Auch wenn sich viele Länder des Nahen Ostens die Religionsfreiheit in die Verfassung geschrieben haben, besteht diese de facto nicht. Denn dazu gehört auch die Freiheit, seine Religion zu wechseln. Die Politik aber versteckt sich hinter der Justiz
Mitte Dezember letzten Jahres stellten die beiden großen Kirchen in Deutschland einen gemeinsamen Bericht zur Religionsfreiheit von Christen weltweit vor. Dabei warnten die Kirchen eindringlich vor dem vollständigen Aussterben des Christentums im Nahen Osten.
Aufgrund langfristiger Trends und der Auswirkungen der Terrorherrschaft der Miliz „Islamischer Staat“ (IS) drohe in einigen Ländern ein abruptes Ende christlichen Lebens. Doch auch das Verbot eines Religionswechsels setze die christlichen Kirchen im Nahen Osten dem Report zufolge erheblich unter Druck.
Allein die Tatsache, dass die beiden Kirchen in ihrem Bericht auf die Abwesenheit des Rechts auf freie Konversion verweisen, ist, mit Verlaub, bemerkenswert. Und ihr gebührt Anerkennung. Denn die Abwesenheit dieses Rechts in den Staaten des Nahen Ostens wird international meist nur mit Schweigen quittiert oder aber mit Verständnis für die Besonderheiten von Staaten und Gesellschaften in diesem Teil der Welt. Nichtsdestotrotz bedarf das Thema des freien Religionswechsels im Nahen Osten einer differenzierten Betrachtungsweise.
Einbahnstraße Konversion
Fokussiert man sich auf die rechtlichen Aspekte, dann geht es vor allem um staatliche Normen und Regulierungen. Religionswechsel ist in den Staaten des Nahen Ostens grundsätzlich untersagt, was aber praktisch nur für Muslime gilt. Sie dürfen nämlich nicht zum Christentum übertreten, während jeder Christ von staatlichen Regulierungen uneingeschränkt zum Islam konvertieren darf. Man könnte aber eben nur dann von rechtlicher Gleichbehandlung sprechen, wenn die unterschiedlichen religiös begründeten Regelungen die Konversion zu anderen Religionen gleichermaßen ausschließen würden. Die Rechtssysteme der Region basieren also auf religiös begründeter Ungleichbehandlung ihrer Bürger. Diese fundamentale Ungleichbehandlung lenkt die Aufmerksamkeit auf einige weitere beachtenswerte Aspekte.
Der erste Aspekt ist die Tatsache, dass die Einordung von Bürgern nach Religionszugehörigkeit in den Staaten des Nahen Ostens einen Akt von erheblicher rechtlicher Relevanz darstellt. Denn das Familien-, Erb-, und Personenstandsrecht behandelt dort die Bürger eines Landes unterschiedlich, je nachdem welcher Religion sie angehören. Das heißt: Christen haben beispielsweise ein anderes Familienrecht als Muslime. In manchen Ländern, wie dem Libanon, können diese Regelungen sogar noch innerhalb einer Religion nach Konfessionen variieren. Dies verdeutlicht, dass eine staatlich angeordnete und rechtlich implementierte Feststellung der Religion eines jeden Bürgers, anders als in anderen Teilen der Welt, für staatliche Institutionen im Nahen Osten von besonderer Wichtigkeit ist.
Wenn nun beispielsweise die nach islamischem Recht begründeten Regelungen im Familienrecht für Muslime Christen erlauben, uneingeschränkt zum Islam zu konvertieren und sich damit den islamischen Regelungen im Bereich des Familienrechts zu unterstellen, dann geschieht dies nicht explizit, indem ein staatliches Gesetz deutlich diesen Fall vorsieht. Die damit zusammenhängenden Regelungen sind vielmehr über unterschiedliche Gesetzestexte verstreut.
In diesem Zusammenhang tritt der zweite Aspekt der Beschränkung der Religionswechselfreiheit zu Tage: Ihre rechtliche Unschärfe. Es ist in keiner rechtlichen Norm explizit zu lesen, dass der Muslim seine Religion nicht ändern darf, während der Christ dies darf. Sowohl die Verfassungsgeber als auch die Gesetzgeber in den Staaten des Nahen Ostens schweigen in der Regel zu diesem Punkt. In manchen Fällen versteckt sich der Gesetzgeber hinter Ausdrücken wie Apostasie oder Blasphemie, meist hinsichtlich bestimmter Verfahren in solchen Fällen. Somit ist es am Ende oft der Richter, welcher faktisch die Rolle des Hüters der unveränderlichen Bindung einzelner Muslime zum Islam wahrnimmt.
Mit dieser Haltung wird der Islam zur staatlichen Ideologie gemacht
Die Justiz übt hinsichtlich des Verbots der Religionswechselfreiheit für Muslime Rechtsetzung und Rechtsanwendung in Personalunion aus, was den dritten Aspekt der rechtlichen Beschränkung dieser Freiheit mit sich bringt: Das einfache Prinzip der Gewaltenteilung im Sinne von Trennung zwischen den Funktionen der Rechtsetzung und der Rechtsanwendung gilt nicht für die Religionswechselfreiheit von Muslimen. Zudem wird das gesamte verfassungsrechtlich garantierte Grundrecht der Religionsfreiheit ausgehöhlt, wenn die Rechtswissenschaft in den Staaten des Nahen Osten unter der Religionsfreiheit keinen Wechsel der Religion vorsieht.
Mit dieser Haltung wird die Zugehörigkeit zum Islam zu einer Art Zugehörigkeit zu einer staatlichen Ideologie erhoben, deren Verlassen ein unzulässiger Angriffsakt in die Unversehrtheit des Gemeinwesens darstellt. Dieser Zusammenhang wird klarer, wenn man bedenkt, dass die Einschränkung der Konversionsfreiheit für Muslime seitens der Politik gemeinhin immer nach dem gleichen Mustern gerechtfertigt wird: Mit Schweigen, mit der Verwendung spezifischer islamrechtlicher Begriffe, wie Apostasie und Blasphemie, oder mit dem Verweis auf die Unabhängigkeit der Justiz. Politik und Recht scheinen in stiller Übereinkunft darüber vereint, dass die Verweigerung der Religionswechselfreiheit für Muslime als eine Selbstverständlichkeit angesehen werden sollte. Eine Meinung die im Übrigen wohl auch von der Mehrheit der Bevölkerung im Nahen Osten vertreten wird.
Selbst, wenn bei den orientalischen Christen die Einstellung vorherrschen würde, dass ein Christ nie und nimmer zum Islam übertreten dürfe, gäbe es einen entscheidenden Haken: von staatlicher Seite bliebe die Konversion erlaubt. Die christlichen Gemeinden in den Staaten des Nahen Ostens haben keine rechtliche Handhabe gegen christliche Konvertiten. In diesem Fall schützt der Staat die Freiheit der Religionswahl.
Demgegenüber kann die muslimische Gemeinde bei staatlichen Institutionen rechtliche Mittel einlegen, falls eines ihrer Mitglieder zum Christentum konvertiert, die Absicht äußert, dies in Zukunft zu tun, oder in schriftlichen oder mündlichen Äußerungen den Eindruck vermittelt, vom islamischen Glauben abgefallen zu sein. Die Rechtsmittel sind vielfältig und variieren zwischen strafrechtlicher Verfolgung bis zur Zwangsscheidung und Enterbung. In manchen Fällen werden die staatlichen Institutionen sogar von Amtswegen tätig.
Dass man im Westen nun also langsam anfängt, die Problematik der Religionswechselfreiheit in den Staaten des Nahen Ostens explizit zu benennen, kann man vielleicht als den Beginn einer Debatte betrachten, an deren Ende man zugeben müsste, dass es keine Religionsfreiheit ohne Freiheit in der Wahl der Religion geben kann. Zu Beginn dieser Debatte ist es nun geboten, den Staat und staatliche Normen in den Mittelpunkt zu stellen. Ob eine Religion es ihren Anhängern erlaubt, sie wieder zu verlassen, sei erst einmal dahingestellt. Aber ob der Staat sich schützend vor einzelnen Religionen stellt, indem sie Anhänger mit rechtlichen Zwangsmaßnahmen an einer Konversion hindert, ist eine Frage von entscheidender Relevanz für die gesamte freiheitliche Ordnung.