Hormus als Nadelöhr der Welt entlastete. Stattdessen verlagerte man den Druck in die Rotmeerregion, das »Tor der Tränen«, wo die Huthis herrschen.

  

Während die arabischen Golfanrainer nun ihr Verhältnis zu Iran verbessert hatten, verschärfte sich die Lage in einem Konflikt, den man am Golf zwar für wichtig, aber nicht bestimmend gehalten hatte: die Palästinafrage. Während die Hamas sich – von Raketenbeschuss im Jahr 2022 abgesehen – über längere Zeit trügerisch ruhig verhielt und offenbar bereits einen Angriff auf Israel plante, radikalisierte sich die israelische Politik. Ohne arabisches Zutun.

 

Gerade hatten sich die Golfstaaten auf ein »realistisches« Israel-Bild geeinigt. Dann kamen die Rechtsextremen an die Macht

 

Wenngleich es schien, als habe die saudische Führung bereits im Frühjahr 2022 die strategische Entscheidung getroffen, eine Normalisierung der Beziehungen zu Israel unter bestimmten Voraussetzungen durchzusetzen, erhöhten sich damit die Opportunitätskosten eines solchen Schritts. Bereits unter der Regierung des ehemaligen Siedlerführers Naftali Bennett nahm die Gewalt im Westjordanland – oftmals ausgelöst durch Übergriffe seitens von Sicherheitskräften flankierter Siedler auf Palästinenser – stetig zu.

 

Mit seiner Rückkehr als Regierungschef brachte Netanyahu dann mehrere jüdische extremistische Gruppierungen an die Macht, welche Schlüsselbereiche des Staates besetzten und Tatsachen schufen beziehungsweise androhten. Damit wurde auch die Stürmung der muslimischen Heiligtümer in Jerusalem und die Wiedererrichtung eines jüdischen Tempels ein Szenario, das viele in der arabischen Welt für möglich hielten.

 

Dann brachen der 7. Oktober, der zerstörerische Krieg in Gaza und schließlich im Libanon über die Region herein. Während einige Golfstaaten in der gewaltigen militärtechnologischen Überlegenheit Israels bis dahin ein zusätzliches Argument für eine Annäherung an den jüdischen Staat gesehen hatten, stellte sich nun eine andere Frage: Könnte daraus nicht auch längerfristig eine Bedrohung für die eigenen machtpolitischen Interessen – oder gar die eigene Sicherheit – erwachsen?

 

Mit seiner Rücksichtslosigkeit im Vorgehen beeindruckte Israel die arabische Welt, schockierte sie aber auch in Teilen. Das Bild eines imperialen, von ideologischen und religiösen Großmachtstreben getriebenen Zionismus war über Jahrzehnte Teil des propagandistischen Repertoires der Araber gewesen. Den meisten Golfanrainern war allerdings klar gewesen, wo Israels Interessen anfingen und endeten und dass die Israelis keineswegs die Absicht hegten, sich den ganzen Nahen Osten untertan zu machen. Im Gegenteil: Zunehmend hatte sich Israel den Zuständen und der politischen Kultur der Region angepasst, weshalb die Araber für sich in Anspruch nehmen konnten, die israelische Machtpolitik besser zu verstehen als deren Unterstützer im Westen.

 

Aber, befeuert von den Reden der rechtsextremen Kabinettsmitglieder und ihrer Anhänger, vermittelte der jüdische Staat zunehmend ein Bild, welches den in der arabischen Welt dereinst gepflegten und für überwunden geglaubten Zerrbildern entsprach. Ein strategisches Dilemma für die Golfstaaten, aus welchem sich aber auch eine Chance für die Neuordnung des Nahen Ostens ableiten ließ. Oder zumindest ein Anlass, um die Investments zu »hedgen«


Teil 3 folgt in der kommenden Woche. Erfahren Sie mehr in der nächsten Folge des zenith-Podcast.

Von: 
Daniel Gerlach

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